Parteien in die Produktion
Wie oft wurde in den vergangenen Jahren nicht die neue, die „Berliner“ Republik beschworen. Doch erst die vorgezogene Bundestagswahl vom 18. September bedeutet eine wirkliche parlamentarische Zäsur. Mit dieser Wahl nimmt das Land tatsächlich Abschied von den Bonner Verhältnissen. Weder Rot-Grün noch Schwarz-Gelb: Erstmalig in der bundesrepublikanischen Geschichte ist es nicht möglich, dass eine der kleinen Parteien den Kanzlermacher spielt.
Dieser neuen parlamentarischen Lage dürfte die Zukunft gehören. Sie ist die Folge der Erosion des Stabilitätsankers der alten Republik, der beiden Volksparteien, von 90 Prozent der Stimmen in den siebziger Jahren auf weniger als 70 Prozent im Jahre 2005, und der Zersplitterung an ihren Rändern. Mit dem Auftritt der Linkspartei und der Verfestigung des Fünf-Parteien-Systems erleben wir die europäische Normalisierung und das Ende des bundesrepublikanischen Sonderweges.
Die Bonner Besonderheit bestand über Jahrzehnte darin, dass das Land trotz eines Verhältniswahlrechts fast wie unter den Bedingungen des Mehrheitswahlrechts funktionierte. Starke Volksparteien mit annähernd absoluter Mehrheit sorgten für stabile Regierungen. Unterstellt jedoch, dass sich SPD und Union im 30-Prozent-Turm einrichten müssen, dürfte diese Stabilität der Vergangenheit angehören.
Diese Veränderung hat jedoch ihren Preis: Wenn in Zukunft keine der „klassischen“ kleinen Koalitionen mehr greift, bedarf es neuer Wege, um einer Regierung zur erforderlichen Legitimation zu verhelfen. Will das Land der bewährten Tradition fester Koalitionen treu bleiben, müssen in Zukunft drei disparate Parteien für vier Jahre zusammen geschweißt werden. Der Kanzler als Dreikomponentenkleber, das macht die Sache alles andere als einfach – wie die ergebnislosen Schwampel- und Ampeleien bereits gezeigt haben.
Schon heute sind deshalb Überlegungen für die Zeit nach der Übergangsregierung – und eine jede Große Koalition ist eine solche – angebracht. Sonst wird die Angst vor der Unregierbarkeit des Landes wachsen, vor der bereits heute erste alarmistische Stimmen warnen.
Minderheitsregierung oder Kanzlerrotation?
Auf der anderen Seite birgt die neue Situation ungeahnte Möglichkeiten zu einer Belebung des demokratischen Systems. Wie sehen die Alternativen konkret aus? Seit der Bundestagswahl werden vor allem zwei Modelle diskutiert: die Duldung von Minderheitsregierungen nach skandinavischem Muster und die Kanzlerrotation nach israelischem Vorbild. Beide Modelle sind grundsätzlich denkbar, stehen sich in ihren Konsequenzen jedoch fast diametral entgegen. Während die Kanzlerrotation eine Fixierung auf die stärkste Person an der Spitze der Parteien bedeutet und damit der Kanzlerdemokratie weiteren Vorschub leisten würde, bietet das Regieren mit wechselnden Mehrheiten gerade die Chance, von dieser Fixierung auf die Spitze wegzukommen.
Hinzu kommt: Die Kanzlerrotation ist, wenn überhaupt, das geeignete Mittel zwischen zwei annähernd gleich großen Parteien, die sich in ihrer Führungsrolle abwechseln. Wie die bundesrepublikanische Parlamentsgeschichte mit ihrem bisher einzigen Fall einer Großen Koalition, der Regierung Kiesinger/Brandt von 1966 bis 1969, zeigt, handelte es sich dabei bisher nur um eine Ausnahmelösung. Und eine solche dürfte die Große Koalition auch in Zukunft bleiben – schon aufgrund der Angst der beiden (Noch-)Volksparteien vor dem weiteren Ausfransen der politischen Ränder.
Bleibt also das Modell Minderheitenregierung, das Regieren mit wechselnden Mehrheiten. Hierbei könnte es sich mittelfristig um eine echte Chance für das demokratische System der Bundesrepublik handeln, nämlich um die Möglichkeit, die gegenwärtige Deformation des parlamentarischen Systems zur Kanzlerdemokratie zurückzudrängen.
Die Kanzlerdemokratie tagt bei Christiansen
In welcher Lage ist der bundesrepublikanische Parlamentarismus heute? Seit langem gilt die Bundesrepublik als Geisel ihrer Parteien. Sanktioniert vom Bundesverfassungsgericht schien aus dem verfassungsrechtlichen Sollzustand der Parteiendemokratie die Verfassungswirklichkeit des Parteienstaates geworden zu sein. Sah das Grundgesetz vor, dass die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, schien die tatsächliche Ordnung dadurch gekennzeichnet, dass die Parteien „die Staatsgewalt insgesamt innehaben“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde).
Bizarrer Höhepunkt dieser Entwicklung war der Spendenskandal Helmut Kohls vor fünf Jahren. In der Erklärung des früheren Kanzlers zu seiner Spendenpraxis tauchte die „Verantwortung für das Wohl unseres Landes“ an letzter Stelle auf. Absolut im Mittelpunkt stand die Loyalität gegenüber der eigenen Partei. Ihr wollte der Kanzler „dienen“, von ihr galt es „Schaden abzuwenden“. Im Staatsverständnis Helmut Kohls war das Wohl des Landes mit dem seiner Partei identisch geworden. Mehr noch: Im Zweifelsfall kam das Wohl der Partei vor dem des Landes.
Mittlerweile sind wir auch in dieser Hinsicht einen „großen“ Schritt weiter – und in der Kanzlerdemokratie gelandet. Heute drohen die Parteien selbst zu den Opfern wachsender Medialisierung und Personalisierung zu werden – auf Kosten inhaltlicher Debatten. Indem Sabine Christiansen immer mehr zum Ersatzparlament der Republik avanciert, gerät die Sachdiskussion nicht nur im Bundestag, sondern auch in den Parteien zunehmend ins Hintertreffen.
Und die parteipolitischen Disziplinierungsmechanismen wie Fraktionszwang und Listenaufstellung tun ein übriges. Am deutlichsten wurde dies in den vergangenen Jahren bei den beiden Vertrauensfragen der Regierung Schröder – der „echten“ über den Kriegseinsatz gegen Afghanistan wie auch der „unechten“ über die Person des Bundeskanzlers. In beiden Fällen wurden die SPD-Parlamentarier mit harten Bandagen auf Kurs gebracht, beide Abstimmungen gingen damit eindeutig zu Lasten der Glaubwürdigkeit der einzelnen Abgeordneten – und zugunsten der Macht des Kanzlers.
Treibt „Parteiverrat“, wer Alternativen nennt?
Gerhard Schröder entwickelte in den letzten Jahren mit virtuoser Meisterschaft und unterstützt von „Bild, BamS und Glotze“ eine neue Form plebiszitären Regierens – oft auch gegen die eigene Partei. Ihren Anfang nahm diese Entwicklung bereits mit seiner „Selbstaufstellung“ zum SPD-Kandidaten 1998. Gerhard Schröder erreichte diese, indem er die Landtagswahlen in Niedersachsen zum Plebiszit über die Kandidatenfrage umdefinierte. Bisheriger Höhepunkt war dann die wohl heute bereits legendäre „Berliner Runde“ am Abend des 18. September, in der Schröder apodiktisch eine Regierungsbeteiligung der SPD ohne seine Kanzlerschaft ausschloß. Zu Recht wurde im Anschluss von einer „Geiselnahme“ der eigenen Partei gesprochen. Anschließende Überlegungen von SPD-Mitgliedern, sachliche und personelle Alternativen ins Spiel zu bringen, wurden prompt als „Parteiverrat“ (Ludwig Stiegler) gegeißelt. Hier zeigt sich: Am Ende von Rot-Grün ist Gerhard Schröder die SPD geworden. Und die Partei hält flügelübergreifend still – bis an den Rand der Selbstentmündigung. Wir erleben hier bei der SPD ein Phänomen, das lange am ausgeprägtesten bei den Grünen zu beobachten gewesen ist: Die mediale Konzentration auf den Spitzenmann lässt die Partei und ihre Inhalte fast völlig verschwinden – die Sozialdemokratie als Ein-Mann-Partei. Dem Ende der Ära Kohl in seiner Bedeutung für die Entwicklung zur Parteiendemokratie vergleichbar, ist das Ende der Ära Schröder somit zum bisherigen Höhepunkt der Kanzlerdemokratie geworden.
Das Ende von Rot-Grün birgt aber, wie der Abgang des Außenministers bereits andeutet, zugleich die Möglichkeit zur Überwindung dieser Deformation der parlamentarischen Demokratie. Die Chance dieser Wahl besteht darin, dass die Alphatiere der Koalition, Gerhard Schröder und Joschka Fischer, nach sieben Jahren Rot-Grün den Weg für neues Personal frei machen. Dadurch wird vor allem ein neuer Blick auf die hinter den Personen stehenden Themen ermöglicht.
Abgeordnete im Parteiengefängnis
Diese Tendenz zur Stärkung der Sachinhalte würde durch eine neue Form des Regierens in Form zukünftiger Minderheitenregierungen mit wechselnden Mehrheiten erheblich gestärkt. Erstmalig müsste die Sachentscheidung nicht an starren Parteigrenzen Halt machen. Vielmehr würden sich die Themen ihre Mehrheiten suchen, wie dies sonst nur im Falle der Aufhebung des Fraktionszwanges der Fall ist. Wie die bisherigen Debatten dieser Art deutlich machen – man erinnere sich nur an die Hauptstadtdebatte von 1991 – suchen sich in einem derartigen Fall die Probleme ihre Lösungen deliberativ und parteiübergreifend. Mehr noch: Gerade durch die Sachbezogenheit kommt es zu einer Intensivierung der inhaltlichen Debatte und zu einer erheblichen Aufwertung des einzelnen Abgeordneten, der, seinem Auftrag nach Artikel 38 Grundgesetz entsprechend, endlich vor allem seinem Gewissen und nicht der Partei verantwortlich wäre.
Heute dagegen sehen sich viele Abgeordnete im Parteiengefängnis, während die Grenzen zwischen den Parteien zunehmend fließend geworden sind. Macht man es nur an dem groben Raster von „Bewegung oder Beharrung“ (Tobias Dürr) fest, dann zeigt sich, dass die unterschiedlichen Positionen quer zu den Parteien verlaufen. Längst finden sich in allen Parteien, vielleicht mit Ausnahme der Linkspartei, sowohl Befürworter wie auch entschiedene Gegner weiterer Agenda-Reformen. Dem Ansehen des einzelnen Abgeordneten wäre sehr gedient, wenn zukünftig nicht langwierige innerparteiliche Überwältigungsprozesse über die erforderliche Mehrheit entscheiden, wie jüngst im Falle der Agenda 2010 zu beobachten, sondern die Richtigkeit der Sache jenseits enger Parteigrenzen.
Dadurch würde nicht nur ein sachnäheres, sondern auch ein schnelleres parlamentarische Agieren ermöglicht. Größerer Beweglich- und Geschwindigkeit bedarf es jedoch allein schon, um mit der permanenten „Gegenwartsschrumpfung“ (Hermann Lübbe) durch den Turbokapitalismus auf demokratischem Wege umzugehen. Anderenfalls bestimmen in Zukunft angesichts der eminenten Beschleunigung immer weniger der parlamentarische Austausch von Argumenten, sondern angebliche ökonomische Entscheidungszwänge.
Die nächste Wahl kommt bestimmt
Auch wenn es ein Ende der alten Lagerromantik bedeutet: Im Sinne der Belebung der Demokratie ist der Sprung ins Freie durch ein Regieren mit wechselnden Mehrheiten dringend erforderlich. Alarmistischer Stabilitätsfetischismus und die Warnung vor Weimarer Verhältnissen sind gegenwärtig völlig fehl am Platz. Vielmehr ist Phantasie im Umgang mit der neuen Lage gefragt. Denn wichtiger als bloße Systemstabilität ist in der Tat „Demokratiestabilität“ (Hermann Scheer). Und diese hat in den letzten Jahren erheblich gelitten, wie die ständig abnehmenden Zustimmungsraten zum Parlamentarismus eindeutig belegen. Schon deshalb sollten in diesem Wahlausgang liegende Chancen eingehend geprüft und kreativ genutzt werden. Denn eines steht im Falle einer Großen Koalition immer fest: Die nächste Wahl kommt ganz bestimmt – im Zweifel schneller als uns heute lieb ist.