Rot-Grün 2.0 - ein Blick aus den Ländern auf 2013
In den Bundesländern entsteht derzeit „Rot-Grün 2.0“. Dabei können die rot-grünen Regierungskoalitionen die Grundlagen dafür legen, dass dieses Bündnis wieder die Deutungshoheit über die gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland erlangt. Ob es um die „Politik des Gehörtwerdens“ in Baden-Württemberg geht, um die Gestaltung des „sozial-ökologischen Wandels“ in Rheinland-Pfalz oder um die gemeinsame Zukunftsgestaltung in Nordrhein-Westfalen: Rot-Grün 2.0 steht für Zusammenhalt und Zusammenarbeit, für die Gestaltung der Energiewende und die Stärkung demokratischer Partizipation, für Verbraucherschutz und Gesundheit, für Integration und Datenschutz, für ökologische Modernisierung und sichere Arbeitsplätze, für Chancengleichheit und Frauenrechte.
Rot-Grün 2.0 wirbt für die inklusive Gesellschaft
Die großen Gemeinsamkeiten beider Parteien kulminieren in einem neuen Grundkonsens. Rot-Grün 2.0 gestaltet Politik in der Globalisierung – nicht dagegen oder dafür. Daher fällt es den rot-grünen Bundesländern leichter, den Folgen der aktuellen Finanzkrise zu begegnen. Der Klimawandel ist ein Querschnittsthema, das Umwelt-, Energie-, Verkehrs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik gemeinsam betrifft. Auf allen diesen Feldern ist sich Rot-Grün 2.0 über den Weg und das Ziel einig. Durch den Willen zum Wandel wurden neue Ansätze etabliert, beispielsweise in der Wirtschafts- oder Klimaschutzpolitik. Ein aktiver aber verantwortungsvoller Staat gestaltet den Wandel mit. Rot-Grün 2.0 weiß um die Notwendigkeit, die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren und versucht, Fokus und Prioritäten des staatlichen Handelns genauer zu definieren.
Rot-Grün 2.0 wirbt für eine inklusive Gesellschaft – und greift dabei eine Debatte über zeitgemäße Inklusionspolitik auf, die in der Gesellschaft bereits lose geführt wird. Klar ist: Gelebte Inklusion geht weit über die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hinaus. Im Schulbereich weisen empirische Studien auf die Überlegenheit inklusiver gegenüber separierender Bildung und Erziehung hin. Bundesländer wie Rheinland-Pfalz haben sich bereits entschieden, das Schulgesetz entsprechend zu verändern: Eltern lernbeeinträchtiger Kinder können sich aussuchen, ob diese eine Förderschule oder eine Regelschule besuchen – und das ohne Einschränkungen. Rot-Grün 2.0 steht für den Ausbau eines Netzes so genannter Schwerpunktschulen. Denn vom gemeinsamen Lernen profitieren beide – behinderte und nicht behinderte Kinder.
In kaum einem Industriestaat sind die Aufstiegschancen so ungleich verteilt wie in Deutschland. Das spaltet unsere Gesellschaft. Daher ist es das Ziel rot-grüner Politik, stärker in frühzeitige Vorsorge, in Erziehung, Bildung und Gesundheit, vor allem aber in eine qualitativ verbesserte soziale Infrastruktur zu investieren, um allen Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Sicherlich, die Stärkung einer präventiven Sozialpolitik führt nicht von heute auf morgen zu sichtbaren Erfolgen, auch werden die Ausgaben im nachsorgenden Bereich nicht sofort reduziert. Doch eine solche langfristige Politik lohnt sich – und sie rechnet sich auch! So werden Investitionen in frühkindliche Bildung und Betreuung langfristig mit einer Rendite von acht Prozent verzinst. Und in dieser Rechnung sind die „sozialen Folgekosten“ etwa von geringen Bildungsniveaus, die vermieden werden können, noch gar nicht berücksichtigt.
Für das Land Nordrhein-Westfalen hat das Forschungsinstitut Prognos diesen Politikansatz einmal „durchgerechnet“. Die Gutachter schlussfolgern, dass eine intelligente, auf Vorsorge und Inklusion angelegte Politik dem Land rund acht Milliarden Euro pro Jahr erbringen würde. Hier liegt ein zentraler Unterschied zu konservativen Ansätzen: Rot-Grün hält trotz Schuldenbremse an Zukunftsinvestitionen fest. Die Gesellschaft wird nicht nur durchlässiger, sondern auch die wirtschaftliche Leistungskraft wächst umso stärker, je mehr sozialer Ausgleich und gut ausgebaute öffentliche Dienstleistungen existieren. Rot-Grün 2.0 erneuert das große gesellschaftliche Versprechen, dass Aufstieg durch Bildung möglich ist.
Die Folgen des durch den Menschen verursachten Klimawandels sind in Deutschland schon vielerorts spürbar. Abgesehen von den Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen sind damit enorme volkswirtschaftliche Kosten verbunden. Um den Klimawandel in einem erträglichen Rahmen zu halten, muss der globale Temperaturanstieg begrenzt werden. Hierzu sind gewaltige Anstrengungen auf allen politischen Ebenen notwendig. Diese Schritte sind in einem Klimaschutzgesetz zu bündeln: Auf regionaler Ebene müssen handlungsorientierte Klimaschutzpläne erarbeitet werden, die die notwendigen Klimaschutzmaßnahmen zusammenführen.
Ein zentraler Bestandteil des Klimaschutzes ist die Energiewende. In Rheinland-Pfalz ist sie im Fahrplan und kann als Vorbild für die Gestaltung der Energiewende im Bund dienen: Den Gemeinden wird die Tätigkeit im Bereich der Energieversorgung erleichtert und den Kommunen das Entscheidungsrecht über Wind- und Solarenergieanlagen weitgehend übertragen. Der Wald wird teilweise für die Windkraft geöffnet und die Regional- und Landesplanung für den Wandel in der Energiegewinnung modernisiert. Damit kann das traditionelle Energieimportland Rheinland-Pfalz sukzessive zu einem bilanziellen Exporteur von Erneuerbaren Energien werden.
Rot-Grün 2.0 nimmt die Energiewende ernst
Doch nach wie vor liegen etwa zwei Drittel der nationalen Stromproduktion in den Händen der vier großen Energieversorger. Deren Großkraftwerke sind größtenteils abgeschrieben, während die Unternehmen die Kosten der durch sie verursachten Umweltschäden nicht selbst tragen müssen. Diesen Anbietern sollen durch die „Kommunale Energiewende“ kleine bis mittelgroße regionale Energieversorger gegenübergestellt werden. Nur so kann die Wende hin zu 100 Prozent Erneuerbarer Energien gelingen und die regionale Wertschöpfung vor Ort gehalten werden.
Zudem werden mit einer flächendeckenden Energieberatung für Kommunen und Unternehmen Einspar- und Effizienzpotenziale gehoben und die Akteure vernetzt. Damit steigt auch die Akzeptanz von Wind- und Solarenergie, denn davon profitieren die Bürger – und nicht die Großkonzerne. Auf diese Weise kann langfristig ein stabiler Energiepreis erreicht werden. Zudem ermöglicht die dezentrale Struktur der im Lande betriebenen Windkraft- und Solarstromanlagen eine Entlastung der Übertragungsnetze, was Kosten spart.
Die Stärke Deutschlands ist weiterhin vor allem die Stärke seiner Industrie. Allerdings zeigt die anhaltende Krise, dass unser Wachstumsmodell, das auf hohem Konsum, globalen Ungleichgewichten und intensiver Nutzung knapper Ressourcen beruht, nicht nachhaltig ist. Diese Krise hat den Strukturwandel von Wirtschaft und Arbeit deutlich beschleunigt. Zeitgleich stehen wir vor der Herausforderung, den Kohlendioxid-Ausstoß bis 2050 um 95 Prozent zu senken, um die Erderwärmung auf maximal 2 Grad Celsius begrenzen zu können. Es ist die Aufgabe der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft, diesen Prozess zu gestalten und die Chancen zu nutzen. Die aktuelle Bundesregierung lässt bei dem Thema die notwendige Konsequenz vermissen, derweil Rheinland-Pfalz, aber auch das noch stärker von notwendiger Transformation betroffene Nordrhein-Westfalen in Deutschland die Zugpferde einer konsequenten Klimaschutz- und Industriepolitik sind.
Mit der Industrie und den Gewerkschaften konzipiert Rheinland-Pfalz derzeit einen Dialog zur Industrieentwicklung. Und in Nordrhein-Westfalen berät eine neutrale und überparteiliche Stelle die Akteure, vermittelt Praxiswissen über Instrumente und Methoden von Öffentlichkeitsbeteiligung. Gemeinsam mit den Akteuren soll ein ressourcenschonendes, ressourceneffizientes und zukunftsgerichtetes Wirtschaften gestärkt werden. Eine ambitionierte Zielsetzung, da Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz eine besondere Bedeutung für die gesamte Wirtschaft haben. Ein solcher Transformationsprozess schafft Arbeitsplätze, schont die endlichen Ressourcen und erzeugt zusätzliche Wertschöpfung durch Industrie und Mittelstand.
Der gesellschaftliche Umbruch manifestiert sich in Deutschland im demografischen Wandel. In Rheinland-Pfalz wurden bereits Konsequenzen gezogen: Alle mit dem Bevölkerungswandel verbundenen Entwicklungen – von der Hausarztversorgung im ländlichen Raum bis zur Reduzierung von Busverbindungen – werden zusammengedacht. Die gesetzlichen Initiativen werden einem Demografie-Check unterzogen und zukunftsfähige Lösungen für ein neues gesellschaftliches Miteinander entwickelt.
Die Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels stellt die Politik vor viele Fragen, vor allem auch angesichts der Schuldenbremse. Zu rechnen ist mit einem deutlichen Ausgabenanstieg in der Alterssicherung und der Gesundheit. Die meisten Menschen wünschen sich, so lange wie möglich selbstbestimmt in der eigenen Wohnung zu leben. Heute werden etwa 70 Prozent aller Pflegebedürftigen zu Hause versorgt, und rund die Hälfte von ihnen wird ausschließlich von Angehörigen gepflegt. Wir müssen eine gesellschaftliche Debatte darüber führen, wie der entstehende steigende Finanzbedarf zu schultern ist.
Rot-Grün 2.0 will den Menschen auch bei einem hohen Pflege- und Unterstützungsbedarf ein Leben im vertrauten Umfeld ermöglichen. Im Bereich des Wohnungsbaus steht Rot-Grün 2.0 daher für Programme, die das Angebot durch neue Wohnformen erweitern und die ein gemeinschaftliches und barrierefreies Wohnen auch in ambulant betreuten Wohngruppen ermöglichen.
Zugleich werden auf die Kommunen weitere Folgekosten des demografischen Wandels zukommen. So entstehen Umrüstungskosten für barrierefreie Angebote und für längere Schülerbeförderungen, da das Netz der Einrichtungen grobmaschiger wird. Auch drohen steigende Sozialhilfeausgaben, wenn die Altersarmut nicht abgemildert werden kann. Ferner geht es darum, wie die Feuerwehr und der Katastrophenschutz in Zukunft organisiert, Kommunalverwaltungen effizient organisiert und die ärztliche Versorgung sichergestellt werden können.
Rot-Grün 2.0 konsolidiert die Haushalte
Die Auswirkungen des demografischen Wandels werden die ländlich geprägten Regionen besonders treffen. Zugleich liegt eine große Herausforderung darin, den stärker werdenden Zuzug in die größeren Städte durch entsprechende strukturelle Maßnahmen zu begleiten. Dazu wird Rot-Grün die Kommunen finanziell besser ausstatten und auf Landesebene durch die Regelungen des jeweiligen kommunalen Finanzausgleichs die mit Sozialausgaben besonders belasteten Kommunen besserstellen.
Rot-Grün 2.0 muss neue Konsolidierungsstrategien entwickeln. Die permanente Kreditfinanzierung der Staatshaushalte führt dazu, dass der Staat nicht mehr all seinen Aufgaben nachkommen kann. Zudem ist die Zinsbelastung der öffentlichen Haushalte sozial ungerecht. Unser Staat ist auf allen Ebenen chronisch unterfinanziert. Die Staatsquote liegt in Deutschland unter dem EU-Durchschnitt und ist rückläufig. Der derzeitige Anstieg der Verschuldung ist darauf zurückzuführen, dass der Staat den Großteil der Kosten, die durch die Krise entstanden sind, übernommen hat. Rot-Grün 2.0 spart nicht um des Sparens willen. Es geht darum, unter den Bedingungen der demografischen Veränderung unserer Gesellschaft die Zahlungsfähigkeit des Landes zu erhalten und den Schuldenstand ab 2020 abzubauen, damit sich die Menschen in den kommenden Jahren auf gute staatliche Leistungen verlassen können.
Bei der Entwicklung von Grundsätzen rot-grüner Konsolidierungspolitik lohnt sich der Blick in die Länder, in denen derzeit Rot-Grün 2.0 entsteht: Alle Ausgaben kommen auf den Prüfstand, ohne pauschale Kürzungen vorzunehmen. Starke Schultern können mehr tragen als schwache, daher gibt es in den Ländern auch eine Konsolidierung über die Einnahmeseite. Soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit sind die alten und neuen Leitlinien von Rot-Grün. Bei allen Entscheidungen wird geprüft, wen sie am härtesten treffen. Was trifft Familien und alte Menschen mit geringem Einkommen besonders, und wo ist die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in Gefahr? Auch wird geprüft, ob Innovationen, Arbeitsplätze oder Versorgungsstrukturen gefährdet sind.
Meistens stehen neuen Schulden gute und dauerhafte Investitionen in die Zukunft gegenüber. Es gilt aber auch, dass nicht alles Wünschenswerte notwendig ist und dass jede zusätzliche Ausgabe durch Einsparungen aufgefangen werden muss. Im Rahmen einer Aufgabenkritik erschließt Rot-Grün 2.0 Sparpotenziale. Beispielsweise wurden in Rheinland-Pfalz mithilfe einer Kommission Effizienz- und Optimierungspotenziale in den Mittelbehörden sowie den übrigen Landesbehörden ermittelt.
Mit dem Leitbild der „inklusive Gesellschaft“, dem Thema demografischer Wandel und der Umsetzung der Energiewende hat Rot-Grün drei gesellschaftliche Großthemen zu gestalten. Das kann die Politik nicht alleine. Deshalb wollen wir mehr Beteiligung wagen und die repräsentative Demokratie durch den Ausbau von Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger stärken, so wie es Grün-Rot in Baden-Württemberg im Fall von „Stuttgart 21“ getan hat. Transparenz und Informationsfreiheit gehören gestärkt, damit Entscheidungen besser nachvollzogen werden können und die Partizipation von Allen möglich wird. Das betrifft sowohl große Infrastrukturprojekte als auch andere Reformvorhaben. In einer Enquete-Kommission befasst sich das rheinland-pfälzische Parlament mit Fragen der „aktiven Demokratie“. Hier werden derzeit Dialog- und Beteiligungskonzepte entwickelt, um die Bürger frühzeitig, umfassend und in verständlicher Form zu informieren sowie Möglichkeiten der Beteiligung an grundsätzlichen Entscheidungen in allen Entwicklungs- und Planungsphasen zu eröffnen.
Für uns steht am Anfang die Stärkung der Beteiligungsgerechtigkeit, denn bürgerschaftliches Engagement hängt sehr stark vom gesellschaftlichen Status, besonders vom Bildungsniveau und der gesellschaftlichen Integration der Menschen ab. Allerdings: Selbst wenn es gelingt, ressourcenschwache und politikferne Bevölkerungsgruppen zum politischen Engagement zu mobilisieren, werden politische Diskussionen in der Regel von Angehörigen der oberen Mittelschicht dominiert. Diese Effekte treten umso stärker auf, je aufwändiger das Engagement ist und je abstrakter beziehungsweise weiter entfernt vom unmittelbaren Lebensumfeld der Menschen die behandelten Fragen sind. Daraus wurden Schlüsse gezogen, die über Rheinland-Pfalz hinaus Strahlkraft entfalten müssen, wenn Rot-Grün weiterhin Avantgarde für eine aktive Demokratie sein möchte.
Fazit: Rot-Grün 2.0 hat sich inzwischen stark von der Politik der Bundesregierung abgekoppelt. Dieser Weg ist geprägt durch starke Gemeinsamkeiten aller rot-grünen Landesregierungen. Aus den Bundesländern heraus gestaltet Rot-Grün 2.0 schon heute einen großen Teil der Bundesrepublik – zum Teil trotz, zum Teil gegen die Bundespolitik der Regierung Merkel/Rösler. Politik und Debatte heben sich immer mehr ab vom Berliner Stil, der nur noch selten eigene Innovationen hervorbringt. So schafft Rot-Grün 2.0 auf vielen Politikfeldern die Blaupause für eine rot-grüne Bundesregierung ab September dieses Jahres.
Eine ausführliche Analyse der Autoren zur Politik rot-grüner Landesregierungen wird in Kürze als Policy Brief beim Think Tank Das Progressive Zentrum erscheinen.