Regierungswechsel? Gezeitenwechsel!

Der Sozialstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann: Weil immer mehr Menschen dies begreifen, steht das deutsche Parteiensystem vor dem Umbruch. Die SPD wird sich dem Wandel schöpferisch anpassen - oder scheitern

Die Wahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai hat ein politisches Beben ausgelöst. Die Bundestagswahl im September könnte den Anfang vom Ende des Parteiensystems bringen, wie wir es seit sechzig Jahren kennen. Es war gekennzeichnet durch zwei Volksparteien der rechten und der linken Mitte, die einerseits die Wähler am jeweiligen Rand zu integrieren vermochten, ohne andererseits in ihrer Politik Mitte und Mehrheit aus den Augen zu verlieren. Gemeinsam mit einer anderen, kleinen Partei, der FDP oder den Grünen, konnte jede der beiden Volksparteien eine parlamentarische Mehrheit bilden. Es war dies eine Konstellation, die der Bundesrepublik Deutschland Stabilität und Wandel ermöglicht hat. Die Stabilität betraf vor allem den Sozialstaat, der Wandel den Regierungs-, nicht aber einen Politikwechsel. Es war die Regierung Schröder, die mit der Agenda 2010 eben diesen Politikwechsel versucht hat – und in doppelter Hinsicht gescheitert ist, politisch und parteipolitisch: sowohl bei dem Versuch, Lehren aus der nachhaltigen Erfolglosigkeit der alten Politik zu ziehen, als auch bei dem Versuch, die SPD aus der Regierung heraus, gleichsam durch einen Putsch von oben, zu erneuern.

Das Ende des vertrauten Parteiensystems

Ein Linksbündnis wird entstehen, als inner- wie außerparlamentarische Opposition, als Magnetfeld der Sehnsüchte nach einer ganz anderen Politik, das weit in das rotgrüne Milieu hinein und darüber hinaus seine Wirkung entfalten wird. Alle Beteiligten vereint die Abwehrschlacht gegen das, was sie „Neoliberalismus“ nennen. Gemeinsam ist ihnen auch – und dies ist gefährlich für die SPD –, dass sie die Positionen der alten Sozialdemokratie („old labour“) aufbewahren und immer wieder ins politische Spiel bringen. Wer aus der SPD heraus die Linkspartei kritisiert, der kritisiert die eigenen Werte in ihrer radikalisierten Form. Es ist der SPD nicht gelungen, in Partei und Öffentlichkeit einen analytischen, normativen und programmatischen Verständigungszusammenhang aufzubauen, der die Fortsetzung der alten Sozialpolitik plausibel hätte als unsozial brandmarken und gleichzeitig bei Mitgliedern und Funktionären der SPD den Stolz und das Engagement hätte wecken können, die traditionsreiche Partei gleichsam neu zu begründen, also ein Werk zu vollbringen, das an Größe und Weitsicht jenem entsprochen hätte, das vor eineinhalb Jahrhunderten den Gründungsvätern der SPD gelungen war.

Es kann sein, dass dies ein unmöglich Ding gewesen wäre, weil die SPD so nicht und überhaupt nicht zu reformieren ist, nicht von oben und nicht von unten: SPD non reformanda est? Wahr ist aber auch, dass es nie wirklich versucht wurde, nicht in den sechzehn langen Jahren der Opposition (was hat eigentlich, so darf man rückblickend wohl fragen, das runde Dutzend an Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden zwischen 1982 und 1998 dafür getan, die SPD zukunftsfähig zu machen?), nicht oder nur halbherzig in den sieben Jahren der Regierung Schröder. Solange man an den Gesichtern der meisten Minister und Vorstandsmitglieder der SPD ablesen kann, dass sie die Politik ihres eigenen Kanzlers nicht oder nur halbherzig unterstützen, muss sich die SPD nicht wundern, wenn sie von vielen Wählern und Mitgliedern nur noch den Staub sieht. Nach der Bundestagswahl wird es erst richtig offenbar werden: Die einen werden pragmatisch, gebeutelt und mit schlechtem Gewissen an dem Kurs der Regierung Schröder festhalten, die anderen werden Sicherheit ohne Wandel suchen, das aber mit frischer Kraft, moralisch aufgeladen und populistisch ausgreifend bis in die Reihen der Unionswähler hinein.

Die alten Institutionen passen nicht mehr

Die SPD ist das erste und sichtbare Opfer der tektonischen Verschiebungen. Man kann gewiss die Entwicklung entdramatisieren und darauf hinweisen, dass es sich hier um eine europäische Normalisierung handelt: Anderswo, etwa in Italien, hat der Wandel der Zeiten das Parteiensystem viel früher und viel gründlicher umgestülpt, sind ganze Parteien in der Versenkung verschwunden, hat man sich an jeweils zwei Parteien auf der Linken und auf der Rechten gewöhnt. Was soll auch so ungewöhnlich daran sein, dass Parteien und auch Verbände, die mit der Industriegesellschaft entstanden sind, mit dieser auch wieder verschwinden, wenn sie nicht die Kraft zur Erneuerung finden? Es geht schließlich nicht um Parteien, diese sind Mittel und kein Zweck an sich. Worauf es ankommt, ist die Frage, wie es den Menschen geht, ist die Passung zwischen Gesellschaft und Institutionen, die „Stimmigkeit“ beziehungsweise das mismatch zwischen Mensch und Arbeit, Herausforderungen und Antworten, Ängsten, Hoffnungen und politischer Performance. Zeiten des Übergangs sind immer auch Zeiten, in denen die alten Routinen und Institutionen nicht mehr so richtig passen, neue aber noch nicht gefunden sind. Die Aufgabe besteht dann darin, neue Institutionen zu erfinden, wie es ja, von den Parteien und Gewerkschaften bis hin zu den Pfadfindern und Wohlfahrtsverbänden zu Beginn der Industrialisierung, durchaus geschehen ist – oder die bestehenden Institutionen schöpferisch an eine andere Zeit anzupassen. Diese Aufgabe kann freilich nur bewältigt werden, wenn erst einmal die unterirdischen Strömungen und Verschiebungen ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit gehoben werden. Es ist die Kluft zwischen Mensch und Institution und zwischen Institutionen und Gesellschaft, aus der die Unzufriedenheit wächst, der Protest aufsteigt, die Gesellschaft sich entstabilisiert und neues Zutrauen in die öffentlichen Dinge und Personen nicht kommen kann. Nirgendwo kann man diese Zusammenhänge besser illustrieren als an einem Kernstück der Sozialdemokratie und ihres Dilemmas: Warum, auf welche Weise und zu welchem Ende macht man eigentlich soziale Politik am Beginn des 21. Jahrhunderts?

Ängste streunen umher wie herrenlose Hunde

Was wir erleben und an den Wahlergebnissen ablesen können, ist mehr als ein Regierungs- oder Generationen-, es ist ein Gezeitenwechsel. Die politischen Strömungen suchen sich eine neue Richtung. Die vagabundierenden Ängste und Hoffnungen, die umherstreunen wie herrenlose Hunde, wenden sich von den alten Herren und Hirten ab und suchen neue Sicherheiten und Orientierungen, an denen sie festmachen können. Die sozialen Fragen, Ängste und Chancen wandern – und die Menschen spüren und wissen es inzwischen – aus dem Gehege der traditionellen Sozialpolitik, aus den Domänen der sozialen Beschützer aus in das freie, aber zu gestaltende Feld der Bildungs- und Wirtschaftspolitik, der Arbeitsmarkt- und der Familienpolitik. Wer arbeitslos ist oder in einer prekären Existenz lebt, ist an Arbeit interessiert und weniger an Arbeitnehmerrechten. Alleinerziehenden ist mit Betreuung und Arbeit mehr geholfen als mit Sozialhilfe. Wo die ökonomische Selbständigkeit der Frauen ausdrückliches Ziel der Politik ist wie etwa in den nordischen Ländern, gibt es mehr Kinder, mehr Familien, mehr Wachstum und dafür weniger Arbeitslose und Kinderarmut. Eltern wollen für ihre Kinder nicht Gleichheit, sondern bessere Chancen durch bessere Schulen. Arbeitslosigkeit ist leichter zu ertragen wenn sie, wie anderswo, ein paar Wochen währt und nicht wie in Deutschland für jeden zweiten Arbeitslosen ein Jahr und noch viel länger. Wem es schlecht geht, der will kein Mitleid, sondern dass sich seine Lage bessert, notfalls durch eine bittere Medizin. Eine scheinbar unpopuläre Politik wird eine Mehrheit finden, weil sich das Gefühl ausbreitet, dass es mit halbherzigen Maßnahmen und einer Partei, die selbst diese von innen her teilweise in Frage stellt, auf Dauer nicht gut gehen kann.

Jenseits der alten Sozialpolitik

Eine scheinbar paradoxe Einsicht bricht sich Bahn: Es ergibt keinen sozialen Sinn mehr, einen immer kleiner werdenden Kuchen immer gerechter zu verteilen. Anders ist ja nicht zu erklären, dass Wahl um Wahl die CDU zur stärksten Partei bei den Arbeitern und Arbeitslosen gewählt wird – eine Partei, von der man immerhin weiß, dass sie mehr und nicht weniger Veränderungen bringen wird. Die fünf Millionen Arbeitslosen werden von der Mehrheit der Wähler und den meisten Betroffenen nicht länger als eine soziale Frage interpretiert, und das ist auch gut so. Was bisher in Fachzirkeln ziemlich unbestritten war, ist inzwischen zum Wahlen entscheidenden Allgemeinwissen einer Mehrheit geworden. Es ist eine Einsicht aus leidvoller Erfahrung: Der Sozialstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Je nötiger man ihn braucht, umso weniger ist auf ihn Verlass. Soziale Fragen suchen keine (im engen Sinne) „sozialen“ Antworten mehr, sondern eine bessere Politik auf ganz anderen Gebieten. Das soziale Schicksal des Einzelnen und des Landes entscheidet sich jenseits der Sozialpolitik. Und so vollzieht sich vor unseren Augen ein großflächiger Vertrauenstransfer: weg von Personen, Parteien und Politiken, die von sozialer Gerechtigkeit zwar reden und eine „soziale Politik“ einfordern, dies alles aber in den alten Farben, Kostümen und Strategien.

Gerechtigkeit in einer Welt in Bewegung

Das Vertrauen wandert hin zu Positionen, die Veränderungen damit begründen können, dass es am Ende mehr Menschen besser gehen wird als gegenwärtig. Wenn jeder dagegen seine Interessen durchsetzt, wird es allen schlechter gehen. Soziale Gerechtigkeit bleibt ein hoher Wert, aber in einer Welt, die in Bewegung ist, kann man diesem Wert nur näher kommen, wenn man die Gesellschaft nicht wie einen Zustand gerecht zu verwalten sucht, sondern indem man dynamische Prozesse auslöst und gestaltet, die die Chancen von Menschen (Hauptschülern, Arbeitslosen, Forschern, Unternehmern) positiv beeinflusst. Politik macht einen Unterschied. Aber es braucht dazu, gerade um der sozialen Qualität des Ganzen willen, mehr und anderes als eine nachsorgende Sozialpolitik. Wenn die sozialen Fragen auswandern und die Sozialpolitik bleibt, wo sie ist, wird sie zur Entsolidarisierung der Gesellschaft womöglich mehr beitragen als alle Neoliberalen zusammen. Soziale Politik hat nur dann eine Chance, wenn sie als Akteur immer dort ist, wo sich die sozialen Chancen der Menschen entscheiden.

Schröder hat den Anfang gemacht

Bleiben am Ende zwei Fragen: Wird die SPD, herausgefordert und in Frage gestellt vom Linksbündnis und ihrem ehemaligen Parteivorsitzenden, die Kraft und die Konsequenz finden, sich entsprechend zu positionieren? Wird eine Regierung Merkel den Politikwechsel erfolgreich durchsetzen? „Der Sozialstaat ist nicht länger finanzierbar, und er ist zugleich reformbedürftig. ,Wende oder Ende‘ – so lautet die Alternative. Ohne einschneidende Korrekturen ist die Sozialpolitik von ,Einsturzgefahr‘ und einem finanziellen ,Kollaps‘ bedroht.“ Es waren nicht Gerhard Schröder oder Wolfgang Clement, sondern Helmut Kohl und Norbert Blüm, von denen dieses Urteil stammt. Es ging nicht um die Agenda 2010, sondern um den „grundlegenden, langfristig angelegten Politikwechsel“, den Helmut Kohl in seiner ersten Regierungserklärung am 1. Oktober 1982 versprochen hatte.1 Die Voraussetzungen waren damals günstig, heute sind sie eher noch günstiger.2 Von der Regierung Schröder wird man einmal sagen, dass sie den Anfang gemacht hat, die SPD und das Land in eine neue Zeit zu führen. Ob und in welcher Verfassung beide dort ankommen ist eine offene Frage.

 


 

Anmerkungen
1 Zitate aus dem Buch von Manfred G. Schmidt, Bundesrepublik Deutschland 1982-1989 (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 7), Baden-Baden 2005, S. 3 ff.
2 Ebenda, S. 23 ff.: „Jene Regierung hat die besten Chancen, ein ehrgeiziges Reformvorhaben in Angriff zu nehmen und durchzusetzen, die fünf Dinge auf ihrer Seite weiß: 1) eine weit verbreitete Krisenstimmung und die ebenso weit verbreitete Überzeugung, eine gründliche Reform sei unabdingbar, 2) ein ausdrückliches Mandat für die Reform, 3) den „honeymoon“-Effekt, d.h. den Vorteil, im Zeitraum kurz nach dem Regierungswechsel die Fehler, Schwächen und Kosten neuer Maßnahmen eher als Erbe und Verantwortung der Vorgängerregierung denn als Folge der Regierungspraxis der neuen Regierung verkaufen zu können, 4) eine schwache oder gänzlich diskreditierte Opposition und 5) beträchtliche politisch-ideologische Homogenität der Regierungsparteien.“

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