Politik für die Mitte der Gesellschaft



Deutschland ist ein seltsames Land. Kaum hat die Wirtschaft eine mehrjährige Konjunkturschwäche überwunden, während die Arbeitslosigkeit deutlich zurückgeht, kaum präsentieren sich die Staatsfinanzen zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung in einem halbwegs akzeptablen Zustand, schon beginnt das Klagen: Der Aufschwung kommt nicht bei den Menschen an. Besonders laut intoniert diesen Satz die SPD. „Das soziale Deutschland“ heißt neuerdings ihr Motto. Statt die Erfolge der Agenda 2010 herauszustellen, macht sich die Partei in Teilbereichen daran, Schröders Reformpolitik zu demontieren. Dies wird der Sozialdemokratie in der einst umworbenen neuen Mitte Sympathien kosten, doch ist dies offenkundig egal. Getrieben von Lafontaines Linkspopulisten versucht sie, ihre Kernklientel zu mobilisieren: die Gewerkschaften, die „kleinen Leute“.

Die SPD setzt dabei auf Minderheitenthemen wie Mindestlohn und eine längere Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I für ältere Erwerbslose. Es herrscht verkehrte Welt: Die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung interessiert nur Spezialisten, obwohl dies jeden abhängig Beschäftigten angeht, während der Streit um den korrekten Mindestlohn inzwischen Bibliotheken füllt. Gegenwärtig zerbricht man sich den Kopf darüber, ob der Hartz-IV-Regelsatz wegen der inflationsbedingten Verteuerung des Warenkorbs angehoben werden muss. Dabei geht bei jedem Einkauf ohnehin ein Fünftel des Betrags direkt an den Staat. Dies trifft Arme besonders, aber eben auch jeden anderen Konsumenten, und so wäre viel eher eine Diskussion über die Höhe der indirekten Steuern von der Mehrwertsteuer bis zur Ökosteuer überfällig.

Eine skurrile Debatte um „Prekariat“ und neue Unterschichten trübt den Blick dafür, dass die Bundesrepublik noch immer das Land der Facharbeiter und Ingenieure ist. Der Exportweltmeister hat sich diesen Titel nicht mit der Ausfuhr von Billigspielzeug verdient, sondern mit High-Tech-Maschinen und teuren Autos. Die potenziellen Nutznießer eines flächendeckenden Mindestlohns machen nur einen geringen Teil der Arbeitnehmerschaft aus. So gibt es Berechnungen, wonach ein Mindestlohn von 7,50 Euro hauptsächlich Singles hülfe, da working poor mit zwei Kindern ohnehin aufstockende Sozialhilfe erhalten. Rund 1,3 Millionen Deutsche können von ihrem Arbeitseinkommen allein nicht leben. Dies sind ohne Frage zu viele Menschen, aber angesichts von 80 Millionen Einwohnern relativiert sich die Dramatik der Zahl beträchtlich. Doch die SPD stellt ihre Politik von den Füßen auf den Kopf. Ihr geht es nicht darum, den Aufschwung durch kluge Ordnungspolitik zu verstetigen, damit die Mitte der Gesellschaft davon profitiert, um dann im nächsten Schritt die Situation der Benachteiligten zu verbessern. Stattdessen nimmt die Partei die guten Wirtschaftsdaten als Einladung, wieder die Instrumente aus der Werkzeugkiste der traditionellen Sozialpolitik auszupacken.

Die Dividende wird verfrühstückt

Die Sozialdemokraten verstehen die Erfolge von Schröders Reformpolitik nicht als Grundlage, um darauf aufzubauen und Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit weiter zu stärken, sondern als Dividende, die man getrost verfrühstücken kann. Doch es wäre ungerecht, allein die SPD zu kritisieren. Größere Schuld an der augenblicklichen Entwicklung trifft die CDU. Sie hat bereits vor einem Jahr die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitslose beschlossen und so die erste Bresche in die Agenda 2010 geschlagen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Sozialdemokraten durch diese Bresche marschieren würden. Man erwartet zu viel staatstragenden Masochismus von Kurt Beck, wenn dieser in Talkshows still sitzen soll, während Jürgen Rüttgers den Arbeiterführer spielt. Die SPD kann sich nicht links von der CDU überholen lassen, sonst verliert sie ihre Existenzgrundlage. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat einen schweren Fehler begangen, indem sie auf dem Dresdner CDU-Parteitag die Resolution zum Arbeitslosengeld nicht verhinderte. Ihr war der innerparteiliche Frieden wichtiger als die Reformpolitik. Man kann es Beck nicht verdenken, wenn dieser ebenfalls den Frieden mit der sozialkonservativen Basis und den Gewerkschaften in den Mittelpunkt stellt.

Eine sehr deutsche Debatte

Kurt Beck zeigt mit seiner Rolle rückwärts beim Arbeitslosengeld, dass er verstanden hat: Die Bundesrepublik ist ein egalitäres Land. Nicht so sehr wie die nordischen Nachbarn, aber doch ausgeprägter als die meisten europäischen Staaten – von den USA ganz zu schweigen. Das Steuersystem verteilt von oben nach unten um; das Gesundheitswesen hat mit seinen einkommensabhängig gestaffelten Prämien und der beitragsfreien Mitversicherung von Angehörigen eine ähnliche Wirkung. Die Gehaltsunterschiede zwischen Akademikern und Menschen ohne Hochschulstudium fallen geringer aus als in anderen Ländern. Oft genug kann keine Warnung schrill genug sein. So behauptet das Deutsche Kinderhilfswerk, seit Einführung von Hartz IV habe sich die Zahl der Kinder verdoppelt, die auf Sozialgeld angewiesen sind. Hält man sich jedoch an die Zahlen des Statistischen Bundesamtes, lässt sich ein derart dramatischer Anstieg der Kinderarmut in den vergangenen Jahren nicht nachvollziehen. Im Gegenteil: Gemäss einer im letzten Jahr erstmals für die Europäische Union vorgestellten Übersicht („Leben in Europa“) weist die Bundesrepublik gleich nach den nordischen Staaten eine vergleichsweise niedrige Armutsquote auf. Mit Statistiken lässt es sich gut jonglieren – und in der Sozialpolitik neigt die Öffentlichkeit zum Alarmismus.

In diesem Klima gedeiht eine sehr deutsche Debatte über soziale Gerechtigkeit, von der es nach Ansicht der meisten Bürger zu wenig gibt. Deshalb findet ein einheitlicher Mindestlohn auch solch eine breite Zustimmung in der Bevölkerung, obwohl er nur eine Minorität betrifft. Auch wenn Themen wie der Mindestlohn für die Mobilisierung wichtig bleiben werden, darf die SPD der Suggestion des „S-Wortes“ nicht völlig erliegen. Sie muss eine Politik für die Mitte betreiben, ob man diese nun als „neu“ definiert oder nicht. Die deutsche Gesellschaft ist breiter, als eine auf Randgruppen verengte Perspektive glauben macht. Zwar wird gerade diese Mitte von Abstiegsängsten geplagt. Aber solche Ängste lassen sich nicht kurieren, indem man das Gespenst der massenhaften Verarmung heraufbeschwört, sondern indem man der Mitte durch kluge Politik hilft, ihren Status zu erhalten.

zurück zur Person