Orientierung in der Krise

Ein Bericht zur Lage unserer Demokratie

Wenn die Wahlbeteiligung absinkt, flammt die Frage nach der Verfasstheit unserer Demokratie in den entsprechenden Wahlnachlesen regelmäßig kurz auf. So auch dieses Jahr, in dem die Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen, trotz blauem Himmel und Sonnenschein, um weitere 5 Prozent von 77,7 Prozent (2005) auf 70,8 Prozent absackte. Die Rituale sind dabei immer die gleichen: Aus Rundfunk und Presse bekannte Politikwissenschaftler und Staatsrechtler streuen ihre populistischen Ressentiments gegen das Parteiensystem.


Gerne transportiert werden diese schlichten Thesen von zahlreichen Medien – und so freut man sich, dass es angesichts der journalistischen Blamage beim „Kanzler-Duell“ immerhin eine kurze kritische Debatte über den Zustand des politischen Journalismus in der Bundesrepublik gab. Die Parteien selbst schließlich sind froh, wenn auch diese rituelle Phase des Nachwahlkampfes ohne Konsequenzen versandet. Dabei wäre es – auch und gerade für die Parteien – dringend geboten, in ein vertieftes Nachdenken und einen kontinuierlichen Dialog über den Veränderungsbedarf in unserer Demokratie einzutreten. Ein solcher Prozess braucht Zeit, denn jenseits der ausgetretenen Pfade ist hinsichtlich der Analyse und noch mehr hinsichtlich konkreter Handlungsmöglichkeiten vieles unklar. Er braucht Ernsthaftigkeit, denn es geht hier nicht einfach um ein Sachthema unter vielen, sondern um die grundlegende Frage gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse. Und er kostet Überwindung, rührt er doch an Rolle und Funktion der Parteien selbst im demokratischen Gefüge. Lohnenswert wäre ein solcher Prozess für die Parteien allemal, da von ihm nicht nur eine Schärfung des eigenen Profils auf einem wichtigen Politikfeld zu erwarten wäre, sondern zugleich ein Orientierungsrahmen für die Weiterentwicklung der innerparteilichen Strukturen wie auch ein stärkeres Bewusstsein für die eigene Rolle, für die eigene Notwendigkeit in einer veränderten Gesellschaft. Auch das gilt es wiederzuentdecken: Funktionstüchtige Parteien sind als Transformationsriemen zwischen Gesellschaft und Staat, zwischen reiner Interessenpolitik und Gesetzgebungstechnik aus demokratischer Perspektive wichtiger denn je.


Legt man große Theorie und kleine Praxis einmal kurz zur Seite, so fällt zunächst dies auf: Um die Demokratie ist es ruhig geworden. Gerechtigkeit ist für viele ein großes Thema. Freiheit wird kontrovers diskutiert, hat aber nicht an Bedeutung verloren. Die Wirtschaftskrise ist in aller Munde. Der Klimawandel dringt ins öffentliche Bewusstsein. Aber Demokratie? Wer spricht eigentlich noch über Demokratie? Ein Slogan wie „Mehr Demokratie wagen“ ist in seiner damaligen Durchschlagskraft momentan nicht vorstellbar. Doch darüber, was in den vergangenen Jahrzehnten passiert ist und welche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen sind, scheiden sich die Geister. Unterliegt unsere Demokratie einem schleichenden Verfall, leben wir gar bereits in einer „Postdemokratie“, wie Colin Crouch unterstellt? Befindet sich die Demokratie in einer Transformation, die mit dem radikalen gesellschaftlichen Wandel einhergeht – mit Demokratieverlusten, aber auch mit Demokratiezuwächsen und neuen Potenzialen? Oder ist die Unartikuliertheit der Demokratie-Frage am Ende nur Ausdruck einer demokratischen Normalität, die die schlimmsten Kämpfe bereits hinter sich hat?


Weitgehende Einigkeit besteht in der Liste der problematisierten Faktoren, die auf die Verfasstheit moderner Demokratien Einfluss nehmen, und die Liste ist lang. Angeführt wird dabei besonders das Folgende: eine globalisierungsgetriebene Zerfaserung von Staatlichkeit und damit die Auflösung klassischer demokratischer Verantwortlichkeiten; der damit einhergehende Zuwachs an wirtschaftlichen Einflüssen auf die politischen Systeme; insbesondere eine Vermischung von privatwirtschaftlichen und staatlichen Handlungsformen und eine damit einhergehende Kommerzialisierung öffentlicher Leistungen; eine Verschiebung der sozialen Schichtung im spätindustriellen Zeitalter mit einem Zuwachs an sozialem Ausschluss, Arbeitslosigkeit und Prekarisierung sowie entsprechend mangelhaften Repräsentationsstrukturen durch Parteien und Verbände; ein Verlust an weltanschaulicher Bündelung in einer „postideologischen Situation“ und damit ein stärkeres Gewicht von Partikularinteressen über Verbände und sonstige Interessengruppen; überhaupt eine sinkende Bindekraft und ein Vertrauensverlust von Parteien; eine wachsende Komplexität gesellschaftlicher Prozesse zusammen mit einer „Steuerungsüberforderung“ der Demokratie; ein Druck auf politische Steuerung durch tief greifende Krisen wie dem Zusammenbruch der Finanzsysteme oder dem Klimawandel; damit verbunden ein Zuwachs an Expertokratie und eine Gewichtsverlagerung zugunsten von Exekutive aber auch Judikative sowie ein immer stärkerer Einfluss von Politikberatung und Demoskopie; ein Rückgang an Medienvielfalt und Medienqualität aufgrund der Privatisierung des Rundfunks und des wachsenden ökonomischen Drucks auf Printmedien; schließlich ein sinkendes Interesse an demokratischen Prozessen, das schlichtweg auf Gewöhnung und Abnutzung basiere.

Eine Transformation mit starken Ambivalenzen

Mit Blick auf die besondere Situation in der Bundesrepublik werden weitere spezifische Faktoren angeführt: die Auflösung des Fünf-Parteien-Systems und die damit einhergehende Erosion der „Volksparteien“, die Selbstblockaden eines ineffizienten Föderalismus oder die nach wie vor bestehende soziale, ökonomische und kulturelle Spaltung zwischen Ost und West.


Nicht zu vergessen und kaum bestritten sind zudem weitere Faktoren, die gerne unterschlagen werden, weil sie sich weniger gut in das allgemeine Lamento einfügen: ein in den vergangenen Jahrzehnten gestiegener durchschnittlicher Bildungsgrad; ein gesellschaftlicher Zuwachs an Individualisierung und Pluralisierung; ein deutlicher Bedeutungsgewinn digitaler Medien und ein entsprechender Gewinn an Informationsfreiheit und Informationsvielfalt; die Verschiebung von Wählergruppen durch den demografischen Wandel; die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden in die Kommunalverfassungen und eine verstärkte Anwendung derselben; eine wesentlich höhere Wählermobilität; ein Kompetenzzuwachs der Europäischen Union, auch verbunden mit einer Stärkung der Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments; überhaupt eine gestiegene öffentliche Aufmerksamkeit für globale Fragen und zumindest ein stärkerer Fokus auf zwischen- und überstaatliche Institutionen.


Bilanziert man die Effekte der einzelnen Faktoren, so bestehen erhebliche Zweifel, ob in das nostalgische Lamento des Niedergangs der Demokratie einzustimmen ist. Statt eines Verfalls scheint es sich eher um eine Transformation mit starken Ambivalenzen zu handeln, mit Demokratiegefährdungen, aber auch mit Stärkungen an anderer Stelle und neuen Potenzialen. Das ist wichtig, um das Erkämpfte bewusst und die Möglichkeit demokratischen Fortschritts wach zu halten. Eine solche Einordnung ist aber auch wichtig, um die historischen Relationen im Auge zu behalten. Wann war dieses Damals, als die Demokratie noch in Ordnung war? Das in der Erinnerung idealisierte Früher zerrinnt immer mehr, je näher man es heranholt.


Bei aller Ähnlichkeit der Aufzählungen: In welcher Anordnung diese Faktoren zu begreifen und welche Schlussfolgerungen aus einer solchen Anordnung zu ziehen sind, daran scheiden sich die Geister – wenn eine solche Anordnung von Ursachen und Folgen überhaupt versucht wird. Im Folgenden geht es weniger darum, einzelne dieser Faktoren weiter auszuführen. Stattdessen folgen einige quer liegende, systematische Überlegungen, die helfen können, das Knäuel etwas zu entwirren.


Ein tief greifender Faktor ist die zunehmende Fokussierung auf den „Output“ von Entscheidungen, die Fixierung auf die Effizienz von Steuerungsinstrumenten. Auch in Alltagsfragen neigen viele Menschen dazu, Entscheidungen am Ergebnis zu messen, und weniger daran, wie sie zustande kommen. Was wir jedoch heute erleben, ist eine deutlich tiefer liegende Veränderung des Verständnisses davon, woran sich die Legitimation einer politischen Entscheidung bemisst. Der für die Demokratie fundamentale Ansatz der Legitimation durch Beteiligung, also der „Input-Legitimation“ wird vielfach abgelöst durch eine Vorstellung von „Output-Legitimation“.


Die so genannten Governance-Ansätze in der politischen Theorie stellen dem ein Theoriegerüst und ein Begriffsarsenal zur Seite und stabilisieren so diese Perspektive. Ursprünglich als „Global Governance“ für den unterdemokratisierten globalen Raum entwickelt, wurde die Governance-Philosophie in den neunziger Jahren zunehmend zur Blaupause für das Selbstverständnis und die Begrifflichkeiten nationaler Politiken. Die Sprache des Managements und der Effizienz hat sich in diesem Feedback mittlerweile tief in das Verständnis des Politischen selbst eingeschrieben, der fundamentale Anspruch demokratischer Legitimation hat dadurch kaum bemerkt an Kraft verloren.


Ohne Demokratie im Sinne gleicher Beteiligungsmöglichkeiten ist nicht nur die Vorstellung gleicher, reziproker Anerkennung als Freie in einer wichtigen Dimension elementar verletzt. Ohne Demokratie ist weder ein gerechter Interessenausgleich möglich, noch werden jene Voraussetzungen gesellschaftlichen Fortschritts genutzt, die im Wettstreit um das bessere Argument, die bessere Rechtfertigung liegen. Woran will eine Politik der „Good Governance“ erkennen können, ob ein Ergebnis gut ist, wenn sie das Ziel einfach voraussetzt, anstatt es selbst zum Gegenstand der Auseinandersetzung zu machen? Und was ist Effizienz wert, ohne vorher gemeinsam zu klären, wohin die Reise gehen soll? Ohne Input kein Output.

Rechtsstaatlichkeit und Demokratie

Im inter- und supranationalen Raum liegt eine Schlüsselfrage in der Verhältnisbestimmung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Welche institutionellen Rahmenbedingungen zur Gewährleistung der Menschenrechte notwendig sind und welche Rolle demokratische Strukturen dabei spielen, ist nach wie vor umstritten. Auf praktischer Ebene gibt es ohne Zweifel in vielen Fällen starke Gründe gegen den Versuch einer externen, möglicherweise sogar gewaltsamen Durchsetzung demokratischer Mindeststandards.


Innergesellschaftliche Kräfte der Demokratie werden so vielfach eher geschwächt als gestärkt. Umgekehrt sollte jedoch auf normativer Ebene kein Zweifel bestehen, dass es keinen vollständigen Begriff der Menschenrechte geben kann, ohne das elementare Recht der demokratischen Beteiligung einzubeziehen. Es gibt zwar keine „one size fits all“-Lösung, da es „die“ Demokratie nicht gibt. Den konkreten Bauplan einer demokratischen Regierungsform muss jede Gesellschaft selbst – und immer wieder neu – aushandeln. Menschenrechte sind aber nicht Voraussetzungen für Demokratie, sondern Demokratie ist Menschenrecht. Es ist eine tief greifende Verletzung des Grundsatzes gleicher Anerkennung, einer Person die Möglichkeit zur Beteiligung am politischen Entscheidungsprozess zu verweigern. Deshalb wäre es ein schwerer Fehler, bereits auf normativer Ebene einen universellen Kern der Demokratie infrage zu stellen oder gar als neokonservativ zu brandmarken. Es ist schlimm genug, dass die Neocons zur Rechtfertigung der Irak-Intervention das Demokratie-Argument für andere Zwecke benutzt haben – mit den bekannten fatalen Folgen.


Ein globalisierungsbedingter Steuerungsverlust nationalstaatlicher Demokratien ist nicht von der Hand zu weisen. Deshalb liegt ein entscheidender Beitrag nationalstaatlicher Demokratien zur Verteidigung und Stärkung von Demokratie darin, zur Herausbildung inter- und supranationaler Ebenen beizutragen, in denen Elemente einer neuen, handlungsfähigen Demokratie begründet werden – und insofern leer gewordene nationalstaatliche Souveränität abzutreten.


Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass daneben nach wie vor starke Handlungsspielräume für die nationalen Demokratien bestehen. Wir wissen nicht erst seit den Studien von Gøsta Esping-Andersen und anderen, dass es beispielsweise sehr unterschiedliche wohlfahrtsstaatliche Antworten darauf gibt, mit der ökonomischen Globalisierung umzugehen. Das nicht in allen Punkten unproblematische „skandinavische Modell“ beispielsweise hat vorgeführt, dass sich auf nationaler Ebene eine hochwertige öffentliche Infrastruktur mit hochwertiger Arbeit und Steuergerechtigkeit verbinden lässt. Zwar ist auch diese Antwort keineswegs unabhängig von der europäischen und globalen Ökonomie – aber sie ist eine Antwort von mehreren möglichen. Es ist eine lähmende Übertreibung, dass der Globalisierungsprozess die nationalen Demokratien „entmachtet“ habe. Demokratischen Fortschritt kann es nur geben, wenn wir die Möglichkeiten zur Veränderung sehen – in Europa, aber auch in der Bundesrepublik.


Ein weiterer Einwand gegen demokratische Verfahren besteht in der Annahme einer zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Sachverhalte und einer damit einhergehenden Überforderung der Demokratie bei der Problemlösung. Die Welt zu kompliziert, zu schwierig für die Demokratie? Einfach war die Welt nie, auch nicht, als die ersten Demokratien das Licht der Welt erblickten. Vor allem aber fragt man sich verwundert, wo die Komplexitätsdiagnostiker ihren Glauben an die Experten hernehmen. Die berechtigte Kritik an expertokratischen Politikvorstellungen ist nicht neu. Sie wurde etwa in den siebziger Jahren in der Auseinandersetzung um die Atomkraft und den damit verbundenen expertokratischen Allmachtsfantasien vorgetragen. Gleichwohl lässt sich eine bedenkliche Tendenz der zunehmenden Expertokratisierung feststellen. Die Schröder-Jahre waren geprägt von Experten-Kommissionen aller Art. Zum Trend der Expertokratisierung gehört aber vor allem die wachsende Auslagerung legislativer Entscheidungsbefugnisse an die Exekutive oder Judikative, wo man entsprechenden Sachverstand vermutet.


All das könnte jedoch nur das Vorspiel für einen größeren expertokratischen Schub sein, der mit einem wachsenden Krisenbewusstsein einhergehen könnte. Hier ist es neben dem Sachverstand der Zeitfaktor, der demokratische Verfahren enorm unter Druck setzt. Bereits in der dramatischen Finanz- und Wirtschaftskrise seit dem Herbst 2008 zeigte sich, dass die Legislative bei weit reichenden Entscheidungen in eine Statistenrolle gedrängt wurde – und sich hat drängen lassen. Gigantische Ausgaben wurden unter dem Druck der Krise über Nacht zusammengeschustert und ohne großartige parlamentarische Debatte oder auch nur Prüfung beschlossen. Verwaltet werden sie im Fall des Finanzmarktstabilisierungsfonds mit zu geringer parlamentarischer Beteiligung und weitgehend ohne Öffentlichkeit.

Die Psychologie der Krise wird uns erhalten bleiben

Ganz egal, wann sich die Weltwirtschaft wieder fängt: Die Psychologie der Krise wird uns mit dem Klimawandel auf jeden Fall erhalten bleiben. Die Gefahr, dass mit Zuspitzung der Klimakrise der autoritäre Ruf nach expertokratischer Lenkung immer lauter wird, ist immens. Eine solche Entwicklung wäre eine Katastrophe für die Demokratie und damit ein Angriff auf die politische Freiheit aller. Der Ruf nach mehr Demokratie darf deshalb die Klimakrise nicht ignorieren, sondern muss sie zum Thema machen. Es geht darum, zweierlei zu zeigen: Dass der Kampf gegen den Klimawandel als ein Kampf für Freiheit und Selbstverwirklichung aller zu verstehen ist, und damit auch als ein Kampf für unsere politische Freiheit von morgen. Und dass eine Lösung der Klimakrise nur demokratisch zu bewerkstelligen ist. Wie sonst kann man der Willkür der Lenker und Experten begegnen? Wie sonst können sich die Betroffenen der Veränderung selbst überzeugen lassen? Und wie sonst lässt sich ein produktiver Wettbewerb der besten Ideen und Ansätze herstellen?


Die Forderung nach mehr „direkter Demokratie“ ist der gewichtigste und oftmals der einzige Punkt, der sich bei Initiativen und Parteien auf der Agenda zur Stärkung der Demokratie findet. Unmittelbare Beteiligung durch Plebiszite – so die ewig gleiche Zauberformel – maximiere die Mitsprachemöglichkeiten jedes Einzelnen und stärke damit die Demokratie als Ganze. So wird Unmittelbarkeit gegen Repräsentation ins Feld geführt, in vielen Fällen ein kapitaler Fehlschluss: Wenn wir in der Globalisierung demokratische Verfahren anstreben, die eine Vielzahl von Betroffenen gleichermaßen berücksichtigen, ist das in erster Linie ein Kampf um gerechte Repräsentation. Die Erfahrung schon in kleineren Einheiten zeigt: Unter Bedingungen begrenzter Zeit ist ein nicht handhabbares Maß an Unmittelbarkeit der beste Nährboden für Verbandsdespoten und Parteiautokraten im informellen Raum. Eine Demokratievorstellung, die auf den geschäftigen Vollzeitbürger setzt, bekommt am Ende die Diktatur des Bürgeradels oder blanken Populismus. Die Forderung nach demokratischer Auseinandersetzung ist nur zu verstehen, wenn wir sie als konzeptionellen Streit um unterschiedliche Vorstellungen vom Gemeinwohl begreifen, nicht aber als Streit zusammenhangsloser Einzelforderungen.


Das Gebot der Stunde lautet deshalb auch aus demokratiefördernder Perspektive: institutions matter. Wir brauchen durchlässige, partizipative öffentliche Institutionen, in denen sich eine gerechte Repräsentation der Beteiligten organisiert. Das alles setzt freilich einen neuen Republikanismus, das unmittelbare Engagement von Bürgerinnen und Bürgern und Bewegungen voraus – nicht als Kampf um Unmittelbarkeit, sondern als unmittelbarer Kampf um das Wie der Repräsentation. Aus all den Gründen stimmt allerdings auch: Demokratie braucht dort mehr direkte Beteiligungsformen, wo sie aufgrund der Begrenztheit der Betroffenen tatsächlich zu mehr gemeinsamer Debatte und mehr Beteiligung führt, etwa in der Kommune. Und wir brauchen sie dort, wo es um die Legitimation neuer Repräsentationsstrukturen geht, etwa hinsichtlich einer europäischen Verfassung.

Die großen Fragen der Gesellschaft gehören in die Parlamente

Ein entscheidender Fokus zur Stärkung der Demokratie ist die Stärkung der Legislative – sowohl hinsichtlich einer sich verselbständigenden Exekutive wie auch angesichts einer immer mehr Entscheidungen treffenden Judikative. Die Parlamente sind der demokratische Ort, an denen die wichtigen gesellschaftlichen Fragen im Rahmen der Verfassung zu entscheiden sind. Vor diesem Hintergrund ist die Tendenz des Abschiebens dieser Fragen an Expertenkommissionen ebenso fragwürdig wie eine Übertragung der Verantwortung an das Bundesverfassungsgericht. Zu den Problemkreisen zählt auch der schleichende Übergang parlamentarischer Aufgaben in den Bereich der Exekutive. Die Legislative kann sich nur dann in die ihr zustehende Position bringen, wenn sie sich auf die grundlegenden Weichenstellungen konzentriert und hier engagierte und nachvollziehbare Auseinandersetzungen führt, anstatt jeden erdenklichen Einzelfall mit einer eigenen Bestimmung zu erfassen.


Das Parlament sollte die Regierung zudem – wie in den Vereinigten Staaten – mit eigenen Haushaltszahlen kontrollieren können („budget office“). Aufsichtsratsvertreter des Staates sollten durch das Parlament bestätigt werden. Gutachten müssen zügig veröffentlicht werden. Internationale Verhandlungen müssen vorab Thema im Parlament werden. Um die Parlamente zu stärken, muss schließlich die Arbeit von Lobbyisten kontrolliert und transparent gemacht werden. Die Bürgerinnen und Bürger müssen besser nachvollziehen können, welche Verbände und Unternehmen Einfluss auf ein Gesetz genommen haben, ob auf nationaler oder europäischer Ebene. Notwendig ist die Einführung von Karenzzeiten für den Wechsel von Ministern und Staatssekretären in die Wirtschaft, wenn ein Interessenkonflikt zwischen alter und neuer Tätigkeit besteht. Ein verpflichtendes Lobbyistenregister sollte transparent machen, wer für wen Lobbyarbeit macht und wie viel Geld dabei im Spiel ist.


Ein Punkt, der die Parteien in besonderem Maße berührt, ist ein gravierender Mangel an erkennbaren Grundsätzen und Orientierungen, die zur Wahl stehen. Die politische Dynamik Barack Obamas beruht nicht nur auf seinem Charisma, sondern ebenso auf der Tatsache erkennbarer Aussagen zu politischen Richtungsfragen. Die parteipolitische Kultur in Deutschland hingegen geht seit geraumer Zeit ganz und gar in der Praxis auf.

Bewahrung von was? Modernisierung in welcher Hinsicht?

Gerhard Schröders „Neue Mitte“ ist unter Merkel noch mittiger geworden, wenn auch aus wahltaktischen Gründen. Und der ganze Stolz der jungen Politiker-Generation ist nach wie vor ihr „Pragmatismus“. Dachte man bislang, der Hyper-Pragmatismus der neunziger Jahre würde irgendwann wieder stärker durch eine Orientierungsdebatte abgelöst, so stellen wir zum Ende dieses Jahrzehnts fest: Der undogmatische, unbefangene Problemlöser ist immer noch das herrschende Leitbild. Dass eine öffentliche Debatte so nicht in Gang kommt und die Menschen in Lethargie versinken, ist nicht weiter verwunderlich. Wer den Bürgerinnen und Bürgern nicht erklären kann, wohin die Reise gehen soll, wird keine Weggefährten finden. Das gilt umso mehr in Krisenzeiten, in denen die Wellen besonders hoch schlagen.


Wer keine Begriffe, keine Sprache für eine Richtungsbeschreibung hat, verwirrt nicht nur andere, sondern ist selbst verloren. Wonach bestimmt sich eigentlich, wo „vorne“ ist? Wer oder was bestimmt, was ein „Problem“ ist? Innovation in welche Richtung? Bewahrung von was? Modernisierung in welcher Hinsicht?


Dabei geht es nicht um einen Rückzug in die alten ideologischen Schützengräben. Und Wachheit gegenüber einem fundamentalistischen Politikverständnis ist so geboten wie eh und je. Aber: Pragmatismus entfaltet seinen Sinn erst mit Blick auf Ziele, Realismus braucht Substanz. Deshalb müssen sich die Parteien wesentlich stärker als Akteure neuer Orientierungsdebatten auf der Höhe der Zeit begreifen. Man muss eine ideologiekritische Position nicht aufgeben, wenn man von der Politik Aussagen zu Grundsätzen und Zielen verlangt.


Gerade in Zeiten des Lobbyismus und des Verbandswesens sind Parteien noch am ehesten Orte, an denen sich so etwas wie Interpretationen vom Gemeinwohl und der Streit zwischen ihnen organisieren können – oder zumindest sollten. In dieser Funktion als Tranformationsriemen zwischen Gesellschaft und Institutionen – und damit auch zwischen Partikularität und Universalität – liegt die Bedeutung und die Aktualität des Parteigedankens. In den Worten von Christoph Menke: „Parteien sind Schnittpunkte von Partikularität und Universalität: Parteien repräsentieren bloße Teile des sozialen Ganzen, die aber Modelle des sozialen Ganzen entwerfen und durchzusetzen versuchen.“ Nicht der Parteigedanke ist antiquiert, sondern die Abgesänge – und vielleicht auch die eine oder andere veränderte Binnenstruktur. Ziel muss es sein, die Parteien durchlässiger zu machen und die Verkrustung eingespielter Funktionärs- und Flügelkartelle immer wieder aufzusprengen. In jedem Fall geht es um Parteistrukturen und eine Parteikultur, die neue Ideen und Orientierungsangebote zulässt, für Quereinsteiger offen ist und auch eine punktuelle, zeitlich begrenzte Mitarbeit ermöglicht.


Bei aller Notwendigkeit der innerparteilichen Veränderung hält das allgemeine Lamento über den Zustand der Parteien auch einem Praxistest nicht stand. Wer etwa einmal einen grünen Parteitag besucht hat, wird sich wundern, mit welchem Maß an Inklusion und mit welcher republikanischen Ausdauer diskutiert und entschieden wird. Zumindest ein Teil der Parteienkritik muss sich fragen lassen, ob es ihr wirklich um mehr Demokratie geht, oder nicht eher um den rechtspopulistischen Unwill, sich auf die Komplikationen und die Langsamkeit demokratischer Prozesse einzulassen.


Die notwendige Transformation der Parteien könnte in den Begriffen der „Konzeptpartei“ und der „Orientierungspartei“ begriffliche Paten finden. Das alte Bild der „Programmpartei“, in der sich zu allem und jedem – von A wie Abfall bis Z wie Zwischenlagerung – ein Textbaustein findet, kommt dem noch am nächsten, ist aber zu statisch und zu unspezifisch, um auf die genannten Anforderungen hinzuweisen. Wohin die Vorstellung von der „Personenpartei“ ohne programmatische Orientierung führt, wissen wir. Und auch das Modewort von der „Projektpartei“ kam zwar der allgemeinen Gemütslage entgegen, verspricht aber nicht gerade einen Politikansatz, der größere Linien zieht und die Dinge zusammendenkt.


In ihrer Funktion als Orientierungsparteien müssen Grüne und SPD in den kommenden Jahren auf Bundesebene insbesondere der Verantwortung nachkommen, eine grundsätzliche Alternative zu Schwarz-Gelb zu formulieren, die eine Chance auf eine gesellschaftliche Mehrheit hat. Dabei darf die Antwort auf diese Orientierungsfrage nicht „links alt“ ausfallen, sondern muss den Anspruch auf eine gerechte Gesellschaft mit den neuen gesellschaftlichen Fragen – Ökologie, Verbraucherschutz, Gender, Migration, neue Medien et cetera – und einem Optimismus der Veränderung verbinden.


Als Konzeptparteien müssen die Parteien jenseits von Spiegelstrichen und Textbausteinen die Orientierungsaussagen mit konkreten, kompetenten Konzepten zu zentralen Projekten unterfüttern. Hier sind strategische Fokussierung und klare Angebote zur Mitarbeit gefragt. Auch in den Fraktionen wird es darauf ankommen, die vorhandenen Kompetenzen optimal zu nutzen. Die Bürger könnten an solchen Vorschlägen einer politischen Anordnung auf relevanten Politikfeldern interessiert sein. Im demokratischen Wettstreit sind sie unverzichtbar.

Wir erleben einen politischen Zeitenwechsel

Auf diesen Wettstreit der Orientierung und der Konzepte wird es in den kommenden Jahren umso mehr ankommen. So bedauerlich die Mehrheit für Schwarz-Gelb ist und so katastrophal die Konsequenzen auf einigen Politikfeldern sein werden, so war der Sieg in bestimmter Hinsicht doch vorhersehbar. Gerade in Zeiten der Krise gibt es unter den Wählern offenkundig ein großes Bedürfnis nach neuer Orientierung. Die FDP hat stellvertretend für das gesamte konservative und wirtschaftsliberale Lager eine solche Orientierung sehr plakativ formuliert: Marktfreiheit und Wettbewerb, niedrige Steuern und Wachstum waren die (klientelistischen) Schlagworte dieser Orientierung – adressiert an Mittelstand und Mittelschicht. Dieser mit einer Mehrheitsoption versehenen Orientierungsaussage stand keine aus Wählersicht erkennbare machtpolitische  Alternative gegenüber. Nicht taktisch (weder Ampel, noch Jamaika, noch Rot-Grün-Rot), aber auch nicht inhaltlich, denn tatsächlich waren die inhaltlichen Differenzen sowohl zur Linkspartei wie auch zur FDP zu groß, um hier eine echte gemeinsame Orientierung erkennen zu lassen.


Mit der Mehrheit für Schwarz-Gelb haben wir es nach 1969 (sozial-liberal), 1982 („geistig-moralische Wende“) und 1998 (Rot-Grün) mit einem weiteren politischen Zeitenwechsel zu tun, der gerade die junge Generation in der Auseinandersetzung politisch und kulturell prägen wird. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik kommt es vermutlich zu starken gesellschaftlichen Polarisierungen, auch wenn noch nicht klar ist, welche Angela Merkel wir in den nächsten vier Jahren erleben werden: eher die des Leipziger Parteitags oder eher die präsidiale Kanzlerin der letzten vier Jahre. In jedem Fall müssen Grüne wie auch SPD sich auf diese polarisierte Konstellation einstellen – mit Besonnenheit, aber auch Offensivgeist. Denn unabhängig davon, welche Richtung Schwarz-Gelb im Einzelnen nehmen wird: Dazu eine alternative strahlkräftige Orientierung zu formulieren und diese mit erkennbaren realistischen Konzepten zu verbinden ist Voraussetzung dafür, dass die gegenwärtige Regierungskonstellation nur ein Zwischenspiel bleibt.


Mit Blick auf die Bedeutung von Orientierungsdiskursen für die Demokratie ist schließlich ein weiteres bundesrepublikanisches Phänomen anzusprechen, nämlich die öffentliche Abwesenheit intellektueller Impulsgeber. Man muss nicht der Ältere-Herren-Verklärung von Thea Dorn folgen, um festzustellen: Die Figur des „Public Intellectual“ ist in der Bundesrepublik ein weitgehend unbekanntes Wesen. Die Habermas-Festspiele im vergangenen Sommer konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die politisch-öffentlichen Interventionen gerade aus den jüngeren Akademiker- und Künstler-Generationen äußerst rar sind. Zwar ist auch hier eine differenzierte Betrachtung gefragt, lassen sich doch durchaus Schriftsteller und Musiker, Philosophen und Politikwissenschaftler, Historiker und Soziologen finden, die den Brückenschlag in die politische Öffentlichkeit suchen. Gleichwohl: Deutschland hat viele Experten, aber wenige Public Intellectuals. Einige strukturelle Gründe dafür liegen auf der Hand.


In einem Teil des universitären Betriebs der Bundesrepublik lebt nach wie vor jene Tradition fort, die Politik letztlich für ein „schmutziges Geschäft“ hält, von dem Ansteckungsgefahr droht. Auf dass die reine Vernunft nicht durch das schmutzige Geschäft der politischen Praxis kontaminiert werde. Jener Wissenschaftlertyp anglo-amerikanischer Prägung, der sich zugleich als exponierter Forscher und als republikanischer Bürger versteht, war in der universitären Tradition der Bundesrepublik nie sonderlich ausgeprägt. Ob diese Berührungsangst dann im konkreten Fall zur Abschottung führt oder in einer Art Übersprungshandlung zum „ganz Anderen“ oder zur bloßen „Negation“ – in beiden Fällen ist die Position für die konkreten Orientierungsdebatten einer demokratischen Öffentlichkeit nicht genießbar.

Literarischer Radikalismus ersetzt das demokratische Geschäft

Hinzu kommt ein zweiter Faktor: Das Gefühl einer gewissen Unabhängigkeit des universitären Denkens erleichtert die Bereitschaft zur Einmischung. Es ist kein Zufall, dass die positiven Beispiele öffentlicher Intervention, Jürgen Habermas voran, oftmals im Geist der spät-sechziger und siebziger Jahre stattfanden. Legt man die heutigen Anforderungen an wissenschaftliche Karrieren daneben, stellt man fest, dass sich mit der Übersetzung in die Öffentlichkeit kaum Pluspunkte holen lassen. Gefragt ist oftmals kleinteilige Fachexpertise, da sieht man schon mal vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.


Drittens lässt sich als weiterer Grund auch der poststructuralistic turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften anführen. Standen in den neunziger Jahren noch John Rawls und Jürgen Habermas auf der Tagesordnung, so haben ihnen heute Michel Foucault und Giorgio Agamben vielfach den Rang abgelaufen. Und die philosophischen Beststellerautoren der letzten Jahre heißen Peter Sloterdijk und Slavoj Zizek. Ohne hier auf diese Ansätze im Einzelnen eingehen zu können: Zwischen literarischem Spiel und steiler Spekulation bleibt der Blick auf die tatsächlichen Betroffenheiten und Potenziale verstellt. Radical chic statt Empathie. Viel Stoff für Distinktion und Verschwörungstheorien, wenig Antrieb für teilnehmende Auseinandersetzung. Literarischer Radikalismus ersetzt das demokratische Geschäft.


Die Tatsache, dass die liberalen und egalitären Ansätze aus der praktischen Philosophie an Boden verloren haben, haben sich diese sicher auch selbst zuzuschreiben. Vieles bleibt zu abstrakt, zu fleischlos. Damit hat man es neokonservativen Kräften von Paul Nolte bis Frank Schirrmacher leicht gemacht, als verbleibende Fahnenträger öffentlicher Einmischung das Feld zu besetzen. Dabei wäre die Erwartung gar nicht die einer bloßen Anwendung, einer naiven Deduktion oder einer Verlagerung auf die Empirie. Notwendig wäre vielmehr die Eröffnung eines Horizonts an neuen normativen Fragen im wechselnden Blick zwischen abstrakten Sollenssätzen und gesellschaftlich-praktischer Diagnose. In dieser erkenntnistheoretischen Pointe liegt zugleich der Schlüssel für mehr Relevanz hinsichtlich der notwendigen gesellschaftlichen Orientierungsdebatten.


Ein vierter wirkmächtiger Grund für den mangelnden Interventionsgeist vieler Jung-Wissenschaftler liegt schließlich auch in einem andauernden Gefühl der neuen Unübersichtlichkeit, das verunsichert und zur Zurückhaltung mahnt. Womit wir nochmals zum Argument der Komplexität zurückkehren. Die existenziellen Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit sind Geschichte, die Emphase früherer politischer Auseinandersetzungen verpufft – so lautet die lakonische Diagnose. Die Welt sei zu komplex für öffentliche Leidenschaft. Doch bei allen nachvollziehbaren Irrungen und Wirrungen fragt man sich auch hier, bis wohin die Komplexitätsthese trägt, und ab wo sie zur Ausrede wird.


Thea Dorn hat Recht: Das Defizit der Jüngeren ist nicht, dass in der Welt, in der wir leben, nichts Erschütterndes mehr passiert, sondern dass in der Welt, in der wir leben, nichts Erschütterndes mehr passiert, sondern dass wir uns nicht mehr erschüttern lassen. Ob Klimakrise, Wirtschaftskrise oder die Ernährungskrise in den Ländern des Südens, die massiven Probleme liegen offen vor uns und warten darauf, aufgegriffen zu werden. Und bei aller Vorsicht auf der Suche nach Antworten sage keiner, es gebe keine grundlegenden Alternativen hinsichtlich Grundannahmen und Lösungsstrategien. Es gebe keine Alternativen hinsichtlich der Rolle von öffentlichen Institutionen und öffentlichen Gütern, hinsichtlich der Rolle von Menschenrechten und Demokratie, hinsichtlich der ökonomischen Grundhypothesen, hinsichtlich der Durchlässigkeit unserer Gesellschaft, hinsichtlich der sozialen Bedeutung des Klimawandels – um nur einige Beispiele zu nennen. Es ist richtig, dass seit Mitte der achtziger Jahre die große Bewegungsemphase fehlt, auf der man surfen kann. Aber eine Nummer kleiner wäre schon genug: Der Intellektuelle als öffentlicher Stein des Anstoßes.


Dabei handelt es sich durchaus um wechselseitige Blockaden zwischen Wissenschaft und praktischer Politik. Es ist mindestens ebenso das Versagen der praktischen Politik, den Dialog nicht zu suchen beziehungsweise ihn auf Festtagungen und Sonntagsreden zu verbannen. Mit der Berührungsangst des Wissenschaftlers korrespondiert die umgekehrte Berührungsangst des Politikers, der die Relevanz für demokratische Orientierung und Praxis gar nicht erkennt. Schenkel klopfende Wissenschaftsferne und volkstümlich-populistische Intellektuellenverachtung gehören zum festen Potpourri zahlreicher, durchaus erfolgreicher Politiker. Der Fundus an politischer Inspiration, an Ideen, Begrifflichkeiten und Analysen, bleibt so im politischen Raum für den notwendigen Orientierungsdiskurs verschenkt. Zwei Systeme im Blindflug.


Die hier beschriebenen Erwartungen an intellektuelle Einmischung sollte man freilich nicht überziehen. Nicht jedes Forschungsgebiet taugt zur öffentlichen Intervention. Nicht jede öffentliche Unterstützung zielt auf diese Form der Zurücküberweisung an die Öffentlichkeit. Und nicht jeder Wissenschaftlernatur liegt der publizistische oder mündliche öffentliche Auftritt im Blut. Demokratische Orientierung braucht jedoch mehr davon. Dabei ist das demokratische Anforderungsprofil durchaus anspruchsvoll: Gesucht ist nicht der Experte als Entscheider und Lenker. Gefragt ist auch nicht die intellektuelle Autorität, die sich Gehör verschafft. Angewiesen sind wir auf diejenigen, die sich etwas überlegt haben und diesen möglichen Vorsprung als Bürgerinnen und Bürger unter Gleichen weitergeben. Als Stein des Anstoßes. Als Treibstoff für die Demokratie. Was Letztere damit anfängt, liegt dann ganz bei ihr.

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