Schaut auf diese Städte!

Als "Wiege der Demokratie" feiern Politiker die Kommune gern - mit Recht. Doch so richtig interessiert sich kaum jemand für die Städte und Gemeinden - mit bösen Folgen. Denn strukturelle Mehrheiten beginnen an den Graswurzeln

Nur knapp sprang Rot-Grün dem Tod von der Schippe. Kein Grund zum Zurücklehnen: Die Union lässt nach der Niederlage eine Arbeitsgruppe unter Jürgen Rüttgers forschen, woran es gehapert hat - vor allem bei den Frauen und in den Großstädten. Angela Merkel investiert hier in die Zukunft, und der SPD sollte klar sein: Das war eine Anti-Stoiber-, keine Pro-SPD-Wahl. Insgesamt bleibt es eine bittere Ironie, dass Europas Sozialdemokraten in jüngster Zeit serienweise abgewählt wurden - gerade da der Kapitalismus weltweit delegitimiert dasteht. Eine Ursache sieht der Gießener Politologe Claus Leggewie im gerissenen Gesprächsfaden zwischen etablierten "Regierungslinken" und sozialen Bewegungen, wie sie von "Attac" repräsentiert werden. Ein zweites Sprachproblem registriert der Göttinger Politologe Franz Walter zwischen medial verstärkten Parteiführungen und Basis. Das "Mittebündnis" ihrer Führung mit den Massenmedien habe die sozialdemokratischen Aktivisten und Funktionäre sprachlos und inaktiv gemacht. Dies vertiefe die wachsende Kluft zwischen neuer Mitte und Unterschichten, zwischen Modernisierungsgewinnern und -verlierern in den Linksparteien und der Wählerschaft.


Die These dieses Aufsatzes lautet, dass sich noch ein dritter Problemkomplex auf die Aussichten der Sozialdemokratie auswirkt: Der flexible Kapitalismus produziert Reichtum, aber auch soziale Ungleichheit und deren Folgeprobleme vor allem in den Städten, den traditionellen Hochburgen der Sozialdemokratie. Gerade hier geht es darum, Problemlösungen anzubieten, die den wachsenden Wünschen breiter Bevölkerungsgruppen nach mehr Individualität und zugleich mehr Sicherheit Rechnung tragen. Die Krise der europäischen Sozialdemokratie deutet darauf hin, dass diesem Bedürfnis zu wenig entsprochen wurde. Dabei beobachten viele, dass die lokale wie die globale Ebene gegenüber der nationalen aufgewertet werden. Gelingt es also der Sozialdemokratie nicht, auf der "glokalen" Ebene politische Antworten auf den flexiblen Kapitalismus zu finden, wird sie von bürgerlicher oder populistischer Politik abgelöst - oder von Wahlabstinenz. Nun sind in der SPD vor Ort, zehn Jahre nach Willy Brandts Tod, die Ansatzpunkte für globale Politik rar geworden, wie ein Blick auf viele entschlafene Nord-Süd-Partnerschaften zeigt. Aber auch die Lokalpolitik steht nicht wirklich gut da.

Den Bürgern gefallen oder lieber der Partei?

Rot-Grün fuhr in den Jahren 1998 bis 2002 bei Kommunalwahlen herbe Verluste ein: Von 13 gingen 10 verloren. Nie seit 1969 regierte die SPD weniger Großstädte als heute. Hochburgen wie Bielefeld, Braunschweig, Düsseldorf, Essen, Frankfurt, Freiburg, Gelsenkirchen, Göttingen, Kassel, Köln, Ludwigshafen, Mülheim, Saarbrücken, Wiesbaden und Wolfsburg fielen. Nur Bremen 1999, Berlin 2001 und Siege in Augsburg, Nürnberg und München 2002 verbessern die Bilanz. Dafür gibt es viele Gründe: So schlug die Krise von Rot-Grün 1999 auf alle Wahlen durch. Zweitens tat sich die lokal oft traditionelle SPD schwer mit den fast überall eingeführten Direktwahlen: Sie stellte oft Kandidaten auf, die mehr der Partei als den Bürgern gefielen. Drittens gibt es Sonderfaktoren wie die Skandale und andere Abnutzungsphänomene in Nordrhein-Westfalen 1999 und Hamburg 2001. Schließlich fielen Rot und Grün lokal mehr zwischen alten Unter- und neuen Mittelschichten auseinander, statt sich - wie bei der Bundestagswahl 2002 - zu ergänzen.

Zwischen Sozialpolitik und Ansiedlungseifer

Schwerer wiegt, dass es der SPD selten gelang, sich zeitig und umfassend den Bedingungen von Stadtpolitik im flexiblen Kapitalismus zu stellen. Wegen der Delegitimierung traditioneller SPD-Wirtschaftspolitik kam es auch in SPD-regierten Städten zur Spaltung von Wirtschafts- und Sozialpolitik: Während SPD-Wirtschaftspolitik mutierte, sich bald kaum von liberaler unterschied und eifrig Neue Mitte und Investoren förderte, verharrte die Sozialpolitik in traditionellem Denken und verwaltete wachsende Randgruppen und Modernisierungsverlierer. Beides löste auf Dauer keine Probleme und war auch nicht finanzierbar. Industriestädte mit klassischer Sozialpolitik wie Essen oder Kassel fielen ökonomisch zurück und verschuldeten sich. Dienstleistungsstädte wie Hamburg ("Hafen-City") verloren vor lauter Ansiedlungseifer die Verbindung von Wirtschaft- und Sozialpolitik aus den Augen und fielen sozial zurück, in der Arbeits-, Bildungs-, Integrations- und Sicherheitspolitik. Diese Städte gingen verloren, als die Neue Mitte fand, dass eine bürgerliche Mehrheit für sie etwa dasselbe tun würde, und die Unterschichten sich übersehen fühlten, wie in Hamburg bei der Sicherheit. Denn im Zweifel entschied die neue Sozialdemokratie regelmäßig für Neue Mitte- beziehungsweise Wirtschaftsinteressen. Im Sinn liberaler Wachstumsideologie nahm sie an, dass erst Wachstum her müsse, damit umverteilt werden könne. Soziale Gleichheit als Produktivkraft erster Ordnung wurde vielerorts mehr propagiert als beherzigt.


Dabei hat SPD-Stadtpolitik ein beachtliches Erbe zu wahren: Die ewige Oppositionspartei der Nachkriegszeit war vor allem in Berlin und Bremen, Frankfurt und Hamburg, Hannover, Köln und München stark. Hier dominierten in den ersten Jahrzehnten der Bonner Republik die Kräfte des "städtischen Sozialismus", die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, die Bürokratie, die Partei. Hier sammelten sich die meisten Probleme mit der Krise des "fordistischen Kapitalismus" seit den siebziger Jahren. Und während etatistische Rezepte immer weniger zur Lösung städtischer Probleme taugten, "verharschten" viele städtische Sozialdemokratien, zogen sich auf den öffentlichen Dienst zurück und lieferten sich pseudo-ideologische Grabenkriege. Kein Wunder, dass einige Städte von gescheiten Konservativen übernommen werden konnten - wie etwa Frankfurt von Walter Wallmann. Die Ausnahme München bestätigt die Regel: Hier hatte sich die SPD Ende der siebziger Jahre in Grabenkämpfen ruiniert, raufte sich aber nach einem lehrreichen CSU-Intermezzo wieder zusammen. Seit nunmehr 12 Jahren regiert hier Rot-Grün, und OB Christian Udes geschickte Balance zwischen Wirtschaftsförderung und wegweisender Sozialpolitik, zwischen neuer Mitte- und Minderheitenpolitik strahlt weit ins Bürgertum hinein. Doch ähnliche Bedingungen wie in München - reiche, rote Insel mit charismatischem OB im schwarzen Meer - gibt es anderswo kaum.

Für die Städte hatten die Enkel wenig übrig

In vielen Städten wurde kräftig privatisiert, dazu "moderne" Wirtschafts- und traditionelle Sozialpolitik betrieben, die weder Unternehmer noch Unterschichten gewinnen konnte. In den Oppositionsjahren überdeckte dies oft eine "rot-grüne" Umwelt- und Minderheitenpolitik, die nur in Schönwetterzeiten bis zur Wahlurne trug. Mit der viel beschworenen "Erneuerung aus den Kommunen" war es so weit nicht her: Die SPD erneuerte sich über die Enkel. Zwar waren einige OB gewesen wie Hans Eichel in Kassel und Oskar Lafontaine in Saarbrücken. Doch als "Länderfürsten" strebten sie in den neunziger Jahren nach Höherem und ließen ihre Kommunen zum Teil kräftig zur Ader, wie Gerhard Schröder in Niedersachsen, dessen kommunale Finanzausgleichsgesetze mehrfach vor dem Landesverfassungsgericht scheiterten. Bis 1998 hatten SPD-Kommunen von Bund und Ländern - egal welcher Couleur - wenig zu erwarten, außer neue Gesetze mit neuen Lasten ohne ausreichende Mittel wie zum Beispiel das Kinderbetreuungsgesetz von 1996.


Denn so gern Politiker das Hohelied der Kommune als Wiege der Demokratie singen, so wenig sind viele an ihr interessiert. Das hat institutionelle und karrierebedingte Gründe: Kommunen sind verfassungsrechtlich "Mündel der Länder", das heißt bei wichtigen Entscheidungen über Gesetze und Finanzen werden sie beim Bund von den Ländern vertreten. Dass die ewig klammen Länder dies zum eigenen Vorteil tun, versteht sich. Dies hat zum Beispiel zur Folge, dass im extra für die lokale Ebene geschaffenen EU-"Ausschuss der Regionen" von 24 deutschen Vertretern 21 aus den Ländern kommen, die drei kommunalen hat Ex-Kanzler Kohl spendiert, sonst gäbe es gar keine! So legen EU, Bund und Länder immer mehr Rahmenbedingungen fest, die die Kommunen einzuhalten, auszuführen und teilweise auch zu zahlen haben.

Die Stadt als Durchlauferhitzer

Da also die rechtlich-politische Stellung der Kommunen so schwach ist, wie sie ist, sehen viele Politiker Kommunen als "Durchlaufstation" für höhere Weihen, wie der frühere Geschäftsführer des Städtetages Jochen Dieckmann bitter bemerkt hat. Übrigens ist Dieckmann inzwischen sozialdemokratischer Justizminister in Nordrhein-Westfalen. Wer "in der Provinz" bleibt, ist oft abgeschnitten von länder- und bundesweiten Debatten und hat wenig Einfluss in den Parteien. So gibt es etwa im Bundestag seit 1969 keinen Kommunalausschuss mehr, und im SPD-Parteivorstand sitzen ganze drei Kommunale.


Rot-Grün 1998 änderte zuerst wenig an der Stadtpolitik. Die Enkel versprachen zwar die Neuregelung von Gemeindefinanzen, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, aber es galt, wie Heinrich Mäding, Leiter des Deutschen Instituts für Urbanistik (in Demo 9/2002) festgestellt hat: "Eine umfassende Stadtpolitik des Bundes gibt es nicht, auch nicht bei Rot-Grün." Die Antwort auf den flexiblen Kapitalismus, hätte die Kombination öffentlicher und privater Mittel, die Kooperation und Flexibilisierung der Ressorts, die Aktivierung von Kommunen und Bürgern mit dem Ziel der "Bürgerkommune" als Kern der Bürgergesellschaft erfordert. Aber diese Antwort blieb zunächst aus. Seit 1999 kamen vor allem aus dem Städtebauministerium neue Ansätze, so das Programm "Soziale Stadt", das Zukunftsprojekt "Stadt 2030" oder der "Stadtumbau Ost". Doch bleiben sie unterfinanziert oder wurden Städtebau-Fördermitteln entnommen. Und das Leitbild "Soziale Stadt" erfordert weit mehr als Quartiersmanagement.

Impulse kamen eher spät und zögernd

Konterkariert wurde die neue Stadtpolitik durch den Sparkurs des Bundes, der den Kommunen wie der gesamten öffentlichen Hand - unter anderem durch die Steuerreform - starke Mindereinnahmen bescherte. Als 2001 zuerst die Konjunktur und dann Gewerbe- und Körperschaftssteuer kippten, reagierte die Koalition und setzte 2002 Gemeindefinanzreform- und Hartz-Kommission ein. Die erste sollte die Kommunen bei der Einnahmeseite entlasten, die zweite durch die Kooperation von Arbeits- und Sozialämtern von Ausgaben durch Arbeitslosigkeit. Seit Jahren mussten Städte und Kreise Arbeitslose finanzieren, die in die (kommunal verantwortete) Sozialhilfe wanderten. Beide Kommissionen verfolgen wegweisende, aber zur Wahl 2002 recht späte Ansätze.


Eher brachte Rot-Grün die kommunale Energiepolitik in Bewegung. Die Gesetze zur Förderung erneuerbarer Energien und zur Kraft-Wärme-Kopplung sicherten die kommunale Energiewirtschaft, die sich im 1998 liberalisierten Energiemarkt behaupten konnte - auf Kosten manch ökologischer Blütenträume. Im Städtebau gingen manche finanziellen Anreize fehl (so wiederum Mäding in Demo 9/2002): Pendler-Pauschale und Eigenheim-Zulage wirkten als "Zersiedlungsprämie", und die Grundsteuerreform blieb liegen. Manches blieb auch bruchstückhaft wie etwa die Förderung bürgerschaftlichen Engagements, das neue Stiftungsrecht et cetera. Insgesamt wirkte Rot-Grün im Bund eher spät und zögernd auf die Stadtpolitik. Impulse einer integrierten Beteiligungs-, Bildungs-, Familien-, Verkehrs- und Umweltpolitik wie in Heidelberg oder Rastatt wurden wenig prämiiert. Die Finanzkrise, welche die kommunalen Investitionen 2002 auf ein Drittel der Höhe des Jahres 1992 drückte, bremste jede Reform.

Was trotz allem optimistisch stimmt

Optimistisch für die Zukunft stimmt, dass die Grundgedanken der Kooperation aller Ebenen, von Politik, Wirtschaft und Bürgern ("Vernetzen"), bei größtmöglicher Aktivierung und Beteiligung jeder Seite ("Fördern und Fordern"), durchgesetzt zu sein scheinen. Die SPD hat die Kommunen entdeckt, wie die beiden - wenn auch spät eingesetzten - Kommissionen zeigen und sucht den Weg zwischen simpler Entlastung der Wirtschaft und bürokratischem "Weiter so". Besonders im Sozialbereich wirkt sich aus, dass sich die Bundes-SGK als Vertretung der SPD-Kommunalpolitik neu organisieren und eine intensive Lobbyarbeit betreiben konnte. So gab es - 25 Jahre nach Mannheim - 2001 in Nürnberg ein neues SPD-Kommunalprogramm, das auf vielen Feldern - wenn auch vorsichtig und kaum bemerkt - in die Zukunft weist. SPD und SGK nahmen sich mit der Kommunalakademie des lokalen Qualifizierungsbedarfs an; die SPD-Kommunalpolitik sieht den Bedarf für ein Politikkonzept, dass Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, den Bildungs- und Betreuungssektor und Wirtschaftspolitik zusammen denkt.

Nur ganzheitliche Stadtpolitik hat Zukunft

Wer bisher vor allem Investoren in die Stadt ziehen wollte, muss erkennen, dass mehr nötig ist als gut angeschlossene Gewerbegebiete und eine "saubere", attraktive City für die Neue Mitte. Nur einen ganzheitliche Stadtpolitik, die externe wie interne Potentiale und Schwächen ermittelt und stärkt, hat Chancen im Regionalwettbewerb. Schritte dazu sind gemacht. Jetzt kommt es darauf an, sie auf Länder- und Bundesebene schrittweise zu fördern, möglichst breit lokal durchzusetzen und offensiv zu vertreten. Sogar Wirtschaftsredakteure können lernen, dass alle gescheite Standortförderung nichts nützt, wenn die Stadt eigene, brach liegende Ressourcen nicht nutzt.


Natürlich scheuen Kommunen derzeit Initiativen und Investitionen. Noch im Jahr 2000 hätte Hans Eichel mit ein paar UMTS-Milliarden als pauschale Investitionsmittel für lokale Städtebauprogramme unter Beteiligung privater Partner und der Anwohner das größte Städtebauprogramm der Welt losgetreten - heute halten Finanzkrise, Maastricht und die Hochwasserfolgen die Spielräume eng. Zudem bleibt Stadtpolitik "durch Länderkompetenzen und -interessen gefiltert" (Mäding). Daher sollten die Länder durch die Einführung des "Konnexitätsprinzips" ("Wer bestellt, bezahlt!") in ihre Verfassungen Good-Will beweisen. Doch Finanzdruck und politischer Wettbewerb haben ihr Gutes: Sie zwingen zum Handeln. Und manche Reformen kosten weniger als einfallsloses "Weiter so". Strukturelle Mehrheitsfähigkeit beginnt "von unten". Als Regierungspartei bestätigt, muss sich die SPD aus den Kommunen heraus erneuern.

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