Russlands Gesellschaft formatiert sich neu

Mischa Gabowitsch analysiert die neuen russischen Protestbewegungen - und schreibt zugleich eine Gegenwartsgeschichte der Ära Putin

Vor zwei Jahren begann in Russland eine öffentliche Protestwelle gegen das herrschende politische System – ein System, das an die Person Wladimir Putin gebunden ist. Die Ämterrochade zwischen Putin und Dmitri Medwedew im September 2011 hatte den Anlass geliefert für Demonstrationen im ganzen Land. In den darauffolgenden Monaten zeigte sich die fehlende Legitimität eines Regimes, das stets für sich in Anspruch nimmt, stabil zu sein. Die Machthaber ergriffen eine Reihe von Maßnahmen, um dem Protest seine legale, strukturelle und personelle Basis zu entziehen.

Kurzum: Nach Jahren der „gelenkten Demokratie“ kehrt die öffentliche politische Auseinandersetzung nach Russland zurück. Und weil die Duma mit ihren gelenkten Parteien für die Zivilgesellschaft kein Forum mehr bietet, verschaffen sich die Russen auf der Straße Gehör.

Aufgrund dieser Entwicklung sollte sich die deutsche Politik nicht weiter auf die Machteliten Moskaus fixieren, sondern die russische Gesellschaft in den Blick nehmen. Genau diese Perspektive nimmt der Soziologe Mischa Gabowitsch in seinem neuen Buch ein. Seine radikale These: Die atomisierte Gesellschaft Russlands konstituiere sich im Protest neu.

Wie paranoid sind Russlands Mächtige?

Gabowitsch eröffnet einen Zugang zu Russlands neue Protestkultur jenseits der tagesaktuellen Medien und der Politikanalysen der Think Tanks. Es gelingt ihm, ein differenziertes Bild der russischen Gesellschaft zu zeichnen. Dabei ist der Inhalt des Buches weitaus umfassender, als sein Titel vermuten lässt: Es handelt sich nicht nur um eine Analyse der Protestbewegung, sondern zugleich um eine Geschichte der russischen Gegenwart.

Jedes der acht Kapitel könnte für sich stehen: Der Autor seziert das „System Putin“, erklärt die Genese des Protests aus der Praxis der Wahlbeobachtung, widmet sich der Sozialstruktur der Demonstranten, erklärt den Fall „Pussy Riot“ und reflektiert die Spannung zwischen Gewalt und Zivilität – bei den Protestierenden und im Staatsapparat.

Abschließend beschreibt Gabowitsch die transnationale Dimension der russischen Protestkultur. Er erklärt die paranoide Weltanschauung der russischen Machthaber, die hinter jeglichem Dissens den Westen, genauer gesagt die Vereinigten Staaten und ihre Geheimdienste als Urheber vermuten. Ein Grund für die Obsession der Regierung mit Spionage und „Landesverrat“ lautet, dass zahllose Geheimdienstmitarbeiter im Staatsapparat aufgestiegen sind. So lässt sich auch die Offensive der Gewaltapparate gegen ausländische Nichtregierungsorganisationen erklären, die in diesem Jahr auch deutsche Stiftungen traf.

Die Protestbewegung, so Gabowitsch, sei jünger, pluraler und stärker in der Provinz verwurzelt als viele glauben. Darüber hinaus verfüge sie über ein großes Mobilisierungspotenzial, indem sie die Gefühle eines wichtigen Teils der Bevölkerung anspreche. Und anders als viele Medien es dargestellt hätten, handele es sich keinesfalls nur um eine Unzufrieden-heit der Moskauer Mittelklasse.

Doch Gabowitsch sieht auch die Schwächen der Bewegung. Sie ist politisch heterogen und verfügt lediglich über einen Minimalkonsens, nämlich den Widerstand gegen Putin und die Gewalt des Regimes. Deshalb ist er skeptisch, wie viel die Bewegung kurzfristig erreichen kann: „Grundlegende Veränderungen in Russlands politischer Kultur sind davon abhängig, ob Institutionen entstehen, die einen solchen Wertewandel tragen können – nicht aber von einem simplen Personalwechsel.“ Gabowitsch plädiert dafür, bei der Analyse der Proteste nicht nur nach kurzfristigen Erfolgen zu suchen, sondern die Potenziale für einen mittelfristigen Wandel zu erkennen.

Die Illusionen der Deutschen

Bis vor kurzem hing die deutsche Russlandpolitik der Illusion nach, Moskau würde noch immer einen Kurs der Liberalisierung und Modernisierung des Landes verfolgen. Dabei wäre Berlin gern ein Partner. In Wirklichkeit endete die unter Gorbatschow begonnene Liberalisierung von oben bereits Mitte der neunziger Jahre. Seitdem erlebten autoritäre Staatlichkeit und illegitime Gewalt ein Comeback.

Zivile Impulse kommen in Russland aus der Gesellschaft – doch Deutschland wiederholt den Fehler, den es bereits in den siebziger und achtziger Jahren in Bezug auf das Verhältnis zu den kommunistischen Parteistaaten Osteuropas beging: Berlin sucht einseitig den Kontakt zu den Machthabern und versäumt es, Kontakte in die Gesellschaft hinein aufzubauen und zu pflegen.

Die falsch verstandene Entspannung

Eine Demokratisierung Russlands kann nur aus der eigenen Gesellschaft heraus gelingen. Der Einfluss des Westens – auch Deutschlands – auf diese Entwicklung ist gering. Gerade deshalb gilt es, Beziehungen zu den zivilgesellschaftlichen Akteuren zu pflegen und wo nötig größere Distanz gegenüber dem offiziellen Moskau zu wahren. Eine derartige Akzentverschiebung entspräche Deutschlands breiten Interessen in der gesamten Region Osteuropas und Eurasiens viel eher, als sich auf eine Machtelite zu fokussieren, deren Legitimität schwindet.

Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre es, die Magnitskij-Gesetze der Amerikaner zu übernehmen, die kriminellen russischen Beamten die Einreise verbieten. Genauso stünden der Einsatz für Menschenrechte und die Intervention für die Verfolgten Berlin besser zu Gesicht als das formelhafte Festhalten an einer „Modernisierungspartnerschaft“, für die es keinen Partner gibt.

Gerade die Sozialdemokratie sollte sich von einer falsch verstandenen Tradition der Entspannungspolitik befreien, die nur auf die Herrschenden setzt. Vielmehr braucht es außenpolitische Akzente, die Bürgerrechte stärker betonen. Dabei muss klar sein, dass ein ziviler Wandel Russlands nicht nur im Interesse der russischen Bürger liegt, sondern auch Deutschlands und der Europäischen Union. Dann würde der Weg frei zu einer Partnerschaft mit Russland, die weit über die guten Geschäftsbeziehungen der Gegenwart hinausreicht.

Mischa Gabowitsch, Putin kaputt?!: Russlands neue Protestkultur, Berlin: Suhrkamp Verlag 2013, 438 Seiten, 16 Euro

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