Regierungsversagen, Staatsversagen und die Krise der Demokratie
Regierungsversagen kann, wenn es nur lange genug andauert, zu Staatsversagen werden; das institutionelle Gefüge des Staates wird dann durch permanente Fehlleistungen oder notorisches Nichthandeln der politischen Führung schwerwiegend in Mitleidenschaft gezogen. Der große Vorzug der Demokratie gegenüber anderen Verfassungsformen besteht darin, dass eine solche Steigerung von Regierungs- zu Staatsversagen durch den Austausch von Regierung und Opposition verhindert werden kann. Die an die Macht gelangte bisherige Opposition kann nunmehr zeigen, dass sie es besser kann. Die Demokratie, so könnte man sagen, ist – auch – eine institutionelle Vorkehrung dagegen, dass sich Regierungsversagen zu Staatsversagen auswächst. Vermittels regelmäßig wiederkehrender Wahlen hat das Volk die Möglichkeit, der versagenden Regierung die Macht zu entziehen und sie der bisherigen Opposition zu übertragen. Aber wenn diese nach dem Machtwechsel nicht besser agiert, wird aus fortgesetztem Regierungsversagen nicht nur Staatsversagen, sondern das Ganze wächst sich dann zu einer Krise der Demokratie aus. Diese Krise der Demokratie findet ihren Ausdruck im vernehmlich bekundeten Zweifel der Wahlbevölkerung daran, dass die politische Klasse – Regierung und Opposition – überhaupt noch in der Lage ist, die ihr obliegenden Aufgaben zu lösen. Regierung und Opposition werden zu „die da oben“ amalgamiert.
Nun muss eine solche Eskalation der Versagenswahrnehmung nicht unbedingt von einem Ungenügen der Regierung beziehungsweise der gesamten politischen Klasse ausgehen, sondern kann auch das Ergebnis notorisch überzogener Erwartungen der Bevölkerung an die Politik sein. Sie erwartet vom Staat etwas, das dieser aus strukturellen Gründen – und nicht etwa aus der persönlichen Unzulänglichkeit von Regierungsmitgliedern – nicht leisten kann. Das ist eine besonders heikle Situation, weil Regierungsversagen sich hier mit rasender Geschwindigkeit zu Staatsversagen und einer Krise der Demokratie steigert. Ein Vorbote dessen ist, was man mit wechselnder Akzentsetzung Politikverdrossenheit nennt. In ihr kommt zum Ausdruck, dass man der politischen Klasse eigentlich nicht mehr zutraut, was man gleichzeitig von ihr nach wie vor erwartet. Was als Politikverdrossenheit bezeichnet wird, ist ein Hilferuf, der ungehört verhallt.
Indikatoren dafür, dass wir uns in einer solchen Situation befinden, sind so unterschiedliche Vorkommnisse wie die Causa Sarrazin oder die Proteste gegen das Bauvorhaben der Deutschen Bahn in Stuttgart: Die breite Zustimmung, die Thilo Sarrazins Thesen in der Bevölkerung gefunden haben, wiewohl sich alle im Bundestag vertretenen Parteien mit unterschiedlicher Intensität davon distanziert haben, ist Symptom eines tiefliegenden Unbehagens an der Politik. Und die massive Protestbewegung, die in Stuttgart trotz jahrzehntelanger Planungen mit entsprechenden Einspruchs- und Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger entstanden ist, ist Ausdruck dessen, dass die Juridifizierung bürgerschaftlicher Partizipation, wie sie in Deutschland seit den späten siebziger Jahren betrieben wurde, in eine politische Sackgasse geführt hat. Mit Blick auf die Schlagwörter Regierungsversagen, Staatsversagen und Krise der Demokratie muss man darüber ebenso nachdenken wie über die Folgen der Globalisierung oder die Macht transnational agierender Großspekulanten oder die Verwandlung des Staates aus dem Inhaber des Monopols kollektiv bindender Entscheidungen in einen Verhandlungs- und Kooperationspartner gesellschaftlicher Gruppen und wirtschaftlicher Akteure, welche die Politik vor sich hertreiben wie motorisierte Cowboys eine Rinderherde. Es ist also eine multifaktorielle Entwicklung, die zu der zunächst schleichenden, sich inzwischen aber mit großer Geschwindigkeit zuspitzenden Krise geführt hat, und man beraubt sich selbst der Handlungsfähigkeit, wenn man sich in der zeitweilig komfortablen Rolle der Opposition nur auf eines dieser Ursachenbündel konzentriert und hofft, durch dessen Bearbeitung die Krise als Ganze bewältigen zu können. Ich will diese Krise nachfolgend anhand von einigen Beobachtungen analysieren, um abschließend einen Vorschlag zu machen, wie man darauf reagieren kann, wenn man politische Handlungsfähigkeit zurückgewinnen will. Dabei lassen sich die Faktoren, die zu Staatsversagen und Demokratiekrise geführt haben, in solche struktureller Art und solche politisch-operativen Fehlagierens unterteilen. Diese Unterscheidung ist freilich eher vage, da beides zumeist ineinander spielt und mit der jeweiligen Charakterisierung bloß Hauptgewichte herausgestellt werden.
Der Nutzen von Grenzen
Es war die Freude über das Ende der Teilung Europas, der Teilung Deutschlands, der Teilung Berlins, die dazu geführt hat, dass man den Nutzen von Grenzen gering veranschlagt und einem sich beschleunigenden Prozess der Entgrenzung und Grenzüberschreitung das Wort geredet hat. Der Nutzen von Grenzen geriet angesichts deren Kosten aus dem Blick, ebenso wie der Umstand, dass es einige politische und ökonomische Akteure gab, die von der Entgrenzung der Räume massiv profitierten, während andere dadurch an Handlungsfähigkeit einbüßten. Wo Grenzen fortbestanden, wurde dies als vorläufig und provisorisch apostrophiert, als Konzession an die gegenwärtige Lage, mit deren erhoffter Veränderung auch die verbliebenen Grenzziehungen überflüssig würden. Der Universalisierungsimperativ der Moral- und Sozialphilosophie, der Antworten unter Vorbehalt stellte, die an der Bevorzugung der qua Grenzziehung Inkludierten festhielten, bildete den intellektuellen Flankenschutz dieser Entwicklung. So wurde alles Begrenzte als bloß Partikulares pejorisiert, das heißt auf einer normativ niederen Ebene verortet. Wer Grenzen zog, stand unter Rechtfertigungsdruck; wer Grenzen durchlöcherte und niederriss, war dagegen auf der richtigen Seite. Erst als die hochgesteckten Erwartungen verflogen waren, wurde klar, dass die Handlungsmacht der Politik an Grenzziehungen gebunden ist, dass Entgrenzung also auf eine Entmächtigung der Politik hinausläuft. Das muss nicht eo ipso von Übel sein, denn bekanntlich können politische Eingriffe auch negative bis destruktive Effekte haben. Dass in den letzten Jahren jedoch die Steuerungs- und Handlungsfähigkeit des Staates reduziert, gleichzeitig jedoch die an den Staat adressierten Erwartungen aufrechterhalten, wenn nicht gesteigert wurden, erwies sich bald als ein grundlegendes Problem der Politik. Nennen wir dies die sich immer weiter öffnende Schere zwischen schwindender Steuerungsfähigkeit des Staates und steigenden Leistungserwartungen der Bürger.
Dass die Erwartungen an die Handlungsfähigkeit der Politik weiter anstiegen, anstatt mit der schwindenden Steuerungsfähigkeit des Staates zu sinken, war und ist – auch – die Folge einer Veränderung der kognitiven Dispositionen und moralischen Mentalitäten, die man zusammenfassend als eine Umstellung der Ereignis- und Prozessbeschreibung von Unglück auf Ungerechtigkeit bezeichnen kann. Was früher als Zusammenspiel von Unverfügbarem und Kontingentem begriffen worden ist, wird immer mehr als Ergebnis menschlichen Handelns oder Nichthandelns dechiffriert, wofür Verantwortliche benennbar und Veränderungen mit dem Ziel von mehr Gerechtigkeit vorzunehmen sind. An die Stelle von Zufall, Schicksal oder Gott ist politische Verantwortlichkeit getreten, von Krankheiten bis zu Naturkatastrophen, von Seuchenepidemien und Hungerkatastrophen bis zu den Folgen von Erdbeben oder Überschwemmungen. Diese Umstellung von Unglück auf Ungerechtigkeit ist mit Blick auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und die damit verbundenen politischen Entscheidungen über Ressourcenallokation durchaus berechtigt, und in vieler Hinsicht ist es ein Kernprojekt der Sozialdemokratie, auf dieser Grundlage Politik zu betreiben. Aber diese Umstellung wurde zum Problem, wo sie sich auf einen Adressaten konzentriert hat: den Staat, der als Steuerstaat zwar immer fetter wurde, dessen Muskeln und Sehnen zum Steuern und Durchsetzen von Entscheidungen aber geschrumpft sind. Hier hat sich eine weitere Schere geöffnet, nämlich die zwischen wachsenden normativ grundierten Erwartungen und tatsächlicher Handlungsfähigkeit des dabei adressierten politischen Akteurs. Damit soll die Handlungsfähigkeit des Staates nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, aber sie ist bei weitem nicht so groß, wie sie angesichts des entstandenen Erwartungsdrucks sein müsste. Die auch von den Sozialdemokraten in der rot-grünen Koalition forcierte Aufgabenteilung mit der Zivilgesellschaft ist ein Versuch, diesen Handlungsdruck durch Verteilung auf mehrere Akteure zu mindern. Man kann dies auch als strategischen Rückzug angesichts überbordender Erwartungen bezeichnen.
Wenn das Parlament zum Anhängsel der Regierung wird
Die parlamentarische Demokratie ruht auf der angenommenen Fähigkeit der Politik, Prozesse und Entwicklungen stoppen oder doch so weit entschleunigen zu können, dass genügend Zeit für eine sorgfältige Beratung bleibt. Diese Moratoriumsfähigkeit ist die conditio sine qua non der deliberativen Demokratie. Wo sie schwindet, verwandelt sich die deliberative Demokratie unter der Hand in eine dezisive Demokratie, in eine Ordnung also, die die Erfordernis der Entscheidung über die Fähigkeit zur Beratung stellt. Das ist der Fall, wenn entschieden werden muss, ohne dass beraten werden kann, und das heißt in der Regel, dass das Parlament bloß noch nachvollzieht, was die Regierung unter Zeitdruck beschlossen hat. Die parlamentarische Demokratie, wie sie sich in Westeuropa und Nordamerika seit dem 18. Jahrhundert entwickelt hat, ist auf einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Akklamationsverfahren im Sinne einer Dezision ohne Deliberation begründet, weil darin eine Form von Stimmungsdemokratie gesehen wird, wie sie für die attische Demokratie des fünften vorchristlichen Jahrhunderts typisch war: Gewinner war, wer über die besseren rhetorischen Mittel verfügte. Dagegen setzte die parlamentarische Demokratie, durch das Verfahren der mehrfachen Gesetzeslesung etwa, die Entschleunigung des Entscheidungsverfahrens als Voraussetzung für die Reflexion des zu Entscheidenden. Aber das hat zur Voraussetzung, dass die Dinge auch tatsächlich entschleunigt werden können. Wenn jedoch Entscheidungen binnen Stunden getroffen werden müssen, weil dann, um ein Beispiel aus dem Frühjahr 2010 zu nehmen, die Tokioter Börse öffnet, so ist das Projekt der parlamentarischen Demokratie im Kern getroffen: Die Beratung wird durch die Entscheidung konsumiert, und das Parlament wird zum Anhängsel der Regierung. Es ist erstaunlich, wie wenig öffentliche Aufmerksamkeit die dramatische Entwicklung im Mai dieses Jahres in der Öffentlichkeit gefunden hat, zumal sie sich jederzeit wiederholen kann. Man darf dies durchaus als eine Krise der Demokratie bezeichnen, die in diesem Fall freilich nicht durch Regierungsversagen, sondern durch vorsorgliches Regierungshandeln sichtbar geworden ist. Die strukturellen Erfordernisse der Weltwirtschaft und die Bestandsvoraussetzungen der Demokratie stimmen nicht mehr zusammen, und keiner kann sagen, wie das zu ändern ist.
Seit langem trägt die repräsentative Vertretung der Wähler im Parlament dem Partizipationsbedürfnis der Bevölkerung nur noch unzureichend Rechnung. Um den Ansprüchen des mündigen Bürgers zu genügen, wurden neue Partizipationsmöglichkeiten geschaffen, die als direktdemokratische Komplementarität zur Repräsentationsstruktur der politischen Ordnung zu verstehen sind – von den verschiedenen Formen der Bürgeranhörung und Bürgerbeteiligung bis zu Volksbegehren und Volksentscheid. Deren problematische Effekte beginnen inzwischen jedoch, die positiven zu überwiegen. Die Anhörungs- und Beteiligungsverfahren sind der deutschen Tradition entsprechend so sehr verrechtlicht worden, dass die dafür erforderlichen kognitiven, prozeduralen und habituellen Kompetenzen nur noch von wenigen erfüllt werden. Sie bilden inzwischen einen deutlichen Gegensatz zu dem frappierend einfachen und voraussetzungslosen Wahlakt, so dass die meisten Bürger die hier eröffneten Partizipationsmöglichkeiten nicht zu nutzen vermögen. Neben den genannten Kompetenzen ist die Verfügbarkeit von Zeit eine weitere Partizipationsvoraussetzung, über die ins Berufsleben Eingespannte nicht verfügen.
So hat das juridifizierte Partizipationsmodell einerseits zu einer erheblichen Entschleunigung von Planungsprozessen, andererseits aber nicht zu einer größeren Partizipation der Bürger geführt. Es hat den Anschein, als fühlten sich die Menschen mehr als zuvor von den politischen Entscheidungen ausgesperrt. Also greifen sie wieder zu den einfachen und weithin voraussetzungslosen Formen des Straßenprotests oder der Baustellenbesetzung, die dann ihre ganz eigene Dynamik entwickeln und Szenarien schaffen, in denen sich Politik und Bevölkerung, Polizei und Demonstranten unvermittelt gegenüberstehen.
Das dynamische China als attraktiveres Steuerungsmodell?
Gleichzeitig führt die Dauer der Entscheidungsverfahren in Deutschland zu einer dezidierten Politik- und Politikerverachtung bei der jüngeren Wirtschaftselite, von der die chinesische Dynamik als ein sehr viel attraktiveres Steuerungsmodell angesehen wird. Das Modell einer „Legitimation durch Verfahren“ hat auf beiden Seiten, bei den entscheidungsfreudigen Eliten ebenso wie bei den Bürgern, die Partizipation einfordern, mehr gekostet als eingebracht. Es hat die Vertrauenskrise zwischen Bürgern und Politik nicht beseitigt, sondern vergrößert. Das Projekt „Legitimation durch Verfahren“ ist an seine Grenzen gestoßen, und es ist an der Zeit, über alternative Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung nachzudenken. Dabei sind zwei Imperative zu beachten: Es geht um Partizipationsformen, die überschaubar und gleichzeitig einfach sind und keine großen Zeitquanten in Anspruch nehmen.
Neben den strukturellen gibt es auch operative Faktoren für Regierungsversagen und Vertrauenskrise. Statt die gerade skizzierten Schereneffekte zu kommunizieren und ein entsprechendes Verständnis für die eingeschränkte Aktionsfähigkeit des Staates einzufordern, hat die Politik zumeist das Gegenteil getan: Sie hat Handlungsmacht simuliert, wo es tatsächlich keine gab beziehungsweise politische Aktionsfähigkeit auf bloßes Reagieren geschrumpft war. Die Politiker haben dies freilich nicht ohne Not getan, sondern sind den Anmutungen der Medien, besonders des Fernsehens gefolgt. Sie haben sich selten in ihrer tatsächlichen Ohnmacht gegenüber Prozessen der globalen Welt gezeigt, der Unbeherrschbarkeit von Kapitalströmen, dem Agenda-Setting großer Unternehmen oder meinungsstarker Nicht-Regierungs-Organisationen, sondern haben Muskeln gezeigt, wo sie keine hatten. Sie sind in die Falle einer ihnen von den Medien suggerierten Allmacht getappt, eine Falle, die dann auch prompt zugeschlagen ist. Denn die Menschen vergessen nicht mehr so schnell wie früher – mit der Folge, dass die Adenauer zugeschriebene Direktive, ihn interessiere nicht sein „dummes Geschwätz von gestern“, negativ zurückschlägt: Das „dumme Geschwätz von gestern“ geht als Wiederholungsschleife durch die Medien und wird zur Fesselung an leichtfertig gemachte Aussagen. Audiovisuelle Medien zeitigen andere Effekte als Printmedien: Allmachtgesten werden hier als Halbstarkengebaren sichtbar. Der Respekt ist dahin, wenn Vater Staat und sein Führungspersonal beim Pubertieren erwischt werden.
Nutzen und Kosten der Mitte
Dem Allmachtgestus korrespondiert ein nicht weniger gefährliches Liegenlassen von Problemen. Nun ist es durchaus klug, sich an dem, was man ohnehin nicht stemmen kann, auch nicht zu versuchen. Aber der Selektionsmechanismus von Aufgreifen und Liegenlassen folgt in der Politik anderen Imperativen: An die Stelle der tatsächlichen Bearbeitungsfähigkeit tritt eine Bewirtschaftung von Aufmerksamkeit als einem knappen Gut, das über Wiederwahl und Karriere oder aber Scheitern und Verschwinden entscheidet. Aufmerksamkeitsökonomie und Problembearbeitungsfähigkeit sind nicht kongruent, und so bleibt einiges liegen, was zu bearbeiten wäre beziehungsweise bearbeitet werden müsste, während sich gleichzeitig so mancher an Problemen versucht, die ihn operativ schlicht überfordern. Letzteres wurde im vorigen Punkt behandelt; hier geht es um ersteres: das Liegenlassen von Problemen, die keine oder keine gute Öffentlichkeit versprechen, mit denen man sich somit nicht profilieren kann. Die Integration von Einwanderern ist dafür das aktuelle Beispiel. Wer an solche Herausforderungen jedoch herangeht wie die berühmte Katze an den heißen Brei, schafft die Voraussetzung dafür, dass Provokateure hohe politische Prämien einstreichen können. Ein hörbares Beschweigen von Problemen provoziert den Auftritt von Provokateuren, und die haben leichtes Spiel, weil die etablierte Politik ihnen nicht glaubwürdig gegenübertreten kann, sondern mit einer Mischung aus moralischer Empörung und taktischem Zurückweichen reagiert. So trug es sich, wenn man ehrlich ist, im Fall Sarrazin zu. In der Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Vorstand der Bundesbank hat sich die Politik eher blamiert als mit Ruhm bekleckert – von dem Eingeständnis, das kritisierte Buch nicht gelesen zu haben, bis zu dem Eingeständnis, einige der Probleme seien richtig beschrieben, nur die genetische Ätiologie sei falsch. Ein Vermeidungsverhalten der Politik, die vor komplexen Problemen und vermintem Terrain zurückschreckt, läuft darauf hinaus, dass Provokateure mit erheblichen Aufmerksamkeitsprämien rechnen dürfen. Und das wiederum hat zur Folge, dass die notwendigen Sachdiskussionen von Provokateuren bestimmt werden.
Man kann über die politischen Probleme der Bundesrepublik nicht nachdenken, ohne auf den Mittedrall nahezu aller politischen Parteien zu sprechen zu kommen. Dass die Parteien zur Mitte gerückt sind, ist sicherlich eine der Ursachen für die große politische Stabilität der Bundesrepublik – im Unterschied zur Weimarer Republik, wo die Mitte immer schwächer wurde und das Land am Schluss zwischen den politischen Extremen zerrieben wurde. So weit, so gut. Der Nutzen der Mitte ist unübersehbar, nicht bloß in politischer, sondern auch in sozialer Hinsicht. Aber was sind die Kosten der Mitte? Gibt es keine, wie man lange glauben machte? Oder führt das Gedränge in der Mitte zu einer politischen Konturlosigkeit, die man in Zeiten von Prosperität und Stabilität leicht verkraften kann, weil sie dann bloß Langeweile zur Folge hat, die bei Regierungsversagen und Vertrauenskrise aber verheerende Effekte hat, weil sich die in der Mitte versammelten Akteure dann wechselseitig der Alternativlosigkeit ihres Agierens versichern? Mit einem Schlag wird dann Konturlosigkeit zu Alternativlosigkeit, und die Politiker gelten vielen nicht bloß als kaum unterscheidbar, sondern auch in negativer Hinsicht gleich.
Warum wir große Erzählungen brauchen
Der Preis des Drangs zur Mitte, wo bekanntlich die Wahlen gewonnen werden, ist das Verschwinden der kantigen, eigensinnigen und stets unbequemen Gestalten, die in Krisensituationen als politische Glaubwürdigkeitsreserve dienen können. Die in der Wirtschaft praktizierte Strategie des just in time, die keine Reserven und Redundanzen kennt, hat in der Politik im Drang zur Mitte ihren Niederschlag gefunden. Eine Krise ist mithin dadurch definiert, dass in ihr Reserven mobilisiert und eingesetzt werden müssen. So will es die Taktik wie die Strategie. Wenn es diese Reserven aber nicht mehr gibt, ist das ein schwerwiegendes Problem. Die politische Ordnung erleidet dadurch einen Vertrauensverlust, der auf Dauer womöglich teurer zu stehen kommt als die populistischen Provokationen, die aus der Nichtbearbeitung dringlicher Probleme erwachsen. Der Preis des Gedränges der Parteien in der gesellschaftlichen Mitte ist politische Konturlosigkeit, und die wiederum führt dazu, dass die Bürger nicht das Gefühl haben, die politische Opposition verfüge über eine wirkliche Alternative.
Eine solche Krisendiagnose kann nicht enden ohne einen abschließenden Vorschlag, was man tun kann, um politische Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen, auch wenn man an den strukturellen Rahmenbedingungen politischen Agierens nichts zu ändern vermag. Ein probates Mittel dazu ist die narrative Einbettung politischen Handelns, also der Rückgriff auf jene großen Erzählungen, in denen Ziele beschrieben und von Wegen dorthin berichtet wird. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist von vielen Intellektuellen das Ende der großen Erzählungen ausgerufen worden. Das war genauso kurzsichtig wie die Behauptung vom Ende der Geschichte, die zeitweilig die Gemüter erregt hat. Ohne große Erzählungen degradiert sich die Politik zu bloßer Administration. Früher hat man diese Erzählungen auch als politische Utopien bezeichnet; ich ziehe den Begriff der großen Erzählung, des politischen Mythos als Oberbegriff vor. Die lange und subtile Debatte über Gerechtigkeit, die in der Sozialphilosophie geführt worden ist und deren Spuren bis weit in die politischen Parteien hineinreichen, war Gift für deren Fähigkeit zur narrativen Einbettung politischer Entscheidungen und Entwicklungen. Was die Dominanz der normativen Philosophie vermittelt hat, war bloß das notorische Ungenügen der Politik gegenüber deren Vorgaben. Die Politik kann leisten, was sie will, sie wird den normativen Vorgaben der Theologen und Philosophen nie genügen. Es geht ihr wie dem Hasen mit dem Igel: Die Politik muss rennen, aber die Norm ist immer schon am Ziel. Sie kennt keine immanenten Restriktionen, keine Friktionen, keine begrenzten Ressourcen, keine strategischen Gegenspieler, sondern muss bloß postuliert werden. Dass sie sich von diesem normativen overkill politischen Handelns ferngehalten haben, war immer die Stärke der Konservativen. Ihre strategische Schwäche war und ist, dass sie mit großen Erzählungen weniger anfangen können als politische Parteien, die programmatisch am Fortschritt ausgerichtet sind.
Narrationen erzählen vom Weg, den man geschafft hat, von dem, was man noch schaffen will und was unmöglich ist, weil die Kosten zu hoch und die Verluste zu groß sind. Sie vermitteln zwischen Sein und Sollen, Herkunft und Zukunft, rationaler Argumentation und emotionaler Berührtheit. Sie können motivieren und mitreißen, enthusiasmieren, jedenfalls berichten, welche Hindernisse man überwunden hat und welche noch vor einem liegen. Große Erzählungen sind die konsequente Umsetzung von Eduard Bernsteins vielgescholtener Formel, wonach ein politischer Weg selbst Zielqualität habe. Dies fehlt zurzeit, jedenfalls bei den klassischen Volksparteien, am wenigsten wohl bei den Grünen, was sich in deren schwindelerregenden Umfrageergebnissen auszahlt. Politische Narrationen sind Ziel- wie Herkunftserzählungen, die Gegenwartsbestimmungen möglich machen, aber auch neue, unerwartete Herausforderungen einbeziehen können. Eine solche Erzählung kann man nicht erfinden, schon gar nicht auf einen Schlag. Man muss sie sich erarbeiten, Schritt für Schritt und unter Beteiligung möglichst vieler. Das ist im Übrigen etwas anderes als die Arbeit an einem Parteiprogramm. Dieses kann bestenfalls ein Element jener großen Erzählung sein, auf die gerade eine Partei angewiesen ist, die nicht bloß eine bestimmte Klientel vertreten, sondern Volkspartei sein will. Die strategische Schwäche der Sozialdemokratie besteht darin, dass sie seit längerem über keine große Erzählung mehr verfügt, sondern nur über Gebrauchsanweisungen zum Umgang mit den so genannten Stellschrauben der Gesellschaft. «
Dieser Essay ist die überarbeitete und gezielt erweiterte Fassung eines Vortrages, den der Autor bei einer Klausur der SPD-Bundestagsfraktion am 10. September 2010 gehalten hat.