Progressive aller Parteien, vereinigt euch!
Tobias Dürr, der Chefredakteur der Berliner Republik, hat in einer hellsichtigen Auswertung der letzten Bundestagswahl für die Neue Zürcher Zeitung die Erosion des bipolaren Parteiensystems in Deutschland beschrieben. Der Wunsch, die neue politische Vielfalt wieder auf zwei antagonistische Lager zu reduzieren, mag aus sozialdemokratischer Perspektive verständlich sein – er würde die SPD zum Zentrum einer Regierungsalternative machen, mit Grünen und Linkspartei als „natürliche Verbündete“. Insbesondere die Idee, die Grünen wieder fest an die SPD zu binden und ihnen lagerübergreifende Koalitionen zu versperren, mag für Sozialdemokraten verführerisch sein. Realistisch ist sie deshalb noch lange nicht. Nicht nur, weil die Grünen längst aus ihrer Juniorpartnerrolle gegenüber der SPD hinausgewachsen sind. Nein, der Kern des Problems liegt darin, dass sich weder die reale gesellschaftliche, kulturelle, politische Vielfalt länger in das Prokrustesbett einer bipolaren Parteienlandschaft zwängen lässt, noch die anstehenden großen Herausforderungen in das alte Links-rechts-Schema passen. Da hilft es auch nicht weiter, „links“ durch ein neues, schillerndes und weniger polarisierendes Wieselwort wie „progressiv“ zu ersetzen, jedenfalls solange es als neue Lagerdefinition gebraucht wird.
Wie ließe sich „progressiv“ heute sinnvoll definieren, wenn man diese Bezeichnung probeweise als parteiübergreifenden Sammelbegriff nimmt? „Fortschrittlich“ sein heißt, nicht den Status quo zu verteidigen, sondern an einer besseren Zukunft zu bauen. Aber was bedeutet „besser“? Nehmen wir einen großen Maßstab, dann fallen darunter: eine umweltverträgliche Produktions- und Lebensweise, die nicht die Lebensgrundlagen künftiger Generationen zugunsten des Wohlstands der heutigen ruiniert; eine inklusive Gesellschaft, die allen Menschen nicht nur das soziokulturelle Minimum, sondern Chancen auf Selbstbestimmung und sozialen Aufstieg bietet; eine demokratische, auf aktive Bürgerschaft gegründete politische Kultur, die auch Minderheiten zu ihrem Recht kommen lässt; und eine kooperative Weltordnung, die auf friedliche Konfliktlösung und faire Teilhabe zielt. Zu weit gefasst? Dann ziehen wir die Kriterien etwas enger: Progressiv ist heute, wer die ökologische Transformation der Industriegesellschaft und den großen Sprung in die Epoche der erneuerbaren Energien vorantreibt; gegen die Schuldenmacherei zulasten künftiger Generationen auf einer nachhaltigen Finanzpolitik besteht; gleiche Bildungschancen für alle vertritt; sich für die Gleichberechtigung von Einwanderern einsetzt; für die universelle Geltung von Menschenrechten und für faire Regeln im Welthandel streitet. Und progressiv ist, wer in Steuern, die nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit erhoben werden, eine notwendige Finanzierungsgrundlage für das Gemeinwohl statt einen Anschlag auf den freien Bürger sieht – jedenfalls solange damit nicht die eigenständige Lebensführung der Bürger untergraben und eine allseitige Abhängigkeit vom Staat erzeugt wird.
Selbst in FDP und Linkspartei finden sich Zukunftsgewandte
Folgt man cum grano salis dieser Beschreibung, stößt man schnell darauf, dass es in allen Parteien und quer zum Parteienspektrum „progressive“ Kräfte und Strömungen gibt, wenn auch in unterschiedlichen Mehrheits- und Mischungsverhältnissen. Das gilt selbst für die beiden Flügelparteien, FDP und Linkspartei, bei denen Antistaatlichkeit und Staatsseligkeit, Marktgläubigkeit und Marktfeindlichkeit komplementäre Ideologien bilden. Auch bei der FDP gibt es Sozial- und Bürgerrechtsliberale, wie sich in der Linkspartei Leute finden, die sich ernsthaft auf Demokratie und Marktwirtschaft eingelassen haben. Die CDU pauschal als rückwärtsgewandte Vereinigung abzustempeln, dürfte nicht einmal Sigmar Gabriel gelingen.
Umgekehrt gilt für die SPD, dass sie keineswegs mit Haut und Haaren als „progressive“ Reformpartei durchgeht. Dafür gibt es in ihr zu viele linkskonservative Tendenzen, zu viel Verharren im industriellen Status quo, zu starke Neigungen, alle Probleme durch kreditfinanzierte Staatsausgaben lösen zu wollen und zu viel Problemverdrängung, wenn es darum geht, den Sozialstaat demografie- und globalisierungsfest zu machen. Und je mehr die Führung der SPD glaubt, den Vampirismus der Linkspartei bannen zu können, indem sie sich ihr politisch annähert, desto weniger zukunfts- und regierungsfähig wird die Partei. Was folgt daraus? Das Beiwort „progressiv“ markiert so wenig eine scharfe Trennlinie im Parteiensystem wie eine Demarkationslinie für Koalitionsbildungen. Im Prinzip sind alle mit allen koalitionsfähig, abhängig von der konkreten politischen Konstellation und den erzielbaren inhaltlichen Übereinstimmungen. Genau so verfährt die SPD ja auch seit Jahr und Tag – nach allen Seiten offen. Das hat ihr nicht geschadet, solange klar war, wofür sie stand. Erst als der „Markenkern“ sozialdemokratischer Politik unkenntlich wurde, verfiel sie dem Verdikt der Beliebigkeit.
Der ökologische Umbau braucht Pioniere in allen Milieus
Erst recht gilt für die Kräfteverteilung in der Gesellschaft, dass sich die Zukunftsgewandten nicht nach Klassenzugehörigkeit verteilen. Sie sind in der Facharbeiterschaft ebenso zu finden wie bei den weißen Kragen, in der technischen Intelligenz wie bei den Kulturproduzenten, unter den neuen Selbständigen wie im modernen Management. Besonders vor dem Hintergrund der zentralen Herausforderung für die Industriegesellschaften – der Vermeidung einer globalen Klimakatastrophe und eines darwinistischen Kampfes aller um die knapper werdenden natürlichen Ressourcen – kommt es darauf an, eine klassenübergreifende Allianz für ökologische Reformen zu bilden. Wer davon träumt, die Klimafrage als Jungbrunnen für den Sozialismus nutzen zu können, blockiert die notwendigen Veränderungen. Die ökologische Transformation erfordert Zusammenarbeit über die traditionellen sozialen und politischen Lager hinweg. Sie braucht Vorkämpfer und Pioniere in allen Milieus, die gemeinsame Sache machen müssen. Welche koalitionspolitische Formation letztlich diesen Umbau vorantreibt, ist nicht ein für allemal zu entscheiden. «