Renaissance der Geopolitik?
Während die unter George W. Bush verfolgte amerikanische Strategie des state building weder in Afghanistan noch im Irak aufgegangen ist, wird das Militär für die Autokratien dieser Welt wieder zu einem Mittel des Territorialerwerbs. Das zeigt Russlands illegale Annexion der Krim. Aber auch China versucht seit einigen Jahren, mithilfe militärischer Macht umstrittene Territorialansprüche geltend zu machen. Selbst in Europa scheuen einige Regierungen nicht mehr vor Nationalismus und Chauvinismus zurück. Und weder Russland noch China scheinen saturiert zu sein, wenn es um Osteuropa und den Kaukasus beziehungsweise das Ost- und Südchinesische Meer geht. Damit stehen wesentliche globale Ordnungsprinzipien der vergangenen 25 Jahre zur Disposition. Mit mehr oder weniger offen ausgetragenen Konflikten um Einflusssphären kehrt die „Geopolitik“ ganz offiziell in die internationale Politik zurück.
Versteht man Geopolitik als die Konkurrenz und Rivalität von Staaten um Macht und Einfluss, so war sie freilich nie von der Bildfläche verschwunden. Außenpolitik ist per se immer auch Macht- und Interessenpolitik. Und dass die Außenpolitik eines Landes unter anderem von seiner geografischen Lage geprägt wird, ist keine besonders neue Erkenntnis. Doch das Konzept der Geopolitik ist ungeeignet, die weltpolitischen Umwälzungen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts adäquat zu erklären – zum einen, weil „Land“ und „Meer“ als die zentralen Orte strategischer Machtanhäufung definiert werden; zum anderen, weil das Konzept im Milieu der Imperial- und Kolonialstaaten des 19. Jahrhunderts entstanden und dem damaligen Denken verhaftet ist. Der britische Geograf Sir Halford Mackinder zum Beispiel sah den zentralen Ort machtpolitischer Ambitionen auf dem ressourcenreichen „Kernland“ des eurasischen Kontinents: „Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland: Wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel (Eurasien): Wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.“ Ähnlich argumentierte später der polnisch-amerikanische Politikwissenschaftler Zbigniew Kazimierz Brzezinski.
An Beschreibungen des internationalen Systems herrschte in jüngster Zeit kein Mangel: Der „Kampf zwischen Mars und Venus“ (Robert Kagan), das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama), der „unipolare Moment“ (Charles Krauthammer) oder die „nonpolare Welt“ (Richard Haas) – all diese Schlagworte erklären die komplizierte Realität immer nur teilweise. In Wahrheit existieren verschiedene Welten der internationalen Politik: die multilaterale und vielfältig vernetzte Welt der OECD, die Welt der „Geopolitik“ und der Rivalitäten zwischen Großmächten (USA, Russland, China), außerdem die Welt des Machtvakuums, der failed states ohne Staatlichkeit und Gewaltmonopol. Die Grenzen zwischen diesen Welten verlaufen zum Teil fließend. So sind die USA sowohl Teil der OECD-Welt als auch der Welt der Geopolitik. Folgt man den geopolitischen Analytikern, sind die Ukraine, Afghanistan oder der Balkan Schlüsselregionen im Kampf um die globale Hegemonie. Wer sie kontrolliere, besitze die Vormacht über das eurasische Kernland – eine These, die sich historisch allerdings kaum untermauern lässt.
Die Gewichte verschieben sich dramatisch
Dem veralteten Denken in Einflusszonen müssen heute die Herrschaft des Rechts, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Unverletzlichkeit der Grenzen, der Minderheitenschutz und die demokratischen Grundprinzipien entgegengestellt werden. Welche Regeln werden das Zusammenleben der Staaten und Völker künftig bestimmen; werden es die des 19. oder die des 21. Jahrhunderts sein? Die Antwort lautet: beide. Wer vom machtpolitischen Aufstieg des eigenen Landes träumt, hat schnell geopolitische Argumente parat, die dieses Ziel als notwendig und alternativlos erscheinen lassen. Die Geografie dient dabei oft als Versatzstück, um eine weltanschauliche Argumentation im Gewande wissenschaftlicher Objektivität zu präsentieren. Hinter geopolitischen „Wahrheiten“ stecken dann ganz profane Interessen (oder krude Verschwörungstheorien).
Die Geschichte der internationalen Politik ist aber auch die Geschichte des Aufstiegs und Niedergangs von Staaten und Imperien. Selbst heute ändert sich das Machtgleichgewicht zwischen den Nationen dramatisch. Die Vereinigten Staaten als letzte verbliebene Weltmacht erleben einen, wenn auch relativen, Niedergang. Im Jahr 2010 wurden sie von China als größte Volkwirtschaft der Welt abgelöst; erstmals seit 1890 ist eine andere Volkswirtschaft größer als die amerikanische. Einige Fachleute prophezeien bereits ein neues Machtgleichgewicht zwischen China und den Vereinigten Staaten – G2 oder „Chimerica“ genannt. Doch derzeit befinden wir uns auf dem Weg hin zu einer multipolaren Welt mit mehreren Machtzentren, darunter Indien, Brasilien, Russland und die EU. Ob diese Gebilde allerdings langfristig Bestand haben oder innere Entwicklungen ihre internationale Handlungsfreiheit einschränken werden, muss offen bleiben. Zugleich schwindet die Macht von Nationalstaaten zugunsten multinationaler Konzerne.
Im Fall der Vereinigten Staaten sollte man mit Prophezeiungen des Niedergangs jedoch vorsichtig sein, auch wenn sich die Amerikaner unter Barack Obama auf sich selbst besinnen und ihre kurze hegemoniale Phase während der Amtszeiten von Bill Clinton und George W. Bush endgültig vorüber ist. Das Ende des amerikanischen Jahrhunderts ist schon oft ausgerufen worden – und jedes Mal zu früh. Der Abstieg der Vereinigten Staaten ist relativ. Seit den siebziger Jahren liegt ihr Anteil an der weltweiten Wirtschaftsleistung konstant bei 25 Prozent. Und ihr Wiederaufstieg ist keinesfalls ausgeschlossen: Die amerikanische Wirtschaft wächst wieder, und die Arbeitslosigkeit geht zurück. Die Schiefergasrevolution wird sie in den kommenden Jahren zu einer Energie-Supermacht beim Export von fossilen Brennstoffen machen. Mithilfe des Frackings könnte Amerika den Zustand geopolitischer Glückseligkeit erreichen. Billigere Energie wird der amerikanischen Wirtschaft ebenso helfen wie dem Staatshaushalt – und auch Amerikas Stellung in der Welt stärken. Militärisch bleiben die Vereinigten Staaten zudem die Führungsmacht der Welt. So wiesen sie 2013 mit 735 Milliarden Dollar höhere Militäraufwendungen auf als die nachfolgenden neun Staaten zusammen.
Der große Verlierer heißt Russland
Zweifellos hat Russland mit der Eskalation in der Ukraine bewiesen, dass es eine Großmacht ist, die zu den klassischen Instrumenten der Geopolitik zurückkehren will. Dabei steht schon jetzt fest, dass der großer Verlierer der Ukraine-Krise Russland selbst sein wird. Viel spricht dafür, dass Präsident Wladimir Putin sein Blatt überreizt hat. Perspektivisch ist Russland viel mehr auf die EU angewiesen als umgekehrt die EU auf Russland, da dem Land im fernen Osten und in Zentralasien mit China ein Rivale ganz anderer Dimension heranwächst. Auch wegen seines riesigen Modernisierungsdefizits braucht Russland die EU. Die Sowjetunion kollabierte 1990/91 nicht nur aufgrund der westlichen Aufrüstungspolitik, sondern vor allem durch eine Sezessionswelle von Nationalitäten und Minderheiten, die aus dem sowjetischen Machtbereich ausbrechen konnten. Russland ist weder ökonomisch noch politisch in der Lage, die Sowjetunion zu restaurieren. Eher sind weitere Desintegrationstendenzen in Russland selbst zu befürchten. Nur Gewalt und der Einsatz von Milliarden Rubel halten die Separationsbewegungen im Nordkaukasus klein. Viel Geld fließt zudem nach Südossetien und Abchasien, die sich von Georgien abgespalten haben. Die „Anziehungskraft“ von Putins Eurasischer Union mit Kasachstan und Belarus dürfte begrenzt bleiben – zumal gegenüber der EU, die eben nicht nur eine bloße Wirtschaftsgemeinschaft ist, sondern ein machtpolitischer Akteur mit gemeinsamen Werten und Sicherheitsinteressen. Ganz nebenbei hat Putin mit der Destabilisierung der Ukraine die Nato reanimiert und die OSZE aus ihrem Dornröschenschlaf geholt.
Die Ukraine-Krise ist die Krise Russlands
Die Ukraine-Krise ist also längst zur Krise Russlands geworden. Das Land hat kein attraktives Gesellschaftsmodell, besitzt jenseits der Rohstoffindustrie kaum eine wettbewerbsfähige Wirtschaft und verfügt über wenige nennenswerte Alliierte. Selbst die als symbolisch verspotteten Wirtschaftssanktionen des Westens haben negative Auswirkungen auf die russische Wirtschaft. Darüber hinaus sind die demografischen Probleme des Riesenreiches kaum reversibel. Das propagierte Ziel einer autarken russischen Wirtschaft ist eine Chimäre. Ohne große Zuwächse bei Geburtenraten oder Einwanderung wird Russland in den kommenden 30 Jahren rund 30 Millionen Einwohner verlieren. Die historisch-völkische Argumentation, mit der Putin die Heimholung der Krim rechtfertigte, brachte ihm zwar einstweilen große Popularität in der russischen Gesellschaft und viel Applaus von rechtsradikalen Parteien in Europa, löste aber selbst bei den mit Russland befreundeten Staaten betroffenes Schweigen aus. Die Attraktivität Russlands ist durch die Krise auf einen Tiefpunkt gesunken.
Auch das Gas-Lieferabkommen mit Peking ist für Moskau alles andere als ein geopolitischer Triumph. Wladimir Putin preist es zwar als den „größten Gasvertrag der Geschichte“, in Wahrheit verdeutlicht das Abkommen bloß, dass Russland nicht mehr die Preise für seine Energierohstoffe verlangen kann, die es sich wünscht – schon gar nicht von China, das die strategische Schwäche Russlands messerscharf analysiert hat.
Auch China hat in den vergangenen Jahrzehnten klassische Geopolitik betrieben, sich aber vor allem um seinen wirtschaftlichen Aufstieg gekümmert. Territoriale Ansprüche erhob es lange Zeit nur auf Taiwan und Tibet, wo der Status quo ohnehin zementiert war. Doch nun fordert Peking im Süd- und Ostchinesischen Meer lautstark Gebiete ein und trifft dabei auf ein kaum weniger aggressives, nationalistisch agierendes Japan. Die drittgrößte (Japan) und die größte (China) Wirtschaftsmacht der Erde beharken sich mittlerweile mit so feindseligen Drohgebärden wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Bisher verliefen die Streitereien um Luftraum und Inseln, unter denen Rohstoffe vermutet werden, glimpflich. Aber es gibt keine Garantie, dass dies so bleibt, denn die Verschränkung von Handel und Wirtschaft allein hat noch nie gewaltsame Konflikte verhindert. Dazu sind Vertrauen, Regeln und Institutionen, aber auch verantwortungsbewusste Politiker notwendig. Derzeit verfolgt China Territorialansprüche gegen sechs Nachbarn gleichzeitig und provoziert damit, wovor es sich am meisten fürchtet: eine Eindämmungs-Allianz zwischen Vietnam, Japan, Malaysia, den Philippinen, Taiwan, Südkorea und den Vereinigten Staaten.
War es also ein naiver Irrtum, zu glauben, mit dem Fall des Eisernen Vorhangs seien auch die großen Machtrivalitäten in Europa passé? Erstmals seit dem Ende des Kalten Krieges befindet sich die EU in einer direkten politischen Konfrontation mit Russland um ihre Erweiterungspolitik. Dies markiert eine Zäsur, weil die EU plötzlich nicht mehr nur als „Friedensmacht“, sondern auch als machtpolitischer Akteur gefragt ist, ob ihr dies gefällt oder nicht. Für die Sicherheit der EU ist ihre Erweiterung ein notwendiger Bestandteil. Es kann ihr nicht gleichgültig sein, was an ihren Grenzen geschieht – weder im Osten noch im Süden.
Allerdings treffen Russlands neue geopolitische Ambitionen die EU weitgehend unvorbereitet. Sie hat sich – zu Recht – angewöhnt m Umgang zwischen Staaten Institutionen, Verträge und Werte für wichtiger zu halten als die Geografie. Denn wie gut ein Land die Phänomene Globalisierung und Digitalisierung wirtschaftlich und gesellschaftlich meistert, ist für seinen Rang in der Welt heute viel relevanter als der Besitz eines eisfreien Hafens. Ein schwieriger Balanceakt: Einerseits muss die EU im Umgang mit Russland wieder lernen, nach den Regeln der Geopolitik zu spielen, inklusive einer glaubwürdigen, allerdings nicht zwingend militärischen Abschreckung. Andererseits sollte Europa tunlichst vermeiden, sich von Russland die Logik des Nullsummenspiels aufzwingen zu lassen. Sicherheit muss auch in Zukunft als gemeinsame Sicherheit gedacht werden.
Die beste aller schlechten denkbaren Ordnungen
Das Europa der EU wird nur erfolgreich und befriedet bleiben, wenn es an den Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte festhält: an der Politik des Interessenausgleichs zwischen kleinen und großen Staaten, am Verzicht auf Zwang durch die mächtigeren Akteure und am Glauben daran, dass vom fairen Ausgleich untereinander alle Seiten profitieren. Der europäische Multilateralismus mag zäh, zeitaufwendig und wenig effizient sein. Er ist jedoch immer noch die beste aller schlechten denkbaren Ordnungen für Europa. Und gerade Deutschland darf nicht den Eindruck erwecken, es suche über die Köpfe der kleineren östlichen Staaten hinweg ein Sonderverhältnis zu Russland.
Eine Weltordnung bestimmt von Institutionen und Normen mag in den Augen Russlands, Chinas und einiger Republikaner in Amerika nichts weiter sein als eine europäische Wunschvorstellung, die derzeit an den harten macht- und geopolitischen Realitäten zerschellt. Doch so leicht sollte man die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte nicht aufgeben. Dazu gehören eine ständige Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, eine internationale Schieds- und Strafgerichtsbarkeit, vertragsbasierte Abrüstung und Rüstungskontrolle, aber auch eine gemeinsame Antwort auf neue Herausforderungen wie den Klimawandel und der Finanzkrise, Ressourcenknappheit, Proliferation oder Cyber-Security. Deutschland und der Westen sollten sich deshalb nicht auf die einfachen Weltbilder der „Geopolitiker“ einlassen. Soft power wird auch in Zukunft attraktiver sein als militärische hard power. Die Vereinigten Staaten konnten ihre Vormachtstellung auch deshalb bis heute halten, weil sie beides haben – im Gegensatz zu Russland und China.
Natürlich geht es in der Staatenwelt auch künftig um Macht und Machtprojektion, um Einfluss und Status, um Abgrenzung und Erweiterung. Diese Grundtatsache ist kein überholtes Denken des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie hat immer gegolten, und wird dies auch weiter tun. Welcher Platz dem Westen in einer solchen Weltordnung zukommt, ist offen, zumal die Vereinigten Staaten zuletzt einiges dafür getan haben, die Akzeptanz ihrer Führungsrolle in der freien Welt zu untergraben.
Da neue globale Foren wie die G-20 sowie neue Mächte wie Brasilien, Indien und China an Bedeutung gewinnen, müssen Europa und die USA nicht nur ihre gemeinsamen Interessen identifizieren, sondern auch eine gemeinsame politische Strategie gegenüber diesen Mächten entwickeln. Das Ziel muss es sein, die Institutionen der Global Governance zu stärken, damit auch China und die Schwellenländer mehr Verantwortung für den Wohlstand und die Sicherheit der Welt übernehmen.
In einer Welt, in der der virtuelle Raum oft wichtiger ist als der reale, in der Waren- und Geldströme keine Grenzen mehr kennen, ebenso wenig wie Terroristen und multinationale Konzerne, ist und bleibt das geopolitische Nullsummenspiel eine Strategie von gestern, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht gerecht wird.