Was Willy wirklich sagen wollte
Mit der Implosion des realen Sozialismus vor 20 Jahren ist ein ideologisches Widerlager entfallen. Die Systemkonkurrenz hatte den westlich geprägten Kapitalismus seinerzeit zumindest so weit diszipliniert, dass er sein hässliches Gesicht regelmäßig einem Lifting unterziehen musste. Der zuständige Schönheitschirurg war der als solcher akzeptierte Staat, als Schnittmuster diente die soziale Marktwirtschaft. Mit dem Parforceritt der monetaristischen Schule in den Wirtschaftswissenschaften Mitte der siebziger Jahre gerieten diejenigen, die Staat und Markt auf Augenhöhe sahen, in die Defensive. Die Jünger der Deregulierung waren jetzt überall zu finden, in der Politik, im Management, in der Beratungsindustrie und den Medien.
Ihnen galt „der lenkende Staat, zumal der Sozialstaat, als im wahrsten Sinne des Wortes abgewirtschaftet, finanziell und vor allem ideologisch“. Während viele hierzulande das Hohe Lied auf die angloamerikanische Unternehmensphilosophie mit dem schönen Refrain „Shareholder-Value“ anstimmten, geriet der „staats-interventionistische“ Teil immer mehr in die Defensive. Und ergab sich schließlich bis auf weiteres. Sogar die Vorstellung, dass ein handlungsfähiger Staat über einen sozialen Ausgleich und diverse öffentliche Leistungen erst die Grundlagen schafft, auf denen sich das einzelwirtschaftliche Kalkül entfalten kann, geriet dabei unter die Räder –bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise. Da dämmerte es vielen, dass der verachtete und für unfähig erklärte Staat (zusammen mit anderen Staaten) den Banken das Vertrauen leihen muss, das sie untereinander nicht mehr hatten.
Die markanteste – und durchaus beeindruckende – Symbolfigur der markttheologischen Schule im Zentralbankensystem während der Hochphase des Casino-Finanzkapitalismus war der Chef der US-Zentralbank, Alan Greenspan. Seine Verabschiedung im Kreis der G7-Finanzminister und -Zentralbankgouverneure Anfang Dezember 2005 in London geriet zu einer Denkmaleinweihung. Heute hat dieses Denkmal einige Risse.
Der Siegeszug eines entfesselten Kapitalismus speiste sich zusätzlich aus dem Zusammenbruch des realen Sozialismus. Dass sich das marktwirtschaftlich-kapitalistische System seither in unterschiedlichen und jeweils angepassten Varianten weltweit durchgesetzt hat – wenn man von Nordkorea, Kuba und wenigen anderen Exoten absieht –, mögen einzelne politische Zirkel beklagen. Es ändert aber nichts am Faktum. Eine erneute Systemkonkurrenz durch die Wiederbelebung einer sozialistischen Planwirtschaft ist weit und breit nicht erkennbar. Selbst jene Länder, die jenseits ihrer kapitalistischen Praxis noch einen sozialistischen Überbau aufrechterhalten, sehen sich nicht in der Rolle einer neuen Avantgarde. Es gilt allerdings, was Theo Sommer in der Zeit schrieb: Wenn der Kapitalismus nicht lerne, Wettbewerbsfähigkeit mit gesellschaftlicher Solidarität zu verbinden, dann „wird der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts dasselbe Schicksal erleiden wie der Sozialismus kommunistischer Ausprägung im 20. Jahrhundert: Er wird an seiner menschenfeindlichen Schnödigkeit zugrunde gehen.“
Auf der Tagesordnung steht deshalb das Ringen um eine systemimmanente Anpassung des marktwirtschaftlich-kapitalistischen Systems. Vor allem seine Hemmungslosigkeit gegenüber den gesellschaftlichen und natürlichen Grundlagen unserer Existenz muss gebändigt werden, denn dieser Preis ist tatsächlich zu hoch. Aber, wie Andreas Zielcke es ausdrückte, dem Kapitalismus „eine asoziale Struktur vorzuwerfen ist so klug, wie dem Jagdhund das Jagen vorzuhalten. Seine unvergleichliche Produktivität, Innovationspotenz und historische Durchsetzungskraft, all dies setzt eine völlige Unempfindlichkeit, Bindungslosigkeit und Abstraktion von allen sozialen und individuellen Besonderheiten voraus. Sein asozialer Zug ist kein Charakterfehler, sondern ein konstruktives Prinzip.“
Eine Renaissance der Politik muss auf einen handlungsfähigen Staat – und eine entsprechende Staatengemeinschaft – hinwirken, der einem zivilisierten Kapitalismus die Zügel führt. In unserem ordnungspolitischen Sprachgebrauch heißt das, die soziale Marktwirtschaft zu rekonstruieren. Das ist die zentrale Herausforderung, um Ökonomie, Ökologie und soziale Gerechtigkeit in ein Gleichgewicht zu bringen.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise müsste dafür eigentlich Fenster und Türen geöffnet haben – sollte man annehmen. Tatsächlich ist der Verlust an Gestaltungsmacht von Politik bisher nicht wirklich gestoppt und gewendet. Erstens haben die Fortentwicklung politischer Institutionen und ihre Verankerung auf internationaler Ebene mit der Entgrenzung ökonomischer Aktivitäten nicht Schritt gehalten. Zweitens tendiert die marktwirtschaftlich-kapitalistische Logik dazu, den Staat oder auch die Staatengemeinschaft auf die Rolle eines Reparaturbetriebs zu reduzieren. Nicht zuletzt ist der Verlust an Gestaltungsmacht aber auch das Ergebnis der Kurzsichtigkeit und Unfähigkeit der Politik selbst, Interessengegensätze hintanzustellen und Konflikte durchzufechten.
Die Politik der Zeitreichen und Linientreuen
Der Vertrauens- und Kompetenzverlust der Politik ist kein deutsches Spezifikum. Verwerfungen ganzer Parteienlandschaften bei einigen unserer europäischen Nachbarn belegen dies anschaulich. Auch in Deutschland könnte das Parteiensystem am Ende des zweiten Jahrzehnts durchaus anders aussehen als heute. Selbst eine 150-jährige Geschichte bietet keine Garantie dafür, dauerhaft Volkspartei zu bleiben, wie die SPD gerade schmerzlich erfährt. Die CDU ist nicht minder weit von früheren Wahlergebnissen entfernt. Die CSU verliert nicht minder die Gewissheit, auf ewig unangefochten die Staatspartei der Bayern zu sein. Bisher unvorstellbare Koalitionen von Schwarz-Grün über Jamaika bis Rot-Rot lassen die Politik zu einem Flickenteppich werden, im Bundesrat droht bald Unübersichtlichkeit. Bei der nächsten Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im September 2011 könnten vier Parteien jeweils zwischen 20 und 25 Prozent aufweisen – ein Trend? Kein Wähler weiß mehr, mit welcher Partei er am Ende welche Koalition bekommt. Das wiederum wird seinen Weg ins Wahllokal nicht beflügeln. Weitere Ausfransungen oder Parteineugründungen sind nicht ausgeschlossen – man denke an die Piratenpartei bei der Bundestagswahl 2009, die mit nur einem einzigen Thema 800.000 Stimmen erhielt.
Die neue Unübersichtlichkeit, unkalkulierbare Koalitionen und wechselnde Koalitionsaussagen sind aber nur eine Facette für den fortschreitenden Vertrauensverlust. Keine geringere Rolle spielt der personelle Auswahl- und Ausleseprozess der Parteien. Er befördert tendenziell die Linientreuen, die schon durch die Niederungen diverser Parteitage und Delegiertenkonferenzen gegangen sind, Parteiweisheiten bis zur Leugnung des gesunden Menschenverstands aufsagen und abweichende Meinungen mit einem Bannstrahl strafen können. Er befördert die „Zeitreichen“, wie Ulrich Pfeiffer und, ihm folgend, Peter Glotz sie genannt haben, diejenigen, die auf allen Sitzungen und Veranstaltungen präsent sind und sich die Ochsentour vom Kassierer bis zum Kandidaten zeitlich leisten können.
Die Zeitreichen sind im Gegensatz zu den Zeitarmen gleichzeitig diejenigen, die den geringsten Bezug zu den sich ändernden Wirklichkeiten außerhalb ihrer Parteiwelt haben. Der Zeitarme ist meistens beruflich oder durch andere Engagements gefesselt. Er kann nicht an jeder Parteisitzung teilnehmen und muss seine Sicht gelegentlich revidieren, denn seine Erfahrungen in parallelen Welten kollidieren manchmal mit der von Wunschdenken geprägten Parteiräson. So sitzen schließlich immer dieselben Personen in den Gremien, bilden einen nicht sehr repräsentativen Querschnitt von sozialen und beruflichen Milieus – und werden immer älter.
In der einen oder anderen Absentia, die ich mir in Sitzungen des Parteivorstands und häufiger noch des Parteirats der SPD verordnete, um nicht aus dem Anzug zu fahren, habe ich die Teilnehmer nach Dauer ihrer Gremienmitgliedschaft und ihrem Alter Revue passieren lassen. Da saßen einige seit Jahrzehnten. Völlig unverändert. Von neuen Erkenntnissen oder Erfahrungen nicht die Bohne angekränkelt. Die Kompassnadel fest geschweißt, redselig nie ein Mikrophon auslassend und dem Lieblingssport frönend, in einer Art Selbstbeweis denjenigen ans Schienbein zu treten, die in schwieriger politischer Verantwortung stehen. Man war gut beraten, auf ihre Einlassungen und ihre in solidarische Worte verpackten Giftpfeile höchst korrekt und ergeben zu antworten. Nur nicht den Zeiger auf der Erregungsskala hochschnellen lassen! Damit aber hat man in sträflicher Weise dazu beigetragen, dass der Aufenthalt in einigen Wolkenkuckucksheimen noch verlängert wurde.
Quereinsteiger – zumal solche mit unkonventionellen Auffassungen, mangelndem Stallgeruch und einem fachlichen Wissen, das sich nur schwer auf die Linie der jeweils tonangebenden Parteiströmung verbiegen lässt – werden schnell weggebissen. Die politische Konkurrenz aber beutet ihre Unerfahrenheit auf dem politischen Parkett gnadenlos aus. Insofern mag es wahltaktisch ein „genialer“ Schachzug von Gerhard Schröder gewesen sein, den „Professor aus Heidelberg“, Paul Kirchhoff, im Bundestagswahlkampf 2005 als Kompetenzzentrum der CDU/CSU regelrecht vorgeführt zu haben. Aber die über die Wahl hinausgehenden Folgen dürfen als fatal gelten: So schnell wird sich kein deutscher Professor mehr in die heiße politische Küche wagen. Mit Blick auf die wachsenden Herausforderungen ist dies für die Rekrutierung politischen Spitzenpersonals alles andere als ermutigend.
Der personelle Auswahl- und Ausleseprozess der Parteien befördert stattdessen eher rundgefeilte Karrieristen. Die planen als junge Liberale, junge Unionsmitglieder oder Jusos bereits mit Anfang 20 ihren politischen Aufstieg auf Jahrzehnte. Sie haben in vielen Fällen nichts anderes als Politik „gelernt“, keinen anderen Beruf ausgeübt. Sie sind höchst gewieft im Schmieden von Bündnissen auf Zeit und Hintertreppenverabredungen. Sie legen es früh auf innerparteiliche Vernetzung an und sind geübt in der Selbstinszenierung zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Dazu gehören die kalkulierte Widerrede gegen eine „Parteigröße“ und das öffentliche Aufbegehren gegen eine vereinbarte Linie.
An dieser Stelle erscheint auch ein Wort zur Politikersprache angebracht, die in der Regel als hohl, gestanzt oder schwadronierend wahrgenommen wird. Die Verbreitung des Orwell’schen New Speak (aus einem Propagandaministerium wird ein Wahrheitsministerium), das Leugnen handfester Konflikte, die Verharmlosung der Probleme, die Beharrlichkeit, mit der Unfug – erinnert sei an das so genannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz vom Dezember 2009 – als der Weisheit letzter Schluss verkauft wird: Das alles hat seine desaströse Wirkung auf das breite Publikum nicht verfehlt, unabhängig davon, welcher politischen Farbenlehre der Einzelne zuneigt. Mein Lieblingssatz politisch nichtssagenden Inhalts lautet: Eine gute Grundlage ist die beste Voraussetzung für eine solide Basis. Das ist schon fast Entertainment.
Genau dazu scheinen sich manche Politiker hingezogen zu fühlen. In merkwürdigen Posen steigen sie Woche für Woche in die Bütt und lassen sich in dem bei ihnen besonders beliebten Medium der Talkshow dazu verleiten, der Politik die letzte Ernsthaftigkeit auszutreiben. Mit dem fatalen Ergebnis, dass sie nach einigen Engagements allgemein auch genauso wahrgenommen werden – als Clowns oder Entertainer. Politik ist aber nicht Unterhaltung. Sie hat sich um die öffentlichen Angelegenheiten – die res publica – zu kümmern. Dabei muss sie nicht steif oder humorlos sein. Aber sie darf nicht ins Genre der Unterhaltung abgleiten – dann wäre Hape Kerkeling tatsächlich der bessere Kanzlerkandidat.
Es gibt allerdings auch strukturelle Defizite, die viel politischen Kredit bei den Bürgern kosten. Sie liegen insofern in der Verantwortung der politischen Klasse, als diese sich seit Jahren unfähig zeigt, sie zu lösen. Ich meine das Problem des deutschen Föderalismus und die Notwendigkeit einer umfassenden Föderalismusreform. Die Vorstellung, es säße da in Berlin eine mächtige Zentralregierung, die alle Fäden in der Hand hält, um Subsysteme wie Bildung, Gesundheit, Steuern oder Soziales problemadäquat und zukunftsorientiert steuern zu können, wenn sie nur wollte, ist eine Chimäre.
Der Interessenausgleich im deutschen Föderalismus ähnelt längst einem Basar, auf dem die Deals nach spezifischen Landesinteressen und unter politischer Gesichtswahrung der jeweiligen Regierungskoalition gemacht werden. Im Zweifelsfall muss der Bund immer draufsatteln. Es kommt kein Kompromiss zu zentralen finanzwirksamen Reformvorhaben zustande, ohne dass der Bund beispielsweise Mehrwertsteuerpunkte abgeben oder Vorwegabzüge aus dem Aufkommen dieser Steuer einräumen muss. Die Länder pochen darauf, dass sie nicht die Leidtragenden – also die Kostenträger – einer Gesetzgebung des Bundes sein können; wer die Musik bestellt, so argumentieren sie, muss sie auch bezahlen. Im Ergebnis muss der Bundeshaushalt auf der Einnahmenseite immer mehr den Ländern (und ihren Kommunen) überlassen, Länder und Kommunen sind dadurch aber keineswegs von ihren finanziellen Sorgen befreit. Alle spielen Mikado – nach dem Motto: Wer sich zuerst bewegt, verliert.
Ein solcher Trend, der den Ruhezustand als die politisch klügste, weil risikolose Variante verspricht und wichtige politische Projekte vordringlich der Maßgabe einer Kompensation im Verhältnis von Bund, Ländern und Kommunen unterwerfen muss, lässt den deutschen Föderalismus zu einem Hemmschuh werden. Jedenfalls erweist er sich nicht gerade als Platzvorteil gegenüber anderen, mehr oder weniger zentralistisch organisierten Nachbarstaaten. Das ursprünglich richtig konzipierte Checks-and-Balances-System des deutschen Föderalismus droht paralytische Wirkung zu entfalten.
Die Bürger nehmen diese Entwicklung mit richtigem Gespür als ein Versagen der Politik wahr. Konkrete Erfahrungen sagen ihnen zum Beispiel, dass die größte Hürde für eine umfassende Bildungsreform in Deutschland im Föderalismus liegt: Jeder Umzug mit Kindern von einem Bundesland in ein anderes bestätigt ihnen dieses Urteil. Ich habe noch keine öffentliche Veranstaltung erlebt, in der nach einer solchen Feststellung der Beifall nicht aufbrandete. Da die Bürger sich für die Zuständigkeitsfragen entlang von Ländergrenzen oder im Verhältnis zwischen Bund und Ländern aber nicht interessieren – was man ihnen nicht verübeln kann –, laden sie ihren Unmut bei der Zentralregierung ab, dort, wo die Staatskapelle eben spielt.
Neben dem nicht funktionierenden Zusammenspiel in unserem Föderalismus gibt es ein weiteres strukturelles Problem, das die Erwartungen der Bürger an eine Politik auf der Höhe der Zeit immer wieder enttäuscht. Es hängt mit dem allgemeinen Glaubwürdigkeitsdefizit von Politik zusammen. Sind unsere Politiker wirklich in der Lage, fragen sich viele Bürger besorgt, die Gruppeninteressen dort zurückzuweisen, wo sie mit dem Allgemeinwohl kollidieren. Das komplexe Kräfteparallelogramm, in dem diverse Akteure auf politische Entscheidungen „ihrer“ Regierung Einfluss zu nehmen versuchen, irritiert sie.
Die eigene Partei (noch anstrengender kann eine Schwesterpartei sein), die eigene Fraktion, ein oder mehrere Koalitionspartner, die Opposition, der Bundesrat mit den Ländern, kommunale Spitzenverbände, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, Sozialverbände, Kirchen, Medien und eine außerparlamentarische Expertokratie – die durch die EU und oberste Gerichte gesetzten Rahmenbedingungen nicht zu vergessen: Alle zanken und zerren und schreien Zeter und Mordio, wenn es nicht ganz nach ihren Wünschen läuft. Dies ist Ausdruck einer demokratisch-pluralistisch verfassten Gesellschaft. Dies ist gewollt. Aber: Es ist anstrengend. Dafür wacht man am Morgen angstfrei auf und weiß sich vor Willkür und einsamen Entschlüssen eines Condottiere sicher.
Wie sich die Parteien ändern müssen
Das mühsame Austarieren der Kompromisse ist jedoch all denen schwer zu erklären, die in der Unübersichtlichkeit des politischen Geländes größere Stringenz, Effizienz und Durchsetzungskraft fordern. Sie verweisen darauf, dass viele wichtige politische Vorhaben am Einfluss von Lobbys, in den Mühlen der Konsensbildung oder auch an parlamentarischen Anwälten einzelner Gruppeninteressen gescheitert sind oder bis zur Unendlichkeit kleingeraspelt wurden. Sie sehen darin einen kaum umkehrbaren Trend, der darauf hinausläuft, dass den permanenten Anpassungserfordernissen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr zeitnah entsprochen werden kann. Die daraus resultierende Frustration und Geringschätzung von Politik nimmt zu.
Diese Haltung erstreckt sich vor allem auf „die Parteien“. Dabei mischt sich nicht selten ein gefährlicher Unterton in die Kritik, der böse Assoziationen weckt und mich gelegentlich an die Verachtung des Parteienwesens und generell des Parlamentarismus während der Weimarer Republik erinnert. Natürlich haben die etablierten Parteien in Deutschland genügend Anlass, sich selbstkritisch mit ihrer Präsentation zu Beginn des neuen Jahrzehnts zu beschäftigen. Nostalgische Rückblicke mögen der Selbstvergewisserung dienen, Antworten auf die künftige Rolle und Aufstellung der Parteien liefern sie kaum. Ihre Orientierung muss erheblich erweitert werden.
Die Parteien werden sich viel stärker auf die konkreten Lebens- und Arbeitswelten der Menschen einlassen müssen; sie werden ihre Antennen für grundlegende Veränderungen und neue Strömungen neu ausrichten und ihr Alltagsverhalten in Übereinstimmung mit den von ihnen proklamierten Werten und Grundüberzeugungen bringen müssen; sie werden sich für interessierte, aber nicht unbedingt auf ein Parteiprogramm festzunagelnde Bürger öffnen, das Profil und die Qualität ihres (Spitzen-)Personals verbessern und ihre (Internet-)Plattformen für jüngere Menschen attraktiver gestalten müssen.
Der Eindruck ist verbreitet, dass sich die innere Verfassung der altbundesrepublikanischen Parteien, ihre Rituale, ihre Organisation und ihre Veranstaltungsformate seit den sechziger Jahren nicht wesentlich geändert haben. Alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, mit Ausnahme von Bündnis 90/Die Grünen – diese allerdings mit einer Tendenz zur Anpassung –, werden als selbstreferenzielle Systeme wahrgenommen, die ausschließlich sich selbst verpflichtet sind und sich selbst genügen. Und dennoch: So berechtigt die Kritik an den Parteien auch ausfällt, sie sind der einzig vorstellbare Träger der demokratischen Willensbildung. Wer denn sonst? Verbände? Interessengruppen? In ihrer Zusammensetzung höchst volatile und heterogene Bürgervereine, eine Auswahl verdienter Persönlichkeiten, bewährte Experten? Die Mängel und Defizite von Parteien, ihre kritikwürdigen Seiten haben Politikverdrossenheit gewiss befördert. Aber die Konsequenz, sich von ihnen abzuwenden, sich bei Wahlen zu verweigern, Parteien gar für obsolet zu erklären, ist sehr gefährlich.
Politiker und Parteien haben lange den Eindruck vermittelt, sie könnten alle Probleme lösen. Sie stellten sich als geradezu omnipotent dar – und wurden dann zu ihrem eigenen Erschrecken auch dafür gehalten. Da sie diesen Anspruch aber bei steigender Komplexität der Probleme weniger denn je erfüllen können, stecken sie jetzt tief im Dilemma. Unterdessen ist die Erwartungshaltung vieler Bürger ins Unendliche gestiegen – manch einer erwartet sich vom Staat nicht weniger als eine Vollkaskoversicherung gegen alle persönlichen Widrigkeiten des Lebens. Selbst wenn die Politik über die Voraussetzungen verfügen würde, allen Erwartungen zu entsprechen und eine Rundumsicherheit zu gewährleisten, stellt sich die Frage, ob das eigentlich gesellschaftlich erstrebenswert wäre. Was hieße das für Erneuerungsbereitschaft, Unternehmungslust und Unternehmenskultur, für die Vitalität und Dynamik unserer Gesellschaft?
Die trügerische Sehnsucht nach einfachen Antworten
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich rede hier nicht von großen Lebenskrisen wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Armut im Alter. Was mich beschäftigt, ist jene Mentalität, die dem Staat wie selbstverständlich abverlangt, alles, selbst die negativen Folgen individueller Entscheidungen im persönlichen Bereich, zu kompensieren. In einem merkwürdigen Widerspruch dazu möchten sich die gleichen Leute diesen Staat ansonsten lieber auf Meilen vom Hals halten.
Aus dieser Passage muss niemand Pulver für den Klassenkampf fabrizieren. Diese Mentalität findet sich ausnahmslos in allen Etagen der Gesellschaft. Bei der Rettung der Banken in der Finanzmarktkrise wurde deutlich, dass der Einsatz von 500 Milliarden Euro öffentlicher Mittel von einigen Spitzenvertretern der Wirtschaft, in manchen Redaktionen und wissenschaftlichen Instituten ganz anders bewertet wurde als beispielsweise der Einsatz von 1 Prozent dieser Summe für ein Sozialprogramm. Aus ihrer Sicht war der Staat hier – ordnungspolitische Grundsätze hin oder her – unzweifelhaft gefordert, während sie Letzteres für Verschwendung hielten oder als Sozialklimbim abtaten.
Die Widrigkeiten, Gefährdungen und Herausforderungen des wirtschaftlich-technischen Wandels im weltweiten Maßstab wecken die Sehnsucht nach einfachen Antworten. Der Ruf nach einem Befreiungsschlag wird lauter. Diesen Reflex bedienen zum Beispiel die Anhänger einer Antiglobalisierung. Sie finden sich rechts und links an den Rändern des politischen Spektrums mit teilweise verblüffend ähnlichen nationalistischen und protektionistischen Einfärbungen. Selbst wenn sie differenzierter argumentieren, haftet ihrem Ausdruck etwas Irrationales an, zumal sie unterschwellig daran festhalten, dass die Globalisierung rückgängig zu machen wäre. Die Globalisierung ist aber ein irreversibler Prozess.
Die zentrale Frage lautet, ob wir genügend Einfluss haben und genügend Gewicht auf die Waagschale bringen, um diesen Prozess aktiv mitzugestalten. Die Schattenseiten sollen nicht unterschlagen werden. Aber per Saldo profitieren offenbar so viele Länder von den Vorteilen der Globalisierung – einschließlich einer bemerkenswerten Entwicklung der Durchschnittseinkommen ihrer Bevölkerung –, dass es unmöglich ist, den Stecker aus der Dose zu ziehen und die Entwicklung abzubrechen. Gerade die Schwellenländer versprechen sich eine Neuverteilung des weltweiten Wohlstands – und deshalb wird sie kein Parteitagsbeschluss von SPD, CDU oder Bündnis 90/Die Grünen, keine Demonstration und kein parlamentarischer Entschließungsantrag beeindrucken, der ihnen diese Perspektive verdunkelt oder ihnen etwa die Übernahme des deutschen Bundesimmissionsschutzgesetzes empfiehlt.
Zwar vermuten Globalisierungsgegner hinter der Globalisierung einen spätkolonialistischen Plan des Westens zur Aufrechterhaltung seiner wirtschaftlichen und politischen Hegemonie. Tatsächlich aber hat die Globalisierung dazu geführt, dass die Dominanz des Westens verdunstet. Es sind nicht mehr ideologische oder militärische Gegenspieler, sondern es ist paradoxerweise die vom Westen wirtschaftlich und technologisch selbst vorangetriebene Globalisierung, die nun seine „Überlegenheit“ und bisherige Dominanz unterspült. Anders, als Globalisierungsgegner es ausmalen, wird die Welt nicht unter einem westlich-kapitalistischen Banner „homogenisiert“, sondern im Gegenteil, sie wird heterogener – und damit auch führungsloser, unübersichtlicher und unsicherer. Antiglobalisierung sei nichts anderes als „unverdauter Marxismus“, spottete der britische Historiker Niall Ferguson schon vor Jahren zu Recht.
Mir scheint es im Übrigen fraglich, ob Kritiker, die anlässlich jeder größeren internationalen Konferenz gegen das Versagen der westlichen Industrieländer demonstrieren oder sich bei Attac mit viel Know-how engagieren, in einem sich neu herauskristallisierenden Wirtschafts- und Machtgefüge ihre Anliegen stärker zur Geltung bringen können und mehr Berücksichtigung finden werden als bisher.
Globalisierung und Digitalisierung und ihre wechselseitige Beeinflussung sind beherrschende Phänomene des beginnenden 21. Jahrhunderts. Beide tragen zu einer ungeheuren Beschleunigung bei – und bereiten deshalb Stress. Je schneller erworbenes Wissen durch neue Erkenntnisse und Fertigkeiten entwertet wird, je stärker ein Statusverfall durch den Verlust des Arbeitsplatzes droht, je weiter die Entwurzelung durch die heute unvermeidliche Mobilität reicht und je fragiler private Beziehungen und Familienverhältnisse werden, desto mehr wächst das Bedürfnis nach Konstanten, nach Vertrautem, Heimat und Sicherheit. Desto größer ist auch die Bereitschaft, sich in Rückzugsräume zu flüchten, sich abzuschotten. Mit dem Bedürfnis, protektionistischen Tendenzen nachzugeben, schließt sich der Kreis – nach dem Motto: Wir lassen die Rollos herunter, um dem unerbittlichen Wettbewerb zu entgehen, der Staat wird es schon richten. Das Verharren in herkömmlichen, vertrauten Strukturen sichert aber keine Zukunft.
Sozial- und kulturgeschichtlich gesehen sind solche Erfahrungen von „Beschleunigung und Erregung, Angst und Schwindelgefühlen“, Neurasthenie und Nervosität (das nennt sich heute Burnout-Syndrom) nichts Neues. Vor hundert Jahren haben ähnlich grundlegende Umwälzungen in allen Bereichen den Aufbruch Europas in die Moderne begleitet, wie Philipp Blom in seinem exzellenten Buch Der taumelnde Kontinent auf packende Weise schildert. Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war gekennzeichnet „von Unsicherheit und Erregtheit“ und darin „unserer eigenen in vielerlei Hinsicht ähnlich ... Damals wie heute waren tägliche Gespräche und Presseartikel dominiert von neuen Technologien, von der Globalisierung, vom Terrorismus, von neuen Formen der Kommunikation und den Veränderungen im Sozialgefüge; damals wie heute waren die Menschen überwältigt von dem Gefühl, dass sie in einer sich beschleunigenden Welt lebten, die ins Unbekannte raste.“
Viele flüchteten vor diesem Modernisierungsschub – seiner kalten Rationalität, dem Bruch mit der bisherigen kulturellen Ästhetik und seinen parlamentarisch-partizipativen Ansprüchen – in irrationale, idealisierte Welten und in ständisch-völkische Bewegungen. Der Umwälzung stellte sich eine Opposition von Ewiggestrigen entgegen, die auf nichts anderes setzten als auf die Angst der Massen, denen sie ein enges, aber Sicherheit gebendes Korsett versprachen. In deren Fluchtburgen fand sich nach dem Ersten Weltkrieg dann das geistige Rüstzeug, mit dem das antidemokratische Denken zum Sprengsatz der Weimarer Republik wurde.
Dieser Ausflug soll nicht dahingehend missverstanden werden, dass ich eine historische Ähnlichkeit mit der heutigen Situation nahelegen will. Es geht mir vielmehr um Folgendes: Wenn wir uns einerseits den Modernisierungstendenzen des 21. Jahrhunderts nicht verweigern können, weil der Preis zu hoch wäre, aber andererseits die damit verbundenen Verstörungen, Desorientierungen und Ängste nicht ignorieren dürfen, weil das gefährliche gesellschaftliche Verwerfungen nach sich zöge, dann müssen wir einen Puffer einbauen, der Sicherheit gibt. Dieser Puffer ist der Staat, der wichtigste „Produzent“ von Sicherheit. Es zeugt von ideologischer Borniertheit, den Staat als unfähig, ineffizient, verfilzt, gefräßig, als Krake mit langen Fangarmen zu bezeichnen – mehr noch: ihn als Übel für die bürgerlichen Freiheiten zu diskreditieren. Ohne handlungsfähigen Staat ist die Freiheit gefährdet, weil sie von manchen mit Zügellosigkeit und Verantwortungslosigkeit gleichgesetzt wird, während die Verlierer im Wandel auf eine Antwort drängen könnten, die protektionistische, antiliberale und strukturkonservative Züge trägt.
Im 21. Jahrhundert ist es der Staat, der Liberalität sichert. Diese Dialektik hat der heute amtierende politische Liberalismus in Deutschland nicht begriffen. Selbst die Profiteure der Globalisierung, „Hardcore-Individualisten“ und sonstige Anhänger eines ökonomisch-juvenilen „Neoliberalismus“ haben einen Nutzen davon, wenn Politik als demokratisch legitimierter Arm des Staates nicht verdrängt wird, die Bürger nicht auf die Rolle von Konsumenten reduziert, Institutionen nicht geschleift und Arbeitnehmer nicht ihrer Rechte beraubt werden. Ohne einen handlungsfähigen Staat mit einer sicheren Einnahmebasis und intakten Institutionen werden wir die Balance verlieren – wird das zweite Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts sehr viel ungemütlicher werden. „Setzt sich die institutionelle Entleerung der Gesellschaft fort, dann fehlen die Puffer zwischen den Gruppen“, schreibt der Politologe Franz Walter. „Dann prallen die Konfliktlager ohne Struktur und Filter unmittelbar aufeinander. Dann sind populistische Bewegungen nur sehr schwer aufzuhalten. Dann werden Proteste auch elementarer kommen, weniger domestiziert. Kurz und brutal: Sie werden gewalttätig ausbrechen.“ Wir wollen nicht immer wissen, was wir bereits wissen. Leider ist uns die Politik nur allzu gern dabei behilflich, wenn es darum geht, Wege aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich des Wünschenswerten zu finden. Zugegeben, Politik würde ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie nicht eine der wichtigsten Quellen unserer Existenz speiste: die Hoffnung.
Im Gegensatz zu vielen politischen Kontrahenten und einigen meiner Freunde bin ich jedoch davon überzeugt, dass Politik vorrangig eine andere Aufgabe hat – nämlich die Menschen im rasanten ökonomischen, technischen und sozialen Wandel wetterfest zu machen. Das klingt – gemessen an dem, wie Politik auch definiert werden kann: als Vision, als Gesellschaftsentwurf, als „Grand design“, als „Traum“ – sehr prosaisch, ja fast kalt. Das klingt nach einem sehr bescheidenen politischen Gestaltungsanspruch. Und doch sehe ich hier die Hauptverantwortung der Politik. Es wäre viel gewonnen, wenn uns das gelänge.
Das nach wie vor dominante politische Konzept „Schutz vor dem Wandel“ wiegt die Menschen in einer scheinbaren Sicherheit, weil Politik den multiplen Wandel und seine janusköpfigen Begleiterscheinungen nur sehr eingeschränkt gestalten kann. Die „Grammatik des Wandels“ (Matthias Horx) entzieht sich weitgehend einer politischen Kontrolle. Es genügt ein Blick auf die Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien, die bisher gültige Raum-Zeit-Grenzen aufgelöst haben, auf die Produktivitäts- und Wachstumsschübe, denen die Kapitalflüsse instinktiv folgen, oder auf den Trend der Individualisierung und gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, die sich von Regierungsentscheidungen und Verordnungen nicht wirklich beeindrucken lassen, aber soziale Milieus – und damit auch Wählergruppen! – umkrempeln.
Der politische Gegenentwurf zu einem Konzept „Schutz vor dem Wandel“ lautet „Befähigung im Wandel“. Die Menschen sind darauf vorzubereiten, dass mit der modernen Welt Ungleichzeitigkeiten, Ambivalenzen, Komplexität, selbst politische Widersprüche weiter zunehmen werden. Statt „entweder – oder“ wird ein „sowohl – als auch“ unser Leben bestimmen. Dies beißt sich mit der Sehnsucht nach Entschleunigung, Überschaubarkeit, Rigorismus – mit der Sehnsucht nach der einen großen Wahrheit.
Die Herausforderungen des sich längst unabweisbar vollziehenden Wandels werden weder durch Alarmismus noch durch Verschwörungstheorien und schon gar nicht durch Rückkehr in den Naturzustand bewältigt werden. Die Menschen werden sich in einer Welt bewegen müssen, die vielfältiger und bunter wird, in einer Welt, in der es mehrere Wahrheiten gibt. Zivilisation sei der Versuch, immer mehr Komplexität „lebbar zu machen“, heißt es bei Matthias Horx. Dazu muss die Politik den Menschen befähigen. Das muss der Ansatz eines vorsorgenden, vordringlich in Bildung und Qualifizierung investierenden Sozialstaates sein.
„Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer.“ Das sind Sätze von Willy Brandt, die er in seiner Abschiedsrede als Präsident der Sozialistischen Internationalen am 15. September 1992 von Hans-Jochen Vogel verlesen ließ. Er fuhr fort: „Darum – besinnt euch auf eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“ Die Sprengkraft dieser Passage ist in seiner eigenen Partei offenbar bis heute nicht wirklich erfasst worden. „Nur wenig ist von Dauer“ – das ist die Einstimmung auf einen permanenten Wandel, dem man sich durch Ignoranz nicht entziehen kann. „Dass jede Zeit eigene Antworten will“ – das ist ein Plädoyer, sich nicht an einer reinen Lehre festzukrallen und in der Beharrung keine Lösung zu sehen. Auf der Höhe der Zeit zu sein, „wenn Gutes bewirkt werden soll“ – das ruft dazu auf, sich politisch ohne Scheuklappen auf Realitäten und Entwicklungen einzustellen und sie sich nicht durch Denkmuster passend hinzubiegen. «