Rettet die Kopernikanische Wende!

"Die Würde des Menschen ist unantastbar": So lautete 1949 die ebenso revolutionäre wie radikale Botschaft des Parlamentarischen Rates von Bonn. Sechs Jahrzehnte später ist es dringend an der Zeit, diese Einsicht ebenso radikal zu verteidigen

Eine Verfassung ist nur so stark wie der Glaube der Bürger an die Grundsätze, die sie formuliert. Wie aber soll der Glaube der Bürger Kraft entwickeln, wenn die Politik unentwegt vor der Schwäche der Verfassung warnt und ihr allenthalben bescheinigt, den Herausforderungen der Gegenwart nicht mehr gewachsen zu sein, also keine taugliche Grundlage der Verfassungspolitik, sondern nur mehr ein Kapitel der Verfassungsgeschichte zu bilden?

Die mutwillige Geriatrisierung des Grundgesetzes im Zuge der Anti-Terror-Politik hat schon vor Jahren begonnen; niemand hat sie prägnanter und brutaler formuliert als der derzeitige Bundesinnenminister. Zur Begründung, weshalb das Grundgesetz der neuen Sicherheitslage und "veränderten gesellschaftlichen Bedingungen" anzupassen sei, beteuerte er im Juli 2007: "Wir leben nicht mehr in der Welt des Jahres 1949." Das war als Hinweis auf ein vermeintliches Nachkriegsidyll zu verstehen, das im Grundgesetz seinen romantischen Ausdruck fand.

Das ist historisch absurd, politisch ist es Demagogie: Selbst ein verheerender Selbstmordanschlag islamistischer Terroristen wäre kaum annähernd mit den Schrecken zu vergleichen, die in den Jahren vor und nach 1949 in Deutschland zu ertragen oder zu befürchten waren. Tatsächlich haben sich nicht nur die gesellschaftlichen, sondern auch die politischen Bedingungen gravierend verändert. Nie haben die Deutschen so sicher gelebt, nie waren die Verhältnisse weiter von einem Ausnahmezustand entfernt. Die Gefahren haben abgenommen, dramatisch zugenommen aber hat die Bereitschaft des Gesetzgebers " nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten westlichen Welt ", zur Vermeidung der Gefahren die Freiheitsrechte der Bürger immer weiter zu beschneiden und das Grundgesetz als nicht mehr zeitgemäß abzutun, als verstaubtes Requisit im Fundus der deutschen Geschichte. Zur Disposition stehen nicht einzelne Grundrechte, betroffen ist das Fundament " das Menschenbild des Grundgesetzes.

Als der Dritte Weltkrieg Pate stand

Als das Grundgesetz geschrieben wurde, stand der Dritte Weltkrieg Pate. Nicht der Druck der westlichen Siegermächte, schon gar nicht die Euphorie beseelter Verfassungspatrioten befeuerte die Arbeit des Parlamentarischen Rates in Bonn. Was ihn antrieb, was ihm während der Beratungen über das Grundgesetz vom 1. September 1948 bis zum 23. Mai 1949 ununterbrochen im Nacken saß, war die Angst, der heraufziehende Kalte Krieg zwischen Ost und West werde schon bald mit Panzern und Bomben geführt, das Trümmerfeld, das Deutschland war, zum letzten Mal in ein Schlachtfeld verwandelt und danach von der politischen Weltkarte verschwinden. Als die 65 Mütter und Väter des Grundgesetzes zusammenkamen, versorgten seit Monaten amerikanische und britische Bomber das von der sowjetischen Besatzungsmacht blockierte West-Berlin, von dem kaum ein Deutscher glaubte " und dem nicht einmal die meisten Politiker der westlichen Alliierten wünschten ", dass es seine Freiheit bewahren könne.

Freiheit? Nichts schien für die Deutschen, auch für die Westdeutschen, im Frühjahr 1949 unerreichbarer zu sein. Nicht trotzdem, sondern deshalb stellte der Parlamentarische Rat die Freiheitsrechte an die Spitze des Grundgesetzes, nicht nur als Versprechen, sondern als Verpflichtung für die Zukunft. Millionen Flüchtlinge hockten in den Lagern, Tausende displaced persons " befreite Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge " zogen durch die Städte, aber das Grundrecht auf Asyl hat den Parlamentarischen Rat kaum beschäftigt, es war selbstverständlich. In den Nachkriegsjahren wurde die westdeutsche Öffentlichkeit von spektakulären Mordfällen erschüttert, aber die Abschaffung der Todesstrafe im Grundgesetz fand in Bonn nur wenige Gegenstimmen. Die Bedrohung der Bevölkerung nicht nur durch Kriminalität, sondern durch die akute Kriegsgefahr war mit Händen zu greifen, die Wahrscheinlichkeit von Anschlägen, von Sabotageakten feindlicher Spione so groß wie nie zuvor. Aber die Anerkennung der Menschenwürde, also auch das Verbot der Folter, als Höchstwert der Verfassung war in Bonn nicht eine Sekunde umstritten.

Wie in Bonn die Revolution ausbrach

Was damals nicht beachtet worden und heute fast wieder vergessen ist: 1948/49 hat sich in Bonn eine Revolution ereignet. Die fehlende Aufmerksamkeit, die sie bis heute im Bewusstsein der Deutschen erfährt, haben sich die Revolutionäre, die Mitglieder des Parlamentarischen Rates, selbst zuzuschreiben. Sie errichteten keine Barrikaden, sondern diskutierten friedlich in ehemaligen Klassenzimmern. Sie dachten an keinen Umsturz, sondern an einen provisorischen Neuaufbau. Ihre Bezeichnung als Revolutionäre hätten sie kopfschüttelnd zurückgewiesen. Und doch haben sie damals mit dem Grundgesetz in 265 Tagen nicht nur das Fundament für die Bundesrepublik gelegt, sondern die Verhältnisse zum Tanzen gebracht.

Von der deutschen Öffentlichkeit unbemerkt, haben die Parlamentarischen Räte damals den Obrigkeitsstaat im Grundgesetz beseitigt, überhaupt den Staat zur Abdankung gezwungen, soweit er der Wertordnung des Grundgesetzes im Wege stand. Was keine Revolution in Deutschland jemals zustande brachte, nicht in der Frankfurter Paulskirche 1848 und nicht auf den Straßen Kiels oder Berlins 1918, ist den Männern und Frauen in der Aula und den Räumen der ehemaligen Pädagogischen Akademie gelungen. Die westlichen Siegermächte hatten den Deutschen die Demokratie befohlen, aber entstanden ist damals sehr viel mehr.

"Der Staat ist um des Menschen willen da"

Die Parlamentarischen Räte haben nicht nur den "Obrigkeitsstaat" aus dem Lehrplan der Nation gestrichen und Staat wie Gesellschaft auf die höhere Schule der Demokratie geschickt. Zugleich haben sie die Legitimation des Staates an eine sittliche Idee gebunden. Die Würde der Bundesrepublik, ihr Selbstverständnis, liegt, so hat es der Parlamentarische Rat bestimmt, in einem Satz beschlossen: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Das war die unerhörte Botschaft von Bonn, die Parole der friedlichsten und erfolgreichsten Revolution, die Deutschland je erlebt hat.

Die entscheidenden Vorarbeiten zu dieser "kopernikanischen Wende" (Werner Maihofer) hatten bereits die Autoren der Länderverfassungen und der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee geleistet. Der Eingangsartikel des Grundgesetzes, auf den sich der Konvent geeinigt hatte, trug unübersehbar die Handschrift von Carlo Schmid (SPD), damals Justizminister von Württemberg-Hohenzollern: "(1) Der Staat ist um den Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen. (2) Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar. Die öffentliche Gewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen verpflichtet, die Menschenwürde zu achten und zu schützen." Im Prinzip war man sich in allem einig " dass die Grundrechte nicht nur in die Länderverfassungen, sondern in das Grundgesetz gehörten, dass sie dort am Anfang stehen und Gesetzgeber, Gerichte und Verwaltung binden sollten, dass sie nicht in ihrem Wesensgehalt angetastet werden dürften und auch, dass eine Änderung des Grundgesetzes unzulässig sei, durch die die freiheitliche und demokratische Grundordnung beseitigt werden könnte.

Die Menschenwürde als oberste Norm

Die Einigkeit endete, als die Debatte darüber begann, ob und in welchen Fällen Grundrechte durch Notverordnungen suspendiert werden dürfen. Sogleich meldete sich Hermann Brill (SPD), Chef der hessischen Staatskanzlei, zu Wort und verlangte, in der Verfassung müsse festgeschrieben werden, "dass die Grundrechte unabänderlich" seien. Auch "so genannte Notstände" müssten "mit den normalen Mitteln der ordentlichen Polizei" bekämpft werden. Am nächsten Tag aber präsentierte Hans Nawiasky einen Entwurf, der der künftigen Bundesregierung in Fällen "erheblicher Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" ein Notverordnungsrecht gab mit der Möglichkeit, Grundrechte einzuschränken. Das sei kein Angriff auf die Grundrechte, sondern diene ihrer Verteidigung, sagte Nawiasky, geschützt werde damit der freiheitliche Staat vor den Feinden der Freiheit. Wieder protestierte Brill und verlangte, man müsse "einmal in Deutschland den politischen und juristischen Mut aufbringen", die Aufhebung von Grundrechten prinzipiell auszuschließen, so geschehen beispielsweise in der hessischen Landesverfassung.

Einige Tage später legte Nawiasky einen neuen Entwurf vor, der ein Notverordnungsrecht der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates nicht nur bei Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, sondern auch des "demokratischen Grundaufbaus" und des "Bestands des Staates" vorsah. Wie einst in Weimar sollten einzelne Grundrechte "befristet" außer Kraft gesetzt werden können: Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, das Postgeheimnis. Nun meldete sich erstmals in der Debatte der Christdemokrat Adolf Süsterhenn, der rheinland-pfälzische Justiz- und Kultusminister, zu Wort. Das Protokoll hat seinen offenbar längeren Beitrag in nur zwei Sätzen zusammengefasst. Im ersten wandte sich Süsterhenn gegen die "allgemein zugelassene Einschränkbarkeit von Grundrechten". Sein zweiter Satz im Protokoll lautet: "Das Grundrecht des Art. A (Menschenwürde, Anm. d. Verf.) dürfe in keinem Falle einschränkbar sein, denn die Wahrung der Menschenwürde sei oberste Norm und selbst für den Verfassungsgesetzgeber unabdingbar." Das war der Grundgedanke der so genannten Ewigkeitsgarantie, in der der Parlamentarische Rat später jeden Eingriff in den Kerngehalt des Grundgesetzes verbot (Artikel 79 (3)). Bemerkenswert war aber auch, in welchem Zusammenhang der konservative rheinland-pfälzische Justizminister die Menschenwürde als oberste Verfassungsnorm propagierte. Auch in Notzeiten, in denen der Staat sich von feindlichen Kräften in seiner Substanz angegriffen fühlt, sollte es ihm selbst ausnahmslos verwehrt sein, seinerseits die eigene Substanz anzutasten und den Schutz der Menschenwürde im Einzelfall zu relativieren.

Die Notstandsverfassung als Wendepunkt

Der Parlamentarische Rat, der wenige Tage nach dem Konvent in Bonn seine Arbeit aufnahm, hat die Regelung eines Notverordnungsrechts nicht weiterverfolgt. Da die Souveränität in der jungen Bundesrepublik in den ersten Jahren " bis zur Aufhebung des Besatzungsstatuts 1955 " ohnehin komplett bei den westlichen Siegermächten lag, entsprach der Verzicht der politischen und rechtlichen Lage. Als die Große Koalition 1968 die Notstandsverfassung " sie war eine Bedingung der Siegermächte " nach jahrelangen Protesten aus allen Schichten der Bevölkerung, vor allem der Studentenbewegung, durchsetzen konnte, wurde erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ein Grundrecht im Namen der inneren Sicherheit beschränkt. Der Schutz des Post- und Fernmeldegeheimnisses in Artikel 10 (1) wurde in einem neuen Absatz 2 durchbrochen: "Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, dass sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und das an die Stelle des Rechtswegs die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt." Das war nicht nur eine massive Beschränkung des Fernmeldegeheimnisses, sondern auch eine partielle Suspendierung der Rechtsweggarantie " beides wurde vom zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts im "Abhörurteil" gebilligt.

Der Protest bleibt erschütternd verhalten

Verglichen mit den Sicherheitsgesetzen, mit denen der Präventionsstaat das Land seit Jahren überzieht, waren die Notstandsgesetze von 1968 beeindruckend harmlos; aber verglichen mit dem erbitterten Widerstand, auf den seinerzeit die Notstandsverfassung selbst in liberal-konservativen Kreisen stieß, ist der Protest gegen die neue Sicherheitsarchitektur erschütternd verhalten. "Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen." Es scheint, dass die "kopernikanische Wende", die die Eltern des Grundgesetzes 1949 eingeleitet haben, heute ihre entschiedensten Verteidiger im Bundesverfassungsgericht findet, jedenfalls nicht in den Parlamenten. Ob die Sicherheitsgesetze die Sicherheit tatsächlich erhöhen, ist eine offene Frage; dass sie die Menschenwürdegarantie immer wieder und immer öfter verletzen, ist hingegen belegt: Der so genannte Große Lauschangriff " vom Bundesverfassungsgericht wegen Verletzung der Menschenwürde auf ein Minimum zurechtgestutzt. Die bundesweit koordinierte Rasterfahndung ohne konkrete Gefahr " vom Bundesverfassungsgericht verworfen unter anderem wegen Verletzung der Menschenwürde. Die Online- Durchsuchung im nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetz " vom Bundesverfassungsgericht wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts für verfassungswidrig erklärt. Die schleswig-holsteinischen und hessischen Regelungen zur automatisierten Erfassung von Kfz-Kennzeichen " vom Bundesverfassungsgericht wegen Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung für nichtig befunden. Das Luftsicherheitsgesetz, das dem Staat die Tötung von Verbrechensopfern erlaubte, den Abschuss eines von Terroristen entführten, möglicherweise zur Waffe eines Selbstmordattentats umfunktionierten Zivilflugzeugs " vom Bundesverfassungsgericht wegen Verletzung des Rechts auf Leben und der Menschenwürdegarantie ebenfalls für nichtig erklärt.

Der Mensch als bloßes Objekt

In der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz hieß es, nicht nur die Terroristen machten ihre Opfer, die Flugzeugpassagiere, zu Objekten, "auch der Staat ... behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion". Weiter als mit diesem Gesetz kann sich der Gesetzgeber nicht vom Menschenbild des Grundgesetzes entfernen. "Wir leben nicht mehr in der Welt des Jahres 1949." Der Bundesinnenminister hat mit dieser Bemerkung auf erschütternde Weise Recht behalten.

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