Rettet Rot-Grün das nordische Modell?
In Schweden, dem Stammland der Sozialdemokratie, sitzt die sozialdemokratische Arbeiterpartei SAP seit 2006 auf den Oppositionsbänken. Doch nun hat sie gute Chancen, bei den Wahlen im September wieder die Regierung zu übernehmen. Dazu hat Stefan Löfven entscheidend beigetragen, der die Partei seit 2012 führt und zuvor Vorsitzender der Gewerkschaft IF Metall war. Mit ihm an der Spitze haben die schwedischen Sozialdemokraten in den vergangenen zwei Jahren einen intensiven innerparteilichen und programmatischen Reformprozess durchlaufen, der in dem neuen Slogan von der „Zukunftspartei“ (framtidspartiet) zum Ausdruck kommt.
Traumatische Zeiten für die erfolgsverwöhnte SAP
Von einem Wahlsieg der SAP erhoffen sich nicht nur die Genossen im Norden Signalwirkung. Denn eigentlich genießt das nordische Modell weltweite Anerkennung – und mit ihm die Sozialdemokraten, die als treibende Kraft in den vergangenen Jahrzehnten wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit einem anspruchsvollen Wohlfahrtsstaat verbinden konnten. Allerdings verweigern die Wähler nicht nur in Schweden der Sozialdemokratie in letzter Zeit die Gefolgschaft.
In Schweden gab es zwar bereits früher bürgerliche Ministerpräsidenten, aber die SAP kam stets als führende Kraft zurück. Umso traumatischer war die erneute Niederlage, die 2010 auf die verlorenen Reichstagswahlen vier Jahre zuvor folgte. Das Selbstbewusstsein der Partei hat dies tief erschüttert. Jene tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, die Colin Crouch in der Berliner Republik 6/2013 auf den Punkt brachte, haben somit auch die schwedische Sozialdemokratie erreicht: Die Basis ihrer einstigen Stärke schrumpft mit der industriellen Arbeiterschaft, dem öffentlichen Dienst und den Gewerkschaften, aufgrund von ökonomischem Wandel und Privatisierungen. Und die Globalisierung der Wirtschaft führt allgemein zu einer Machtverschiebung von der Arbeit zum Kapital. So verzeichnet Schweden den höchsten Anstieg der Ungleichheit unter den OECD-Staaten seit 1985, obwohl es immer noch zu den Ländern mit der gerechtesten Einkommensverteilung gehört.
Wie die Diskurshoheit verloren ging
Das nordische Modell ist für die schwedische Sozialdemokratie zwar weiterhin der Dreh- und Angelpunkt ihrer gesellschaftspolitischen Erzählung, jedoch nagen der soziale Wandel und Globalisierungsdruck am Kommunitarismus als dem prägenden Element der skandinavischen Gesellschaften. Schwedens Sozialdemokraten debattieren bereits seit den achtziger Jahren über notwendige Effizienzsteigerungen im öffentlichen Sektor und seine Öffnung für privatwirtschaftliche Anbieter. Ihre Diskurshoheit über die Richtung von Wirtschaft und Gesellschaft haben die Sozialdemokraten in den nordischen Ländern trotzdem verloren (worauf Håkan A. Bengtsson in Heft 1/2014 der Berliner Republik bereits hingewiesen hat). Denn auch die konservativen Parteien bekennen sich im Grundsatz zum Sozialstaat und versuchen, zumindest einen Teil der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung als ihren politischen Erfolg zu verbuchen. Sie mahnen zudem Korrekturen an – verweisen im Vorfeld der Wahlen zum Beispiel auf die langen Wartelisten im Gesundheitsbereich und versprechen Besserung durch mehr privatwirtschaftliches Engagement im steuerfinanzierten Dienstleistungssektor.
Bei der Anpassung der schwedischen Parteien an den gesellschaftlichen Wandel war die liberal-konservative Sammlungspartei Moderaterna („Die Moderaten“) ganz vorn mit dabei. Unter ihrem jungen Vorsitzenden Fredrik Reinfeldt begann die Partei 2003, sich als die „Neuen Moderaten“ zu positionieren – ähnlich wie New Labour in Großbritannien, nur unter anderen politischen Vorzeichen. Bereits drei Jahre später übernahm Reinfeldt die Regierungsgeschäfte. Und seit Ende vergangenen Jahres nennt sich seine Partei zusätzlich sogar „Schwedens Arbeitspartei“.
In Norwegen ahmt die konservative Partei Høyre diese Strategie erfolgreich nach. Die Sozialdemokraten hingegen vertrauten als natürliche Regierungspartei zu lange allein auf „ihre“ Ministerialbürokratie und verloren darüber den Kontakt zur progressiven Elite. Dies äußert sich heute unter anderem in schwachen Think Tanks links der Mitte, während die Politikberatungen des rechten Spektrums viel besser aufgestellt sind. Die von schwedischen Arbeitgebern finanzierte Denkfabrik Timbro zum Beispiel beeinflusst stark die Debatte der konservativ-liberalen Regierung, besonders über das New Nordic Model. Was dem internationalen Publikum dann als neues, zukunftsweisendes Modell verkauft wird, ist im Land selbst jedoch höchst umstritten.
Eine weitere Herausforderung sind die Machtperspektiven, die für die SAP heute schlechter ausfallen als in der Vergangenheit. In den skandinavischen Ländern gehören Minderheitsregierungen zum Normalfall, wovon lange Zeit besonders die Sozialdemokraten profitiert haben. Anfangs konnten sie oft sogar absolute Mehrheiten erzielen und haben später immerhin als stärkste Kraft jahrzehntelang mit wechselnden Mehrheiten regiert. Dabei kam ihnen häufig die Uneinigkeit des bürgerlichen Lagers zugute. Die Luft für die Sozialdemokraten wurde aber in dem Maße dünner, wie es den Parteien rechts von ihnen gelang, Differenzen zu überbrücken und manchmal sogar formale Koalitionen zustande zu bringen. Selbst als stärkste Parlamentsfraktion landen die sozialdemokratischen Parteien dann trotzdem auf den Oppositionsbänken (wie momentan in Schweden und Norwegen der Fall).
Nach aktuellen Umfragen wäre die SAP momentan zwar mit über 34 Prozent die mit Abstand größte Partei im nächsten Parlament. Allerdings würden sich wenigstens zwei Wermutstropfen in dieses gute Ergebnis mischen: Zum einen weisen die rechtspopulistischen Schwedendemokraten mit etwa 8 Prozent den größten Stimmenzuwachs auf. In Norwegen sind die migrationsfeindlichen Europaskeptiker bereits Teil der Regierung, in Schweden könnten sie ebenfalls zum Königsmacher avancieren. Zum anderen gelänge eine sozialdemokratische Regierungsübernahme nur mit Unterstützung durch eine oder zwei der kleineren Parteien.
So hoch war die Arbeitslosigkeit in Schweden nie
Im Gegensatz zur letzten Wahl 2010, als sie von vornherein ein links-grünes Bündnis ankündigten, werden die Sozialdemokraten diesmal allein in den Wahlkampf ziehen. Damit wollen sie die entstandene Blockbildung aufbrechen und sich in der Tradition ihrer Minderheitsregierungen mehr Machtoptionen erarbeiten. Als heißester Kandidat für eine Kooperation gelten zwar weiterhin die Grünen. Doch auch sie haben schon signalisiert, dass es eine Zusammenarbeit nur um den Preis einer formalen Koalition geben wird. Deshalb bereiten sich die Sozialdemokraten hinter den Kulissen trotzdem auf eine Koalition vor. Rechnet man in den Kategorien eines Mitte-links- und Mitte-rechts-Lagers, käme die derzeitige Regierungskoalition nur noch auf knapp 39 Prozent der Stimmen, ein rot-rot-grünes Bündnis hingegen auf 50 Prozent. Vielleicht reichen sogar ein paar Prozentpunkte weniger, falls eine oder beide der kleineren bürgerlichen Koalitionsparteien unter die Vier-Prozent-Hürde fallen sollten.
Im Wahlkampf selbst geht es vor allem um ein Thema: Arbeitslosigkeit. Im April 2013 hatte Stefan Löfven auf dem SAP-Parteitag in Göteborg die Losung ausgegeben, dass Schweden in Sachen Beschäftigung wieder die Nummer eins in Europa werden müsse. Tatsächlich lag die Arbeitslosigkeit vor allem bei den Jugendlichen mit 22,6 Prozent nur knapp unter dem EU-Durchschnitt (23,7 Prozent), was in den Augen der schwedischen Bevölkerung viel zu hoch ist. Das sah die EU-Kommission in ihrem jüngsten Bericht genauso und stellte für drei schwedische Regionen mit sehr hoher Jugendarbeitslosigkeit Hilfsgelder zur Verfügung. Viele Schweden empfinden dies durchaus als peinlich, da sie es gewohnt sind, international als Vorreiter zu gelten. Nach Ansicht der Kommission müsse vor allem der Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtert werden. Der Übergang von der Schule ins Arbeitsleben sei häufig problematisch; und es gebe trotz durchgeführter Reformen immer noch zu wenig junge Leute, die eine Berufsausbildung machen oder eine Lehrstelle antreten.
Pisa-Schock wie einst in Deutschland
Der Gewerkschaftsdachverband LO und die SAP haben deshalb eine Taskforce „Beschäftigungspolitik“ ins Leben gerufen. Damit möchten sie wieder an die politökonomischen Wurzeln der Sozialdemokratie aus den fünfziger Jahren anknüpfen und arbeiten letztlich an einer Modernisierung des Rehn-Meidner Modells von 1951. Dieses setzte auf das gesamtwirtschaftliche Zusammenspiel einer strengen Finanz- mit einer solidarischen Lohn- und proaktiven Arbeitsmarktpolitik. Mit Vollbeschäftigung, hohen Wachstumsraten und Einkommensgerechtigkeit war dieses Modell über drei Jahrzehnte lang die Grundlage der erfolgreichen Wirtschaftspolitik Schwedens.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich der schwedische Wohlfahrtsstaat jedoch stark gewandelt: Der privatwirtschaftliche Einfluss im öffentlichen Sektor ist erheblich gewachsen, und freie Träger konnten mithilfe von Steuergeldern im Schulwesen, in der Altenpflege oder mit Asylbewerberheimen zum Teil hohe Gewinne erzielen. Die Öffnung des öffentlichen Sektors hatten die sozialdemokratischen Regierungen in den neunziger Jahren vorsichtig mit eingeleitet. Seit 2006 haben die beiden konservativen Reinfeldt-Kabinette diese Regelung aber so sehr ausgeweitet, dass das Ausmaß und Gebaren der privaten Dienstleister in die Kritik geraten ist.
Die Qualität des Schul- und Gesundheitswesens ist gesunken. Das schlechte Abschneiden bei den Pisa-Vergleichsstudien hat das Land gar in einen Pisa-Schock versetzt, ähnlich wie es 2001 in Deutschland geschah. Die Ursachen für den Abstieg des allgemeinen Bildungswesens verorten die Sozialdemokraten vor allem in der ausgeweiteten Wahlfreiheit und bei der Zunahme von Privatschulen, die die bürgerliche Regierung stark gefördert hat. Überhaupt möchte die SAP die Qualität der öffentlichen Dienstleitungen wieder anheben, indem sie private Angebote stärker reguliert und Standards einfordert. Dabei stellt sie sich jedoch nicht prinzipiell gegen privatwirtschaftliche Träger und ihre erzielten Gewinne. Die Linkssozialisten – als weiterer potenzieller Koalitionspartner neben den Grünen – fordern hingegen eine Deckelung der Gewinnentnahmen, ähnlich wie weite Teile der Gewerkschaften.
Kritiker werfen den Sozialdemokraten deshalb vor, sie seien mit ihrem Wahlkampf zu zaghaft gestartet und orientierten sich zu sehr an den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Mittelschicht. Zudem könnte sich die Hoffnung als trügerisch erweisen, dass die Reinfeldt-Regierung nur aufgrund ihrer Abnutzungserscheinungen verlieren wird. Bereits vor den letzten Wahlen 2010 hätten die Sozialdemokraten zunächst vorne gelegen, und dann sei ihnen im Endspurt noch die Luft ausgegangen. Aus diesem Grund mahnen die Kritiker eine deutlichere Abgrenzung an; zumal der konservative Regierungschef immer mehr Merkelsche Wendigkeit an den Tag legt: Nach mehreren Steuererleichterungen in seiner Amtszeit (und dem Rückgang des Steueranteils am BIP um 4 Prozent seit 2005) hat Reinfeldt nun eine Kehrtwende angekündigt.
Und was wird aus dem nordischen Modell, falls die schwedischen Sozialdemokraten nochmals verlieren? Die Zukunft des attraktiven Wirtschaftsmodells hängt zum Glück mehr von starken und handlungsfähigen Gewerkschaften ab, als von der Präsenz der Sozialdemokraten in der Regierung. Zumindest beruht das nordische Modell vor allem auf gewerkschaftlichen Errungenschaften, wie sie mithilfe des Kollektivvertragswesens erreicht werden konnten. Die konservativ-liberale Regierung hatte aber bereits zu Beginn ihrer ersten Amtszeit versucht, in das Feld der Arbeitsbeziehungen einzugreifen und die Gewerkschaften zu schwächen. Dies macht deutlich, dass die organisierte Arbeiternehmerschaft der politischen Flankierung durch die Sozialdemokratie bedarf. Anderenfalls könnte die Erosion der sozialen Demokratie unvermindert weitergehen. So gesehen ist es weit über Schweden hinaus von Bedeutung, ob die schwedischen Sozialdemokraten bei den Wahlen im September einen Erfolg einfahren. Ein kluges Doppelpassspiel zwischen den Gewerkschaften und der SAP wäre dafür eine gute Voraussetzung.