Profil und Mitte

In vieler Hinsicht repräsentiert die SPD heute tatsächlich die Mitte der deutschen Gesellschaft - doch genau das bringt ihr neue Probleme ein. Warum es so schwergeworden ist, den Sozialdemokraten gute Ratschläge zu geben

Es hat sich ausgemittet in der SPD. Seit Ende Mai etwa ist wieder Richtungs- und auch ein bisschen Sozialkampf angezeigt. Von langer Hand geplant war das nicht. Die Leute von der Kampa hatten sich auf einen schönen, kontinuierlichen, stringenten, stufenweise erfolgreichen Mittewerbefeldzug eingestellt. Das schien plausibel. Wer im Zentrum der Gesellschaft steht, wer die Mitte des parlamentarischen Systems okkupiert, der hat den ersten Zugriff auf politische Dominanz und gouvernementale Macht. Historisch war die SPD nur selten in der Mitte von Gesellschaft und Politik zu finden. Gerade deswegen hat sie das Land in ihrer 139-jährigen Geschichte bemerkenswert selten regiert. Darum hat sie viele bittere Niederlagen erlitten, schmerzhafte Verfolgungen, ja enormes Leid erfahren. So gesehen war es in historischer Perspektive politisch keineswegs unklug, der Mitte geradlinig zuzustreben.


Auch soziologisch sprach ja einiges dafür. Denn tatsächlich ist das Gros der sozialdemokratischen Anhänger mittlerweile in der Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft angekommen. Viele Kinder der sozialdemokratischen Facharbeiterelite sind in den vergangenen drei Jahrzehnten sozial aufgestiegen, haben akademische Abschlüsse und auskömmliche Berufe in den mittleren Etagen der Erwerbswelt ergattert. Auch gehören die meisten der sozialdemokratischen Wähler, Funktionäre und Mitglieder den mittleren Jahrgängen an. Und kulturell stehen die sozialdemokratischen Sympathisanten und Aktivisten ebenfalls irgendwie in der Mitte zwischen Egerländern und Rap, zwischen Adenauer-Kleinbürgertum und guidohafter Spaßigkeit. Insofern war das Mitte-Paradigma der sozialdemokratischen Kampanisten ein durchaus schlüssiger Reflex auf Soziologie und Kultur sozialdemokratischer Lebenswelten zu Beginn des 21. Jahrhundert.


Aber als politische Generalmaxime war der Mitte-Kurs doch nicht unproblematisch. Je mittiger die politischen Maximen gerieten, desto stärker fühlte sich nämlich ein stattlicher Anteil sozialdemokratischer Anhänger an den Rand gedrängt. Je mehr man durch die politische Mittigkeit die Optionen bei der Koalitionsbildung erhöhen wollte, desto rasanter schwanden im ersten Halbjahr 2002 die tatsächlichen Optionen dahin - weil die Partei in diesen Monaten immer mehr aktive Zustimmung und, vor allem, Mobilisierungsfähigkeit und damit letztlich auch koalitionsbildende Größe einbüßte.

Wohin geht die Reise eigentlich?

Mitte-Parteien dürfen keine scharfen programmatischen Ecken und Kanten haben. Sie sollen schließlich möglichst viele Wähler anziehen und nur wenige abstoßen. So aber verflacht ihr Profil. Ihre Aussagen werden vage, ungefähr, schwammig, verlieren an Kontur, Eindeutigkeit, Konsistenz und markanter Zielorientierung. Wer hier mit den Freien Demokraten, dort mit der PDS, woanders mit der christlichen Union und im Übrigen mit den Grünen koaliert, kann sich eine präzise Zielrichtung gar nicht leisten. Bloß: Dann ist es auch gar nicht leicht, bei Bedarf und auf Knopfdruck wieder Richtungspartei zu werden, um die Anhänger doch noch in den Kampf um die Wähler zu schicken.


Eben das aber benötigen Parteien mindestens im Wahljahr: einige Tausendschaften ehrenamtlicher Kämpfer, die in ihren jeweiligen Lebensbereichen bekannte und anerkannte Meinungsmacher, Multiplikatoren, gleichsam kommunikative Menschenfischer sind. Wenn genau dieser Typus des Aktivisten unsicher, schweigend, passiv beiseite steht - weil er nicht recht weiß, wofür er werben soll, wohin die Reise geht, wer bei all den nahezu unbegrenzten Koalitionsoptio-nen eigentlich noch der Gegner und was der Konfliktstoff ist, wie die kraftvolle politische Aussage eigentlich lautet, warum sich dafür der Einsatz, die Überzeugungsarbeit, der Freizeitverzicht lohnt -, dann haben Parteien ein Problem, das sich durch noch so zentralisierte und professionalisierte Marketing- und Medienexperten nicht wettmachen lässt. Dann tummeln sich die Mitglieder solcher Parteien trotz aller Mitte-Slogans ihrer Führungsspitzen eben nicht vital und elanvoll in der Mitte der Gesellschaft, sondern schauen verunsichert, kleinmütig und verzagt von außen zu. Das gilt übrigens selbst für amerikanische Wahlkämpfe. Und das gilt erst recht für die Wahlkampfkultur in Europa, in Deutschland durchaus voran. Exakt das bekam die SPD fulminant im ersten Halbjahr 2002 zu spüren, obgleich kluge Leute längst eindringlich auf das Mobilisierungsproblem hingewiesen hatten. Doch erst mit dem Parteitag im Juni entmittete sich die SPD gleichsam in einem rhetorischen Verzweiflungsakt.

In den Souterrains hält man von Mitte nichts

Verrückterweise büßen oft gerade Mitteparteien ohne feste programmatische Substanz ihren Charakter als Groß- und Volksparteien ein. Denn sie verlieren an innerer Kraft, an Verve, Enthusiasmus und Spannung - was aber alles nötig ist, um nach außen anziehend zu wirken, um kluge und ehrgeizige Köpfe zu gewinnen, auch um Kraft- und Führungsnaturen zu rekrutieren und sie irgendwann einmal an die Spitze von Partei und Politik zu hieven. Entkräftete und ermattete Mitteparteien sind Mitte eigentlich nur in ihrer Semantik, nicht aber kraft wirklicher Erdung und Repräsentanz in den elementaren Lebensbereichen der Gesellschaft. Daher reagiert die Gesellschaft zunehmend gleichgültig auf die phantasielosen, übervorsichtigen, politisch entleerten Mitteparteien, empört sich allenfalls zuweilen über Verfilzung, Kartelle, gar Korruption. Politische Orientierungen, sinnstiftende Deutungen, konzeptionellen Weitblick - das alles traut ein wachsender Teil der Gesellschaft den Mitte-Parteien jedenfalls nicht mehr zu.


Für die Sozialdemokratie kommt erschwerend hinzu, dass gerade der ebenfalls durchaus wachsende Teil des Neuen Unten sich durch die allgegenwärtige Mitte-Attitüde an den Rand gedrängt und weggestellt fühlt. Die sozialdemokratischen Aktivisten und Anhänger sind, nochmals, in der Tat kulturell und habituell Mitte - gerade dadurch aber weit von den Lebenswelten und Ansprüchen der Menschen aus den sozialen Souterrains entfernt. Und der schwammige Mitte-Duktus, mit dem im Grunde nur das, was gerade ist, als einzig möglich und deshalb verteidigungswert ausgegeben wird, stößt im sozial abgehängten Restproletariat ebenfalls bloß auf Ablehnung, ja geradezu auf Verachtung. Genau das bildet bekanntermaßen europaweit den Humus für die populistischen Parteien aller Lager, da diese im Vokabular und Personal nicht bräsig-mittig und übervorsichtig auftreten, sondern schrill und farbig, pointiert und zugespitzt - ganz ohne Wenn und Aber.

Wie könnte die große Botschaft aussehen?

Insofern möchte man gerade Sozialdemokraten davon abraten, es mit der Mitte-Rhetorik und der Mitte-Politik zu übertreiben. Und der Verfasser dieses Beitrages hat das in den vergangenen Monaten auch häufig getan, in Artikeln, Ansprachen, Essays, auch in einem Buch zur Geschichte der SPD. Statt dessen mahnte er bei den Anführern der Sozialdemokratie die "zündende Botschaft" an, fragte nach der "politisch-normativen Grundmelodie" der Regierungspolitik, redete auch gern von "Wegmarken", vom "Kompass" und von "Zielperspektiven". Manchmal aber, in ganz selbstkritischen Augenblicken, war er doch froh, dass niemand präzise Auskünfte von ihm haben wollte, wie denn so eine große Botschaft der Sozialdemokratie noch würde aussehen können, worin denn wohl - wenigstens dies - die strategischen Fluchtpunkte sozialdemokratischer Politik für die nächsten zehn Jahre bestehen könnten.

Denn natürlich ist die neue sozialdemokratische Erzählung leichter postuliert als formuliert - auch vom neosozialdemokratischen Meisterdenker der Republik, Heinz Bude, kennen wir schließlich nur kryptische Meta-phern. Natürlich fehlen für die großen integrierenden und mobilisierenden Botschaften die ebenso großen kollektiven Lagen, Klassen und Konflikterfahrungen, die überhaupt erst den Urstoff bilden für politische Solidargemeinschaften, für politische Begeisterung und politische Zukunftsvisionen. Auch existieren ja in der Tat - und Gott sei Dank - die grabentiefen Gegensätze zwischen den Großparteien, die polarisierenden Kontraste nicht mehr, welche die jeweiligen Anhänger einst scharf voneinander trennten und zu tief gläubigen, von ihrer großen Sache unumstößlich überzeugten Parteisoldaten machten. Früher gab es diesen Menschenschlag in der Politik, gerade in Deutschland - und ganz besonders in der Sozialdemokratie. Aber rundum sympathisch war dieser Typus nicht. Und es ging bekanntermaßen nicht immer nur Glück und Segen von ihm aus.


Dagegen war eine Politik, die auf Maß, Mitte, Mäßigung und Ausgleich setzte, nicht schlecht für die deutsche Politik nach 1945, nachdem die erbitterten Glaubenskriege der Parteien in den Jahrzehnten zuvor jeden ruhigen, besonnenen, gar republikanischen gesellschaftlichen Konsens schon im Ansatz zerstört hatten. Politik der Mitte - das war für die Sattelzeit der bundesdeutschen Gesellschaft daher nicht primär eine Losung veränderungs- und experimentierängstlicher Spießer, sondern die erfahrungsgesättigte historische Konsequenz aus den europäischen Bürgerkriegen und den Pathologien der Extreme während der ersten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. In der Tat: In der ersten deutschen Republik, also jener von Weimar, war die politische Mitte nicht vorhanden, die das parlamentarische System hätte fundieren, die auch Bürgertum und Arbeiterschaft hätte friedfertig verklammern müssen.

Als die Mitte plötzlich rechts war

Die soziologische Mitte der Weimarer Gesellschaft aber bewegte sich seit den frühen zwanziger Jahren immer weiter nach rechts. Dass die soziale Mitte rechts war, am Ende sogar rechtsextrem, dass sie also keine Brücken baute, keine Gegensätze milderte, keine Spannungen dämpfte, sondern die politischen und sozialen Auseinandersetzungen schürte und verschärfte - genau das begründete das Scheitern der Republik von Weimar. Die soziale Mitte einer Gesellschaft muss keineswegs auch politisch in der Mitte angesiedelt sein - weshalb auch Sozialdemokraten post festum heilfroh darüber sein kann, dass sich nach 1945 die christliche Union bildete, die eben nicht einfach konservativ sein wollte, sondern als ganz neuartige Integrationspartei der Konfessionen und des Bürgertums die heterogenen Schichten ihres Lagers immer in der politischen Mitte bündelte und damit ein Gravitationszentrum konstituierte, das die neue Republik stabil trug.


Die Sozialdemokraten übernahmen dagegen schnell wieder den Part der Linkspartei, die den Ort der Mitte scheute. Besonders nach Wahlniederlagen zogen sich die Sozialdemokraten geradezu reflexhaft in ihre gesellschaftlichen Eckpositionen zurück, in ihre separierte Eigenkultur, ihre abgeschottete Nische, um dort besserwisserisch zu schmollen und attentistisch auf das Nahen der sozialistischen Gesellschaft zu vertrauen. So aber blieb die Sozialdemokratie in der frühen Bundesrepublik ähnlich ohnmächtig, wie sie es in den 100 Jahren davor gewesen war. Sie igelten sich ein, waren isoliert, gesellschaftlich und politisch einsam, ohne Zugang zum Zentrum, zum Herz, zu den Kommandohöhen der Politik.

Dabei besaßen die Sozialdemokraten gewiss all das, was ihnen in ihrer Binnenwelt Zuversicht, Identität und Durchhaltewillen gab. Sie hatten ein geschlossenes Programm und eine exklusive Kultur, ein spezifisches Ritualsystem und eine Hoffnung spendende Zukunftsidee, sie hatten mithin noch das ganze Pathos der sozialistischen Vision. Aber über Macht verfügten sie eben nicht. Die SPD war eine bemerkenswert stabile und organisationsstarke Partei, aber sie prägte die Politik nicht, erst recht nicht die Ökonomie. Die Sozialdemokraten waren dadurch fast ein ganzes Jahrhundert lang Objekt, Getriebene, Resonanzboden, oft genug Opfer von politischen Entscheidungen und Prozessen, die andere getroffen und gesteuert hatten.

Wer Mitte ist, kann nicht mehr prägen ...

Angesichts dieses historischen Vorlaufs, angesichts der langen Ohnmacht der deutschen Sozialdemokratie war der Abschied von der linken, aber vereinsamenden Gesinnungsstärke und der Auszug in das Land der Mitte und auf das Territorium der Machtzentralen verständlich, ja dringend geboten. Dieser Abschied war die Entscheidung dafür, nicht allein auf politische Vorgaben anderer zu reagieren, sondern selber aus dem Zentrum der Gesellschaft zu agieren, realen Einfluss zu nehmen, die Nation zu führen. Das war der Ausgangsort der Mitte-Politik. Doch kein noch so erfolgreicher Schritt dieser Politik der Mitte - Abkehr von der ideologischen Enge, Öffnung für neue Schichten, neue Geisteshaltungen, neue Interessen und schließlich die Vielfalt der Optionen in der Koalitionspolitik - führt zum erklärten Ziel: Gesellschaft zu prägen. Denn Mitte-Politik schleift die klaren Maßstäbe, die festen Orientierungspunkte, die unzweideutigen Wertvorstellungen, das zielgenaue Projekt - und muss genau das sogar tun. So erlebten die Sozialdemokraten eine merkwürdige Dialektik. Als Linkspartei hatten die Sozialdemokraten die festen Maßstäbe, aber nicht die Mehrheiten gehabt, um das Land politisch zu formen - als Mittepartei wiederum besaß die SPD zuweilen zwar die Mehrheiten, aber nicht mehr die fest umrissenen Maßstäbe, um das Land zu prägen.

... aber links wartet nur die Isolation

Was also ist den Sozialdemokraten zu raten? Eine Rückkehr zur Linkspartei führt allein zur neuerlichen Isolierung der SPD. Die stete Weiterentwicklung der Mitte-Politik hingegen befördert die weitere Diffusion, Entkernung, ja Entleerung des genuin Politischen. Zwar steht die Renaissance der Linkspartei außerhalb einiger Resttruppen sentimentaler Traditionalisten sowieso nicht ernsthaft zur Debatte. Dagegen wird die Mitte-Politik auch künftig als einzig denkbare Realpolitik gelten. Wie soll man dann aber Mitte-Politik vor ihrer immanenten Gefahr, der politischen Entleerung schützen? Vielleicht doch durch einen Zusatz (maßvoller) Renormativierung der innerparteilichen Debatte? Mit dem Ziel einer Mitte in roter Farbe, einer Mitte mit rotem Faden, einer Mitte in der Abendröte sozialistischer Restvisionen?


Es spricht einiges dafür, daß es nach dem 22. September ein bisschen in diese Richtung gehen wird. In der dann wahrscheinlich wieder etwas lebendigeren Diskussion wird man selbstkritisch feststellen, dass sich die Partei in den letzten Jahren vielleicht doch zu weit von der Identität einer Programmpartei gelöst hat. Man wird wieder mehr Richtungsorientierung einfordern, nach einem schärferen Profil sozialdemokratischer Politik verlangen, auch eine entschiedene Abgrenzung vom politischen Gegner erwarten. Und dergleichen mehr. Wahrscheinlich wird auch unter den Nachwuchspolitikern der Nach-Schröder-Generation derjenige am weitesten nach vorn rücken, der auf dieser Klaviatur am besten spielen kann, der also am überzeugendsten verspricht, den ganz unverzichtbaren Pragmatismus mit einer wünschenswerten Portion Idealismus anzureichern, sich also als Leitwolf einer moderaten Reprogrammatisierung der SPD in Szene zu setzen vermag. So könnte es kommen. Und der Verfasser dieses Beitrages müsste darüber dann sehr glücklich sein, denn er hat sich das in den vergangenen zwei bis drei Jahren häufig genug herbeigewünscht; gerade bei den Sozialdemokraten hat er in vielen publizistischen Interventionen ein Mehr an Zuspitzung, Schärfe, Kontur angemahnt.

Gewählt wird immer irgendwo in Deutschland

Und zumindest für einen Wirklichkeitsbereich bundesdeutscher Politik war das ja auch ganz richtig: für die Wahlkampfarena. Wahrscheinlich in keinem anderen Land wird so viel Parteienwettbewerb getrieben wie in Deutschland. Hier gibt es nicht nur die Bundestagswahlen, sondern noch 16 Landtagswahlen, alle fünf Jahre auch die Europawahlen, schließlich noch Kommunalwahlen. In den Wahlmonaten sind Medien und Politik hoch erregt, sie fragen nach den bundespolitischen Wirkungen der jeweiligen Wahlresultate. Insofern befindet sich die Bundesrepublik chronisch im Wahlkampf. In Wahlkampfzeiten aber müssen Parteien auf Unterscheidbarkeit achten, müssen den Gegner anprangern und herabsetzen, müssen sich des ganzen Arsenals der Konfliktrhetorik bedienen. Allein so lassen sich die eigenen Aktivisten und Anhänger motivieren und in Bewegung setzen.


Doch im anderen zentralen Wirklichkeitsbereich der Politik sind all diese Praktiken denkbar kontraproduktiv: auf der gouvernementalen Entscheidungsebene. Hier sind Konsens, Kompromiss und Kooperation gefragt, in Deutschland mehr noch als anderswo auf dieser Welt. Das ist schon eine höchst irritierende Paradoxie. In Deutschland gibt es eine ganz ungewöhnliche Dauerwahlkampfsituation. Aber es existiert in diesem Land zugleich ein ungeheurer Zwang zum Arrangement. So sind auf den beiden konstitutiven Ebenen des Politischen in Deutschland völlig verschiedene, ja schroff gegensätzliche Eigenschaften erforderlich: auf der einen Seite die Fähigkeit zur Konfrontation, auf der anderen Seite die Fertigkeit der Kooperation.


Mit scharf geschnittenen Konzepten, zielklaren Orientierungen jedenfalls, mit all dem also, was Parteien brauchen, wenn sie kohäsiv, selbstbewusst und vital agieren wollen, kommt man als Regierung nicht sehr weit - zumindest nicht in einer kleinen Koalition. In keinem anderen Land der Welt ist das machtpolitische Instrumentarium für eine Zentralregierung so begrenzt wie in Deutschland. Es wimmelt hier von institutionell begünstigten Vetomächten. Zudem sind Bund und Länder eng verflochten. Und so braucht die Bundestagsmehrheit bei nahezu allen entscheidenden Gesetzen die Mitarbeit und Zustimmung der Bundesratsmajorität. Die Mehrheiten in den beiden Gesetzgebungskammern sind mittlerweile aber überwiegend nicht identisch. Also müssen die Bundesregierung und die große Oppositionspartei kooperieren - die strukturell in der bundesdeutschen Gesellschaft so mächtig ist wie in keinem anderen politischen System, und das nicht nur über den Bundesrat, sondern auch durch ihren Einfluss in anderen öffentlichen Einrichtungen und halböffentlichen korporatistischen Strukturen. Die großen Parteien dürfen also (auf der politischen Entscheidungsebene im Gegensatz zur Arena des Wahlkampfes) ihre charakteristischen Identitätskerne nicht zu sehr heraus- und gegeneinanderstellen. Mehr noch: Es gibt im Prinzip den systemstrukturellen Druck zur - mindestens informellen - Großen Koali-tion. Wo diese in den neunziger Jahren zustande kam (Pflegeversicherung, Bahn- und Postreform, Korrektur der Außenpolitik) war der Output exekutiver Steuerung beachtlich, wo sie sich nicht zusammenfügte, herrschte überwiegend Blockade und Stagnation.

Reformen nur mit der Großen Koalition?

Es könnte sich deshalb als sinnvoll erweisen, auch den nächsten Schritt zu gehen und von der nur partiellen, fast versteckt und schamhaft eingegangen informellen Großen Koalition zur formellen Allianz der beiden Volksparteien zu wechseln. In gewisser Weise wäre das die innere Konsequenz aus den systemstrukturellen Imperativen der hoch fragmentierten bundesrepublikanischen Ordnung. Jedenfalls hätte es nichts mit obrigkeitsstaatlichen Harmonievorstellungen oder autoritären Dispositionen zu tun. Große Koalitionen können die Reformen durchsetzen, zu denen kleine Koalitionen vom Machtpotential her gar nicht in der Lage sind. Und das könnte vielleicht die Politik- und Parteienverdrossenheit vieler Bürger eindämmen, die in jüngerer Zeit oft den Eindruck hatten, dass die Ergebnisse der Politik einfach zu gering ausfallen, dass Lösungen zahlreicher drängender Probleme nicht zustande kamen, weil sich die beiden Großparteien angesichts der permanenten bundesdeutschen Wahlkampfsituation in einem rhetorisch und taktisch zähen Stellungskrieg gegenüberstanden und sich schließlich gegenseitig blockierten.


Doch zögert man auch hier wieder. Der SPD bedenkenlos den großkoalitionären Schritt anzuraten - das stünde schließlich im Widerspruch zur anfänglich formulierten Empfehlung, die Partei erneut stärker zu konturieren, ihr eine deutlichere Richtung zu geben. In einer Großen Koalition wäre ein Zuviel an politischer Programmatik und normativem Überschuss in der Tat nur störend und ineffizient. In einer solchen Koalition wäre der Sinn- und Botschaftverlust der Großparteien, so gesehen, überhaupt kein Schaden.

Output schützt vor Abwahl nicht

Dennoch: Irgendwie erwarten eben weiterhin nicht wenige Menschen von Politikern und Parteien, dass sie - auch durch gegenseitige Abgrenzung - Orientierung schaffen, dass sie ihre jeweilige Zielpunkte scharf markieren, dass sie Bilder von der Zukunft entwerfen, dass sie Alternativen präsentieren und repräsentieren. All das scheint in einer Großen Koalition schwer zu machen, in der die beiden Volksparteien den Konsens und nicht die Differenz finden müssen. Überdies: Eine noch so effiziente Outputpolitik in der Regierung muss vor Verdrossenheit und Abwahl nicht schützen, wie gerade die kooperationsdemokratisch verfassten Länder Österreich, Dänemark, die Niederlande zuletzt demonstriert haben. Die ökonomische und arbeitsmarktpolitische Bilanz der breitkoalitionär zusammengesetzten und sozialdemokratisch geführten Regierungen dort war keineswegs schlecht - doch der Verdruss an den entleerten "Kartellen der Macht" war größer.


Und so stößt man an allen Ecken und Enden der eigenen politikberatenden Publizistik auf Aporien. Es wird noch eine Menge schwieriger Diskussionen geben müssen über die Zukunftslinien sozialdemokratischer Politik. Nach dem 22. September wird diese Debatte losgehen, vermutlich sogar recht heftig und scharf. Das muss kein Schaden sein. Denn in den letzten Jahren war die SPD zweifellos zu still, zu sehr auf ihren ersten Mann im Kanzleramt fixiert.

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