Der geplatzte Traum von der globalen Polizei
Die Vorstellung von einer Abschaffung des Militärs nach dem tendenziellen Verschwinden des zwischenstaatlichen Krieges ist ein alter Wunsch der Menschheit. Aber selbst wohlwollende Kommentatoren haben stets dagegen eingewandt, es könne passieren, dass sich allein „die Guten“ auf den Prozess der Abrüstung einließen, während „die Bösen“ nur darauf warteten, endlich freie Bahn zu bekommen. Wer etwas im Schilde führt, könne einige Waffensysteme zurückbehalten, um am Ende die Weltherrschaft zu übernehmen. Diese Befürchtung hat bislang die Abrüstung der Atomwaffen blockiert, so dass inzwischen nur noch deren Reduktion und nicht mehr ihre Abschaffung auf der politischen Tagesordnung steht. Analog dazu ist die Vorstellung von einer Verwandlung des Militärs in eine globale Polizei entstanden, die nicht mehr im partikularen Interesse eines Staates, sondern im Auftrag der Weltgemeinschaft zwecks Pazifizierung lokaler Konflikte und Beendigung innergesellschaftlicher Kriege in Marsch gesetzt würde. Auf diese Weise, so wurde argumentiert, lasse sich das Problem des letzten Bösen beseitigen – beziehungsweise das Problem des Letzten: Wer beim Abgeben der Waffen zufällig der Letzte ist, könnte der Versuchung erliegen und zum Bösen werden. In diesem Fall wäre die Mehrheit der Guten nicht wehrlos, sondern würde über eine globale Polizei verfügen, die Recht und Gesetz überall dort durchsetzt, wo es missachtet und mit Füßen getreten wird. Die Zustimmung der Sozialdemokraten und der Grünen zur Kosovo-Intervention und zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr war im Prinzip mit einer derartigen Perspektive verbunden: Man entsandte das Militär nicht um eigener Vorteile willen – etwa um seine Macht zu vergrößern oder in geopolitisch interessanten Regionen militärisch präsent zu sein, sondern um den Menschen im Einsatzgebiet zu helfen.
Das Militär sollte an der Seite der Unterdrückten und Bedrohten stehen
Der politische Perspektivwechsel, der in diesen und ähnlichen Überlegungen zum Ausdruck kam, hätte radikaler kaum sein können: Aus dem Militär als einem Instrument der gewaltsamen Durchsetzung des jeweils eigenen Willens sollte eine Institution zum Schutz der Unterdrückten und Bedrohten werden, welche die gewalttätige Willensdurchsetzung der Bewaffneten in einer Region beenden konnte. Die globale Polizei sollte der Schlusspunkt eines Prozesses werden, der gemeinhin unter der Überschrift einer Verrechtlichung der internationalen Politik verhandelt wird. Eine solche Transformation des Militärs ist auf der einen Seite politisch weniger anspruchsvoll als seine grundsätzliche Abschaffung, auf der anderen Seite geht sie menschenrechtlich sehr viel weiter, denn durch sie soll der Zustand des Friedens hergestellt und müsste nicht länger als gegeben vorausgesetzt werden. Unmittelbar nach dem Ende der Blockkonfrontation Anfang der neunziger Jahre schien eine solche Entwicklung in politische Reichweite gekommen zu sein und man konnte über die Grundzüge einer neuen Weltordnung nachdenken.
Daraus ist nichts geworden, weil sich nach einiger Zeit herausstellte, dass die geopolitischen und geoökonomischen Interessen der großen Mächte zu weit auseinanderlagen oder zu konträr waren, um mit einer solchen neuen Ordnung in Einklang gebracht werden zu können. Stattdessen bildete sich eine Neuordnung der Einflusszonen heraus, in denen die großen Mächte mit Hilfe ihrer Bündnissysteme für eine gewisse Ordnung sorgten, und dabei kamen dann auch wieder – im einen Fall weniger, im anderen stärker – deren jeweilige Interessen zum Tragen, die im Konzept der globalen Polizei eigentlich zum Verschwinden gebracht werden sollten. Gleichzeitig scheren sich die großen Mächte nicht um die Räume, in denen keine von ihnen Interessen haben, sondern lassen die dortigen Konflikte weiterlaufen. Die transnationalen Kriege in Zentralafrika, in denen sich Elemente des zwischenstaatlichen mit solchen des innergesellschaftlichen Krieges verbinden, sind ein Beispiel dafür. Der Satz von Bertolt Brecht, „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“, erfuhr unter dem Eindruck dieser Entwicklung eine radikale Sinnverkehrung: Aus einem pazifistischen Gedanken wurde eine Formel der menschlichen Gleichgültigkeit und des politischen Zynismus.
Das Problem der zerfallenden Staaten
Nach der Jahrtausendwende hat die Weltgemeinschaft auf diese Entwicklung reagiert und Anstrengungen unterhalb der Völkerrechtsebene unternommen, um dem absoluten Verbot von Angriffskriegen in der Charta der Vereinten Nationen ein vorsichtiges Hilfsgebot zum Schutze der Wehrlosen zur Seite zu stellen. Die Formel, in der diese Anstrengungen schließlich zusammenflossen, lautet responsibility to protect – zu Deutsch die „Schutzverantwortung“ der Staaten. Demnach ist ein Staat dafür verantwortlich, dass die auf seinem Territorium lebenden Menschen vor manifester Gewalt ebenso geschützt werden wie vor einer erpresserischen Gewaltandrohung. Und wenn er dazu entweder nicht in der Lage oder nicht willens ist, so ist die Weltgemeinschaft aufgerufen, diese Schutzverantwortung an seiner statt und notfalls gegen ihn durchzusetzen. Die auch in anderen Politikfeldern seit längerem in Bedrängnis geratene Rechtsform der Souveränität, die solche Einmischung in die „inneren Angelegenheiten“ eines Staates untersagt, befand sich also auch hier auf dem Rückzug. Tatsächlich jedoch war bei der Formulierung der responsibility to protect weniger daran gedacht worden, die Werte und Normen der Weltgemeinschaft gegen einen sie notorisch missachtenden Staat durchzusetzen, als vielmehr dort für ein Mindestmaß an Schutz und Sicherheit zu sorgen, wo es keine staatliche Autorität mehr gibt und bewaffnete Banden die Mehrheit der Menschen ausplündern und terrorisieren. Damit war das Problem der zerfallenen Staaten in den Wahrnehmungsfokus der Weltgemeinschaft gelangt, und mit der Formulierung einer Schutzverantwortung unternahmen die westlichen Staaten einen ersten Versuch zur legitimen Regulation von Interventionen bei Staatszerfall. Folglich handelte es sich um einen ersten Ansatzpunkt für die folgenreiche Transformation des Militärs in eine globale Polizei.
Im Prinzip lassen sich zwei Interventionstypen voneinander unterscheiden, wobei Intervenieren keineswegs einen militärischen Charakter haben muss, sondern auch durch politische oder wirtschaftliche Macht geschehen kann. Aber der Gebrauch von Zwangsmitteln ist der normative Ernstfall einer Intervention, weswegen sich die allgemeine Aufmerksamkeit darauf konzentriert. Da sind zunächst diejenigen Interventionen, mit denen Regierungen oder Gewaltunternehmer (Warlords) daran gehindert werden sollen, weiterhin Verbrechen gegen die Menschenrechte zu begehen, ein Terrorregime in dem von ihnen kontrollierten Gebiet zu errichten und ähnliches mehr. Es handelt sich um Formen des Einschreitens, bei dem die seit Beginn des 21. Jahrhunderts als Souveränitätskonditionierung postulierte Schutzverantwortung des Staates gegenüber seinen Bürgern zeitweilig von den intervenierenden Mächten übernommen wird, um in dem betreffenden Gebiet Verhältnisse herzustellen, unter denen diese Schutzverantwortung wieder von einer eigenen Regierung wahrgenommen werden kann. Daneben gibt es aber auch Interventionen, die als Investitionen in die Glaubwürdigkeit der bestehenden Weltordnung anzusehen sind, wie dies etwa bei der 1991 erfolgten Befreiung Kuwaits nach der Besetzung und Annexion durch den Irak unter Saddam Hussein der Fall war. Freilich sind beide Typen nur analytisch klar zu trennen; in der politischen Wirklichkeit geht es eher um die Frage, welcher Anteil bei einer konkreten Intervention überwiegt beziehungsweise welcher Aspekt bei der Entscheidung einer Regierung die ausschlaggebende Rolle spielt, auf ein militärisches Eingreifen zu drängen und sich mit entsprechenden Kräften daran zu beteiligen. Angesichts der Kosten und Risiken einer Intervention geht einem solchen Entschluss ein komplexes Beratungs- und Entscheidungsverfahren voraus.
Eine wichtige orientierende wie legitimierende Hilfestellung bei der Anwendung der Schutzverantwortung ist die Theorie des gerechten Krieges, die dem politischen Denken der Antike entstammt und im Mittelalter von Thomas von Aquin ausgearbeitet worden ist. Die dabei entwickelten vier Kriterien der Rechtfertigung eines Krieges können als moralische Prüfkriterien eingesetzt werden, wenn es darum geht, entweder einzuschreiten oder sich herauszuhalten. Die beiden ersten Kriterien, gerechter Grund (causa iusta) und rechte Absicht (intentio recta), haben die jüngere moralphilosophisch-politiktheoretische Debatte bestimmt. Sie bieten Eckpunkte für eine Debatte über Interventionsentscheidungen, aber sie sind keine zuverlässigen Kriterien, weil sie ausdeutbar sind und durch den Rekurs auf angeblich verborgene Absichten ausgehebelt werden können. Das war unter anderem bei der UN-geführten Intervention gegen den Irak der Fall, als der Slogan „Kein Blut für Öl“ die „wahren“ Absichten der Intervention offenlegen sollte. Die Kriterien des gerechten Grundes und der rechten Absicht sind eher zur persönlichen Gewissenserforschung eines politischen Entscheidungsträgers als zur politischen Klärung einer öffentlich verhandelten Frage geeignet.
Aus welchen Kriegsgebieten man sich besser heraushalten sollte
Etwas besser sieht es bei den beiden anderen Kriterien der Theorie des gerechten Krieges aus, den Fragen nach dem Recht der Kriegserklärung (auctoritas principis) und der Verhältnismäßigkeit der angewandten Mittel. In die Prüfung der Verhältnismäßigkeit geht immer auch die Erfolgswahrscheinlichkeit ein. Hierbei kann man sich natürlich verschätzen und verrechnen, in der Regel führt das Verhältnismäßigkeitsprinzip jedoch dazu, dass ein militärisches Einschreiten ausgeschlossen wird. Die Szenarien des Militärs können der Politik jedenfalls relativ klare Hinweise geben, aus welchen Kriegsgebieten man sich besser heraushalten sollte, weil die Erfolgsaussichten gering sind und die Eskalationswahrscheinlichkeit hoch ist. Demgegenüber mögen die Gründe für eine Intervention noch so gerecht und die damit verbundenen Absichten noch so rein sein – wenn bei einem verhältnismäßigen Waffeneinsatz die Erfolgsaussichten einer Intervention gering sind, sollten sie im Hinblick auf das vierte Kriterium der Theorie des gerechten Krieges unterbleiben. Das nimmt sich mitunter gefühllos und zynisch aus und stellt den Anspruch auf eine Konstabulisierung des Militärs im globalen Maßstab unter Opportunitätsvorbehalt. Aber gerade die größten Befürworter von Interventionsentscheidungen werden zu deren schärfsten Kritikern, wenn die Dinge nicht so laufen, wie sie sich das vorgestellt haben. Die Bilder von Gewaltopfern, die eben noch für eine Intervention sprachen, können morgen schon Argumente gegen sie sein. Hier ist eher auf den Rat der Experten zu vertrauen als auf die Empörung der moralisch Engagierten.
Man kann also sagen, dass mit dem Konzept einer responsibility to protect die normativen Grundlagen für Interventionen in das Territorium anderer Staaten vorliegen, ohne dass diese Interventionen auf einen Krieg im klassischen Sinn hinauslaufen. In legitimatorischer Hinsicht handelt es sich eher um Polizeiaktionen im oben beschriebenen Sinn. Das Schlüsselproblem ist freilich, wer darüber entscheidet, ob ein Erfordernis zur Intervention gemäß den Vorgaben der Schutzverantwortung gegeben ist und ob im Fall einer solchen Intervention die vier Kriterien des gerechten Krieges eingehalten werden. Unter den gegebenen Umständen obliegt eine solche Entscheidung letztlich dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Damit tritt eine Blockierung des neuen Handlungsmodells ein, da sich der Sicherheitsrat in den meisten Fällen aufgrund konkurrierender geopolitischer Interessen der Veto-Staaten auf keine gemeinsame Beschlussfassung einigen kann. Die Transformation des Militärs in eine globale Polizei stockt, weil die politische Institution, die den Einsatz anordnet, sich nicht über seinen Zweck und seine Aufgaben einigen kann. Das würde sich wohl erst bei einer grundlegenden Reform der Vereinten Nationen ändern, und damit ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Dadurch ist die Schutzverantwortung jedoch nicht obsolet geworden, sondern de facto ist das Recht zur Interventionsentscheidung inzwischen auf regionale Bündnis- und Sicherheitssysteme übergegangen, die in ihrem jeweiligen Einflussbereich nach ihren jeweiligen Maßstäben dafür sorgen, dass ein gewisses Maß an innergesellschaftlicher Gewalt nicht überschritten wird. Das mag normativ unbefriedigend sein, hat sich als praktische Lösung aber bewährt. Jedenfalls ist eine bessere Lösung vorerst nicht in Sicht. Das Manko daran ist weniger im Binnenraum der regionalen Ordnungen als an deren Peripherie zu suchen, wo unklar ist, zu welcher Sicherheitsordnung ein Problemgebiet gehört, ob durch eine Intervention womöglich Einflussgebiete verschoben werden, wer von einer erfolgreichen Intervention profitiert und wer deren Kosten zu tragen hat. Das lässt sich am Beispiel Syriens gut beobachten. Es sind die Peripherien und Zwischenzonen, angesichts derer sich die Frage des Einschreitens oder Heraushaltens in dramatischer Weise stellt. Dabei geht es für die dort lebenden Menschen mitnichten um einen Export „guten Lebens“, sondern um das bloße Überleben. Diese Zwischenzonen oder politischen Intermundien sind aktuell der Bereich, in dem mit lange dauernden Kriegen zu rechnen ist, in die keiner eingreift. Daran wird sich unter der Bedingung einer raumbezogenen Partikularisierung der responsibility to protect nichts ändern.
Den militärischen Kraftprotz Deutschland gibt es nicht mehr
Die Legitimation von militärischen Interventionen ist das eine, die Befähigung dazu das andere. Im Rückblick auf zwei Jahrzehnte Einsatzgeschichte, Streitkräftetransformation und öffentlicher Legitimationsdebatte in Deutschland wird man sagen können, dass in keinem anderen europäischen Land so viel über das Dürfen und Sollen gesprochen und so wenig über das Können und Wollen nachgedacht worden ist. Der schon bald nach der Vereinigung Deutschlands begonnenen Debatte lag nämlich die antiquierte Vorstellung von einem Akteur zugrunde, der vor militärischer Kraft nur so strotzte und nur darauf wartete, aller Welt seine Fähigkeiten zu beweisen. Diesen Akteur hatte man in der Vergangenheit mit guten Gründen politisch wie rechtlich gefesselt, und nun ging es darum, diese Fesseln ein wenig zu lockern, damit er zum Guten eingreifen konnte. Dabei musste man, so die Vorstellung, sorgfältig darauf achten, dass die Fesseln nicht zu weit gelöst werden, so dass sich der militärische Kraftprotz ihrer nicht ganz entledigt und wieder Unheil anrichtet, wie er dies in der Vergangenheit allzu oft getan hatte.
Noch gänzlich im Bann zweier Weltkriege hatte man nicht bemerkt, dass es den militärischen Kraftprotz nicht mehr gab. In Deutschland war, wie fast überall in Europa, inzwischen eine postheroische Gesellschaft entstanden, die in mürrischer Indifferenz militärische Fähigkeiten aufrechterhielt, sie aber mit der Kautele versah, nicht zum Einsatz da zu sein, sondern vielmehr dazu, das Erfordernis ihres Einsatzes zu verhindern. Dieser Vorstellung lag die politische Grammatik des Kalten Krieges zu Grunde, die für einen langen und bei allen Krisen doch stabilen Frieden in Europa gesorgt hatte. Ein Einsatz der Streitkräfte war in Anbetracht der mit ihm verbundenen politischen wie militärischen Risiken nicht vorgesehen. So ließ man sich durch die zahlenmäßig großen Armeen und die Rüstungspotenziale, die im Kalten Krieg aufgebaut worden waren, täuschen und nahm an, die abstrakten Fähigkeiten des Militärs ließen sich ohne weiteres in Potenziale einer globalen Polizei überführen. Dementsprechend diskutierte man weiterhin über das Dürfen statt über das Können und unterstellte, man könne dem Erfordernis des Könnens und Sollens durch eine geringfügige Lockerung der politischen und rechtlichen Fesseln nachkommen. Das sollte sich als ein schwerwiegender politischer Irrtum herausstellen.
Politische Entschlossenheit und militärische Fähigkeiten
Tatsächlich hatte man nämlich eine Chimäre gefesselt, und die Fähigkeiten, von denen man glaubte, man müsse sie unter Kontrolle halten, mussten schrittweise überhaupt erst entwickelt werden. Es dauerte lange, bis man das begriff. Erst als sich in Afghanistan das Aufgabenspektrum der Bundeswehr von einer Art bewaffnetem THW zu Kampfeinsätzen verschob, wurde einer größeren Öffentlichkeit in Deutschland klar, dass es mit der großmütigen Bereitschaft zur Hilfe nicht getan war, sondern dass es für dessen Erfolg politischer Entschlossenheit und militärischer Fähigkeiten bedurfte, die man nicht als gegeben unterstellen konnte, sondern für die man politisch werben und in die man obendrein investieren musste. Jetzt erst begann sich die Entfesselungs- in eine Befähigungsdebatte zu verwandeln. Dabei stellte sich heraus, dass es nicht nur an politischer Entschlossenheit zum Durchhalten eines solchen Einsatzes mangelte, sondern dass den Streitkräften auch, zumindest partiell, die Fähigkeiten und die Ausrüstung fehlten, um den Einsatz in Afghanistan als Kampfeinsatz führen zu können, zu dem er sich entwickelt hatte. Die sich vor der Hand so elegant ausnehmende Vorstellung von der Transformation des klassischen Militärs in eine globale Polizei erwies sich in der Realität als ausgesprochen schwierig.
Die auftretenden Probleme wurden durch die besonderen Verhältnisse in Afghanistan verschärft. Was auf dem Balkan mit viel Improvisation noch zu überbrücken war, trat nun in aller Schärfe hervor: Man war auf einen solchen Einsatz denkbar schlecht vorbereitet. Dem Fehlurteil über das eigene Können, aus dem die Debatte über das Dürfen erwachsen war, korrespondierte eine Fehleinschätzung des Interventionsgebiets: Man hatte unterstellt, die örtliche Bevölkerung würde die ausländischen Soldaten und Helfer freudig begrüßen. Die Intervention wurde im Wesentlichen als ein Wiederaufbau verstanden; Akteure eines strategischen Gegenhandelns, gar bewaffneten Widerstands hatte man nicht auf der Rechnung. Wenn doch, so traute man sich nicht, dies öffentlich zu kommunizieren, weil man fürchtete, dann den politischen Rückhalt für die Intervention aufs Spiel zu setzen. Die Folgen waren verheerend, denn die Öffentlichkeit war so weder auf die Dauer des Einsatzes noch auf die Konfrontation mit nachhaltigem Widerstand eingestellt. Man hatte das Problem des Einschreitens im Wesentlichen mit Blick auf die eigene großmütige Bereitschaft dazu diskutiert und so gut wie gar nicht berücksichtigt, dass es im Interventionsgebiet Akteure gab, die entweder kein Interesse am Erfolg der Intervention hatten oder an einer Fortdauer der Gewalt interessiert waren, weil sie von ihr politisch und wirtschaftlich profitierten. Man hatte sich in Deutschland nahezu ausschließlich auf die moralphilosophischen und völkerrechtlichen Fragen des Dürfens einer Intervention konzentriert und darüber deren Gelingensbedingungen aus dem Auge verloren. Das inzwischen absehbare Scheitern des Einsatzes in Afghanistan ist auch eine Folge dieser politischen Fehleinschätzungen in Bezug auf die eigenen Fähigkeiten sowie den gegnerischen Widerstand.
Somit hatten die wahrscheinlichen „Kosten“ der Intervention, von der zeitlichen Dauer des Einsatzes und den dafür aufzuwendenden finanziellen Mitteln bis zu eigenen Verlusten in Form von Verwundeten und Gefallenen, keinen angemessenen Platz in den Überlegungen erhalten. Es kam zur normativen Überdehnung der Intervention, die vor allem in Afghanistan folgenreich wurde. Nachdem zeitweilig immer neue und weiter reichende Vorgaben in die Zielstellung der Intervention eingespeist worden waren – nach dem Motto, wenn wir uns schon auf eine Intervention einlassen, dann erwarten wir auch, dass die afghanische Gesellschaft von Grund auf geändert wird und in ihr Normen und Werte zur Geltung gebracht werden, die sich an denen unserer eigenen Gesellschaften orientieren –, begann nun eine Phase der Enttäuschungen und Desillusionierungen. Man hatte sich mehr zugetraut, als man tatsächlich konnte und in Wahrheit auch wollte. Und man hatte die Probleme unterschätzt, die mit dem Aufgabenspektrum einer globalen Polizei verbunden sind.
Niemand ist über seine Fähigkeiten hinaus zu etwas verpflichtet
Die Analyse des Scheiterns einiger Interventionen der vergangenen Jahre muss bei der zukünftigen Beantwortung der Frage, wann wir einschreiten und wo wir uns heraushalten, eine zentrale Rolle spielen. Nicht unbedingt das Dürfen, in jedem Fall aber das Sollen des Einschreitens hängt von der Aussicht auf den Erfolg der Intervention ab: Wo man von Vornherein sagen kann, dass die Größe der Aufgabe die Kräfte überfordern wird, sollte man auf jeden Versuch eines militärischen Einschreitens verzichten. Man würde die Dinge dadurch nur schlimmer machen, als sie bereits sind. Das gilt analog für jene Fälle, in denen eine lange Präsenz im Interventionsgebiet vonnöten ist und man gleichzeitig davon ausgehen muss, dass die intervenierenden Staaten nur zu einem kurzzeitigen Eingreifen bereit und in der Lage sind. Es mag zwar gute Gründe für ein Eingreifen geben, doch wenn den potenziellen Interventionsmächten der Willen und die Fähigkeit dazu fehlen, sollte auf einen Versuch verzichtet werden. Ultra posse nemo obligatur lautet die Formel aus Justinians Digesten, wonach niemand über seine Fähigkeiten hinaus zu etwas verpflichtet ist. Sie gilt auch hier. Damit sind auch die Grenzen einer Transformation des Militärs in eine globale Polizei beschrieben: Es handelt sich bestenfalls um eine polizeiähnliche Einrichtung, deren Einsatz jedoch nicht dem Legalitätsprinzip folgt, sondern den Kriterien der politischen Opportunität unterliegt, bei denen ein Abgleich von Aufwand und möglichem Ertrag sowie der Blick auf die eigenen Interessen eine zentrale Rolle spielen. Man könnte auch sagen: Der Ertrag der Legitimitätsdebatte ist durch die Opportunitätserwägungen inzwischen aufgezehrt.
Sieht man genauer hin, so kommt zusätzlich das Problem der kollektiven Güter ins Spiel: Wenn die Sicherheit, die durch eine globale Polizei hergestellt wird, ein Gut ist, von dessen Genuss keiner ausgeschlossen werden kann – worin besteht dann die Motivation eines Einzelnen, in dieses Gut zu investieren, indem er sich an solchen Interventionen beteiligt? Dieses aus der Theorie der kollektiven Güter bekannte Theorem der Trittbrettfahrer taucht auch hier auf: Die Trittbrettfahrerei besteht in diesem Fall darin, andere die Kosten und Risiken einer Intervention tragen zu lassen, während man sich selbst auf den Konsum des von ihnen geschaffenen öffentlichen Gutes beschränkt. Trittbrettfahrer der globalen Sicherheit investieren in die Sicherheit und den Wohlstand der eigenen Bevölkerung, mit der sie durch politische Rückkoppelung verbunden sind, und erhöhen auf diese Weise die Chance ihrer Wiederwahl, während sie die Stabilisierung der Peripherie anderen überlassen. Es ist absehbar, dass diese „Anderen“ mit der Zeit immer weniger werden und sich irgendwann niemand mehr findet, der für die Bereitstellung des öffentlichen Gutes Verantwortung übernimmt. Aus dieser Situation scheint es zwei Auswege zu geben.
Imperiale Strukturen und Interventionsverzicht
Der erste Ausweg besteht in der Debatte über die moralische Verpflichtung, am Aufbau einer globalen Polizei teilzunehmen. Das Problem der kollektiven Güter wird dann nicht im Hinblick auf die Interessen der Beteiligten, sondern unter dem Aspekt ihrer moralischen Obligationen diskutiert, und die Debatte über das Dürfen, die wir in den letzten zwei Jahrzehnten geführt haben, wird durch eine über das Sollen, wenn nicht das Müssen abgelöst. Es ist nicht auszuschließen, dass es zu einer solchen Debatte kommt, aber man darf bezweifeln, dass sie eine derart große politische Kraft und entsprechende moralische Bindewirkungen zu entfalten vermag, dass sich darauf eine stabile neue Weltordnung mit einer verlässlichen globalen Polizei begründen lässt. Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um einen einzelnen Einsatz, zu dem man sich sehr wohl auf der Grundlage moralischer Verpflichtungen entschließen kann, sondern um eine institutionelle Ordnung mit permanenten Verpflichtungen, die Eigeninteressen zuverlässig außer Kraft setzen. Derlei ist auf der Basis einer moralischen Selbstverpflichtung unwahrscheinlich.
Der zweite Ausweg ist die Verknüpfung von Eigeninteresse und kollektiver Aufgabe durch die Herstellung von Interessenzonen und Einflussgebieten. Die Staaten sind dann nicht in globalem Maße für Schutz und Sicherheit der Menschen (und eine gewisse Prosperität) zuständig, sondern nur in ihrer engeren Umgebung, ihrer unmittelbaren Peripherie, von deren Instabilität sie besonders beeinträchtigt würden. Das lässt sich am Beispiel der Flüchtlingsströme erläutern: Wenn sie überhand nehmen, gefährden sie die innere Ordnung der Zentralmacht, weswegen diese ein vitales Interesse an der Stabilisierung ihrer Peripherie hat. Was auf diese Weise entsteht, ist freilich keine globale Polizei, sondern es sind imperiale oder quasi-imperiale Strukturen, die als eine räumlich begrenzte Lösung für das Problem der kollektiven Güter angesehen werden können. Die Entwicklung dazu können wir mittlerweile ebenso beobachten wie den Interventionsverzicht in den Intermundien der Einflusszonen. Die responsibility to protect ist zu einer Legitimationsruine der internationalen Politik geworden.
Der Aufsatz nimmt Überlegungen und Argumente auf, die der Autor in einem Beitrag im Kursbuch 172, Oktober 2012, erstmals entwickelt hat, und führt sie mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen weiter.