Priorität: Geringverdiener



Die SPD will also ihre Mitglieder über den Koalitionsvertrag abstimmen lassen. Ich habe mir meine persönliche Prioritätenliste dafür schon mal zusammengestellt: Gesetzt ist der Mindestlohn – er sollte kein Stolperstein sein. Dasselbe gilt für die Einschränkung von Zeitarbeit und Werkverträgen. Auch muss dem unseligen Treiben von Subunternehmern in wichtigen Industriebranchen wie dem Baugewerbe oder der Fleischindustrie Einhalt geboten werden. Das ist das Pflichtprogramm einer Großen Koalition, dem auch die Union ohne Weiteres zustimmen sollte.

Ganz oben auf meiner Liste steht jedoch ein Punkt, den keine Partei in ihrem Wahlprogramm hat. Es geht um die Umsetzung einer Empfehlung des Europäischen Rats. Dieser hatte der Bundesregierung im Mai 2013 folgende Sätze ins Stammbuch geschrieben: „Politische Maßnahmen zur Reduzierung des hohen Steueranteils von Niedrigverdienern und zur Verbesserung der Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt haben bisher nur in geringem Umfang stattgefunden. Deutschland sollte mehr tun, um die hohen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zu reduzieren, die auf Niedriglöhne erhoben werden. Es sind weitere Anstrengungen notwendig, um den Übergang bestimmter Beschäftigungsformen, wie z. B. Minijobs, zu nachhaltigeren Beschäftigungsformen zu erleichtern und so eine Segmentierung des Arbeitsmarkts zu verhindern.“

In Deutschland wird Arbeit entweder gar nicht besteuert, wie bei den Minijobs – oder in einem Ausmaß, dass sich alle über Gebühr belastet sehen, selbst diejenigen, die ein objektiv hohes Einkommen haben. Der fatale Steuerwahlkampf der Grünen war auch deshalb ein Eigentor, weil die Belastung an Sozialversicherungen und Steuern für die allermeisten Erwerbstätigen in der Tat hoch ist und in Europa nur noch von Ländern wie Griechenland, Frankreich und Belgien übertroffen wird. Selbst schwedische Durchschnittsverdiener haben eine geringere Abgabenlast als deutsche.

Am allerstärksten jedoch werden in Deutschland die Geringverdiener belastet: Wer nur 67 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient, hat eine Abgabenlast von 47 Prozent; die Grenzbelastung der Spitzenverdiener ist in Deutschland mit 44 Prozent dagegen vergleichsweise niedrig. Dieser Umstand macht den Schritt vom Minijob zu einer regulären Vollzeitstelle so schwer. Er lohnt sich nämlich kaum.

Zehn Jahre nach den Hartz-Reformen steht fest: Der Niedriglohnsektor konnte sich auch deshalb ausbreiten, weil man die ungerechte Wirkung der Sozialversicherung nicht beseitigt hat. Niedrige Einkommen werden von Sozialversicherungsbeiträgen stärker belastet als hohe, da die Beiträge ab einem bestimmten Einkommen eingefroren werden. Weil zudem kein flächendeckender Mindestlohn existiert und Druck auf Arbeitslose ausgeübt wird, sind viele in niedrig entlohnte Arbeit gedrängt worden. Zwischen 1995 und 2010 wuchs der Anteil der Geringverdiener unter den Arbeitnehmern von 17,7 Prozent auf 23,1 Prozent. Sind sie Vollzeit beschäftigt, geht von ihrem Lohn fast die Hälfte an Abzügen drauf.

Niedrige Gehälter betreffen aber nicht nur ungelernte Arbeitnehmer. Der Anteil der qualifizierten Arbeitnehmer an den Niedriglohnbeziehern stieg von 58,5 Prozent im Jahr 1995 auf 70,8 Prozent 2007. Allmählich dringen Niedriglöhne in die Mitte des Arbeitsmarkts vor: In der Vergangenheit waren sie eher bei untypischen Beschäftigungen zu finden, mittlerweile sind sie auch bei Voll- und Teilzeitarbeit und gewöhnlichen Stellen keine Seltenheit mehr.

Die Mobilisierung von Langzeitarbeitslosen hat nur einen Teil der strukturellen Probleme des deutschen Arbeitsmarktes gelöst. Noch immer hat Deutschland unter den ungelernten Arbeitnehmern eine der höchsten Arbeitslosenraten der westlichen Welt. Dafür sitzen qualifizierte Arbeitnehmer nun in der Niedriglohnfalle.

Eine neue Bundesregierung mit einer überwältigenden Mehrheit im Parlament sollte die Abgabenstruktur auf Erwerbsarbeit zu einem grundsätzlichen Thema mit hoher Priorität machen. Denn momentan sind Steuern und Sozialabgaben ungerecht und nicht sachgemäß verteilt. Zu einem modernen Arbeitsmarkt gehört aber auch eine moderne Sozialversicherung.

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