Schlechte Karten - Die SPD und der Kampf um das Erbe Des Liberalismus
Am Jubelabend der siegreichen Wahl in Nordrhein-Westfalen kündigte der SPD-Parteichef Sigmar Gabriel in Günther Jauchs TV-Talkshow an, er werde demnächst im Deutschen Bundestag die FDP mit unausgewiesenen Zitaten aus Karl Hermann Flachs linksliberalem Klassiker Noch eine Chance für die Liberalen (1971) konfrontieren. Würde die FDP-Fraktion dabei applaudieren und nicht pfeifen, könnte sich die Partei noch als Partner in einer Ampelkoalition empfehlen. Doch der Running Gag, die Liberalen an das Freiburger oder die Union an das Ahlener Programm von 1947 zu erinnern, ist so wenig originell, wie der SPD die hehre Godesberger Präambel von 1959 und deren Appell zur friedlichen Nutzung der Atomkraft vorzuhalten. Immerhin zeigte Gabriels Statement, dass er das liberale Erbe in der FDP als begehrenswert ansieht.
Schon auf dem Berliner Parteitag im Dezember 2011 hatte Gabriel die SPD als neue Heimat des Liberalismus ausgerufen. Die Idee sei „zu wichtig, um sie einfach aufzugeben, nur weil die FDP sie aufgegeben hat“. Wahrer Liberalismus vertraue weder einseitig dem Staat noch dem Markt. Freiheit bedeute auch, für gleichberechtigte Chancen einzutreten. „Wir bleiben die Partei der Freiheit, die SPD ist die Erbin des politischen Liberalismus. Bei uns hat die FDP ihre neue Heimat.“ Die Botschaft hört man wohl, aber ist sie auch glaubwürdig? Wer eine entkernte Idee mit eigenen Wertvorstellungen auffüllt, tritt kein geistiges Erbe an, sondern plant auf ideologischem Terrain eine feindliche Übernahme. Wenn es der SPD wirklich ernst wäre mit einer liberalen Öffnung, hätte sie künftig Einiges zu leisten.
Liberalismus ‡ Neoliberalismus – das müsste die SPD erst wieder lernen
Zunächst müsste die SPD endlich wieder lernen, zwischen Liberalismus und Neoliberalismus zu unterscheiden, statt den einen nur für eine hässliche Ausgeburt des anderen zu halten. Zweitens hätte die SPD die Balance zwischen „Freiheit und Gerechtigkeit“ sowie „Freiheit und Sicherheit“ neu auszutarieren, statt „Freiheit in Verantwortung“ schlicht für ein Synonym von sozialer Gerechtigkeit zu halten oder Freiheitsgebote den Sicherheitsängsten der Bürger zu opfern. Drittens sollte die SPD damit aufhören, den Freiburger Sozialliberalismus als Anachronismus einiger einzelgängerischer Fossilien abzutun und in der historischen Betrachtung nur wie eine Unterabteilung des Godesberger Programms oder eines angeblich „sozialdemokratischen Jahrzehnts“ zu behandeln, wie es Bernd Faulenbach ziemlich schlicht in seiner gerade erschienenen Monografie über die „SPD 1969 – 1982“ tut. Viertens hätte sich die SPD selbstkritisch mit ihrem eigenen Basis-Jakobinismus, also mit ihrer fehlenden Liberalität in Apparat und Organisation auseinanderzusetzen.
Mit der heillosen Verwendung des Kampfbegriffs „neoliberal“ wurde in den vergangenen Jahren die Freiheitsidee des Liberalismus semantisch demoliert. Peer Steinbrück hat das erkannt und öfters sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht. Um zwei besonders krasse Beispiele für die Dämonisierung des Neoliberalismus zu erwähnen: Bei Johano Strasser gipfelte die hysterische Klage über die Welt der Globalisierung in einem moralischen Verdammungssuperlativ, den man normalerweise bei Genoziden verwendet: Die Vorstellungen der „Propagandisten des Neoliberalismus“ seien „nichts als Barbarei“. Noch fragwürdiger ist es, wenn neuerdings auf SPD-Podien mit Wang Hui ein chinesischer Ideologe der neomaoistisch orientierten „Neuen Linken“ herumgeistert. Dort verrührt er unter der politologischen Zauberformel vom „Verlust des Repräsentativen in den politischen Systemen der Welt“ (Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte 1/2 2012) die fundamentalen Demokratieprobleme in seinem Land mit den Protestbewegungen im Westen zu einem weltweiten Krisenzusammenhang. Offenbar erscheint für einige in der SPD im globalen Kampf gegen den dämonisierten Neoliberalismus und „die Herrschaft des Finanzkapitals“ mittlerweile jeder Kampfgefährte willkommen, selbst wenn dabei die Grenzen zwischen Demokratie und Diktatur unbeachtet bleiben. Der Protestforscher Dieter Rucht hat zu dieser unerhörten Grenzverwischung das Notwendige gesagt: „Aus der Sicht der oppositionellen Bewegungen oder Parteien, auch Gewerkschaften, in autoritär, gar diktatorisch regierten Ländern, steht die Frage von Defiziten des liberal-repräsentativen Systems gar nicht an, weil viele Gruppen völlig ausgegrenzt sind. Sie wären im Grunde schon froh, wenn sie diese sogenannte formale Demokratie mit ihrem ganzen institutionellen Gefüge hätten.“
Die SPD hätte von Anfang an die Idee des Liberalismus gegen den Marktradikalismus der FDP verteidigen und darauf hinweisen müssen, dass ein wohlverstandener Liberalismus, der auf Freiheit in Verantwortung gründet, mit Auswüchsen des Finanzkapitalismus nichts gemein haben kann. Stattdessen scheint bis heute gerade im sozialdemokratischen Milieu der Neoliberalismus als logische Zuspitzung der liberalen Idee an sich begriffen zu werden. Daraus folgt: Solange die weltweite Finanz- und Schuldenkrise anhält und linke Zeitgenossen Probleme damit haben, die Globalisierung als – in der Tat problematische – Realität anzunehmen, dürfte weiterhin an solchen antikapitalistischen Feindbildern, heißen sie nun Liberalismus oder Neoliberalismus, gearbeitet werden.
Freiheit ist Freiheit, und Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit
In der SPD ist es mit der Globalisierung Mode geworden, ihr Freiheitsverständnis fast vollständig auf eine Teilhabegerechtigkeit zu reduzieren, die sie in einseitiger Anlehnung an einen Begriff des Philosophen Isaiah Berlin „soziale Freiheit“ nennt. Berlin zählt zu den „Grundlagen der liberalen Moral“ die gleiche Freiheit für alle; das Gebot, andere nicht zu behandeln, wie man selbst nicht behandelt werden möchte; die Rückzahlung der persönlichen Schuld an jene, die Freiheit und Wohlstand erst möglich gemacht haben, sowie Gerechtigkeit in ihrer universalen Bedeutung. Hinter der konfessionsartig vorgetragenen Formel von der Gleichrangigkeit und wechselseitigen Bedingtheit der drei Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität verbirgt sich die Befürchtung, die Gerechtigkeit könne gegenüber dem marktradikalen „Wildwuchs der Freiheit“ ins Hintertreffen geraten. Natürlich ist nicht zu leugnen, dass sich die Balance zwischen Freiheit und Gerechtigkeit durch die Grenzen sprengende Globalisierung verschoben hat. Einerseits haben die neuen Entwicklungen enorme Freiheitsmöglichkeiten gebracht. Gleichzeitig sind aber neue Ungleichheiten in einem bislang nicht gekannten Ausmaß entstanden.
Dies bestritt auch der liberale Denker Ralf Dahrendorf nicht. Selbstverständlich sei eine freiheitliche Demokratie ohne gerechte Verhältnisse kaum denkbar, dies dürfe aber nicht dazu führen, eine falsche Wertigkeit vorzunehmen und von der „sozialen Freiheit“ zu sprechen. Freiheit sei eines und Gerechtigkeit ein anderes, führte Dahrendorf in einem Gespräch mit mir im Jahr 2006 aus: „Es gibt sehr wohl soziale Voraussetzungen einer für alle zugänglichen Freiheit. Aber man sollte es nicht Freiheit nennen. Und schon gar nicht sollte man es aufwiegen gegen andere Grundfreiheiten. Anders gesprochen: Freiheit ist Freiheit ist Freiheit, Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit ist Gerechtigkeit.“
Mit Joachim Gauck ist nunmehr ein Intellektueller an die Spitze des Staates getreten, der den Freiheitsdiskurs wieder vom Kopf auf die Beine zu stellen versucht. Die bei vielen Sozialdemokraten gängige Devise lautet: Nicht auf der Freiheit, sondern auf der Gerechtigkeit basieren alle weiteren Werte. Gauck hingegen als aktiver Freiheitskämpfer hat dieser Sichtweise immer misstraut. Hinter dem zumeist scheinheilig vorgetragenen Gebot einer „ungeteilten Freiheit“ wittert er Inkomparables, nämlich die perfide Aufrechnung von Arbeitsplätzen und Volksküchen gegen politische Gefangene oder verbotene Blätter, wenn es etwa um die relativierende Wahrnehmung linker Diktaturen geht – wie zum Beispiel der in der Volksrepublik China. Eine Freiheit in Verantwortung hat nach Gauck den Einsatz für gerechte und solidarische Verhältnisse zur Aufgabe: „Das Demokratieprojekt insgesamt würde verlieren, wenn sie sich von dieser besonderen Bedeutung der Freiheit verabschieden würden. Ein Mensch, der sich als freier Bürger definiert, also eingetreten ist in den Raum der eigenen Verantwortung, wird danach trachten, dass es Solidarität und Gerechtigkeit gibt, aber hier von einer Gleichrangigkeit dieser Begriffe zu sprechen, ist mir persönlich nicht möglich“, sagte Gauck 2008 im Deutschlandfunk. Natürlich weiß er, dass trotz des moralisch berechtigten Vorranges einer mittlerweile als selbstverständlich begriffenen „Freiheit vom Staat“ der Gerechtigkeitssinn in der Bevölkerung ganz oben rangiert.
Sozialdemokraten können von Gauck lernen, dass sich die Freiheit nicht mit der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erfüllt und Proteste gegen Menschenrechtsverletzungen etwa in der Volksrepublik China keine unerlaubte „Einmischung in innere Angelegenheiten“, sondern ein berechtigtes humanitäres Anliegen darstellen. Sich dessen anzunehmen müsste für eine Partei mit der Freiheitstradition der SPD eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.
Wer das liberale Erbe aufnehmen und bewahren will, müsste sich auch weit mehr als dies in den vergangenen Jahren der Fall gewesen ist, die Erhaltung der Bürgerrechte zur Aufgabe machen. Heute wird der klassische Bürgerrechtsliberalismus nur noch von einigen couragierten Ex-Politikern der FDP wie Burkhard Hirsch und Gerhart Baum wahrgenommen, denen es immer wieder gelingt, gegen gesetzgeberische Übergriffe das Bundesverfassungsgericht zu mobilisieren. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass die Ängste der Menschen vor Kriminalität, Terroranschlägen, politischen Unruhen samt der Flüchtlingsproblematik eine Unempfindlichkeit gegenüber staatlichen Eingriffen gefördert haben. Auch für viele Sozialdemokraten scheint seit Nine-Eleven das Spannungsverhältnis aus Freiheit und Sicherheit kein Thema mehr zu sein.
Nachtreten gegen die wackere Ministerin
Ebenso erklären die Politikwissenschaftler Peter Lösche und Franz Walter den klassischen Bürgerrechtsliberalismus für überholt, weil er sich immer noch am anachronistischen Feindbild eines Obrigkeitsstaates orientiere. Die Bürger hätten sich längst über Individualisierungsprozesse und im Rahmen zivilgesellschaftlicher Strukturen gegen den Zugriff aller großen Institutionen – des Staates an erster Stelle – immunisiert. Solche Einschätzungen klingen in Deutschland eher blauäugig, solange „Freiburg“ in „Karlsruhe“, sprich altliberale Politiker beim Bundesverfassungsgericht, noch immer aufsehenerregende Serienerfolge erzielt und dabei seine Vorbehalte bestätigt bekommt.
Bei allem Verständnis für „deutsche Ängste“ muss man leider konstatieren: Die SPD hat entscheidend dazu beigetragen, dass mit der Terrorismus-Bekämpfung die Balance zwischen „Freiheit und Sicherheit“ ins Rutschen geraten ist. Die Auffassung sozialdemokratischer Politiker wie Tony Blair oder Otto Schily, dass die Sicherheit die „erste Freiheit des Bürgers“ sei, hat bei Bürgerrechtlern alle Alarmglocken zum Läuten gebracht: Die ganze Sicherheit taugt nichts, wenn sie um den Preis der Freiheit erkämpft wird. Die Perspektive auf die Individualrechte hat sich dramatisch zugunsten der Sicherheit verschoben, was die Aktivitäten des Staates wie auch das Bewusstsein der Menschen betrifft.
Früher besaß die Sozialdemokratie eine stattliche Zahl liberaler Kronjuristen und Bürgeranwälte – von Adolf Arndt über Gustav Heinemann bis Diether Posser – die sensibel genug waren, Tendenzen im Kontext des Sicherheitsdispositivs zu erkennen, unter denen die Eigenständigkeit freiheitlicher Rechtsnormen angeblichen Machterfordernissen geopfert wurde. Sie warnten stets vor einer Politik „der kleinen Schritte“: die Freiheitsgrenzen auszutesten und dabei das Limit des Zulässigen zu überschreiten. Die Befürchtung war, dass sich am Ende aus der Summe „kleiner Schritte“ ein völlig umgekrempelter Staat ergeben könnte. Heute sind leider von sozialdemokratischer Seite eher Flüche als Worte der Genugtuung über die „Truppe Baum-Hirsch“ und die angeblich „weltfremden“ Karlsruher Verfassungshüter zu hören, wenn der Legalisierung von Folter, der „Lizenz zum Töten“ im Luftsicherheitsgesetz, dem Großen Lauschangriff oder der Vorratsdatenspeicherung ein Riegel vorgeschoben wird. Als das Bundesverfassungsgericht im März 2010 das Gesetz zur Vorratsspeicherung verwarf, stellte es fest, dass es sich „um einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite“ handele, „wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt“. Deshalb sei die Vorratsspeicherung an „besonders schwere Anforderungen“ geknüpft. Statt der als „Jeanne d’Arc der Bürgerechte“ verhöhnten Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in ihrem ziemlich einsamen Kampf gegen den Law-and-Order-Kurs der CSU und die krude Verordnungspraxis aus Brüssel zu unterstützen und es notfalls auf ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof ankommen zu lassen, beteiligen sich Sozialdemokraten am Nachtreten gegen die wackere liberale Ministerin. So wirbt und kämpft man nicht um ein liberales Erbe.
»Dem Partner keine Schnitte«, lautet die Losung
Schon einmal, 1982 nach dem Wechsel der Genscher-Liberalen in das Lager der Neokonservativen, mühte man sich auf Seiten der SPD und ihres Bundesgeschäftsführers Peter Glotz um die sozialliberale Erbmasse. Doch viel mehr als parteiintern schwer erkämpfte Listenplätze für abtrünnige Freie Demokraten wie Günter Verheugen, Ingrid Matthäus-Maier oder Andreas von Schöler kam dabei nicht heraus. Weitsichtig versuchte Glotz damals nachzuholen, was während der sozialliberalen Ära intellektuell verpasst worden war. Denn das Attribut „sozialliberal“ hatte man seinerzeit den Freiburger Vordenkern um Karl Hermann Flach und Werner Maihofer und deren Vorstellungen eines „Historischen Bündnisses“ – zwischen dem demokratischen Flügel der Arbeiterbewegung und einem geläuterten, fortschrittlich liberalen Bürgertum – überlassen. Willy Brandts Thesen zu einer „Neuen Mitte“ und Helmut Schmidts Annäherungen an Karl Poppers Kritischen Rationalismus blieben die einzigen sozialdemokratischen Versuche, das Koalitionslabel „sozialliberal“ auch geistig anzunehmen und zu präsentieren – ohne jede Resonanz in den eigenen Reihen. Wohlgemerkt: Brandts Verweis auf ein „historisches Bündnis“ stammte von Maihofer, und Schmidts Empfehlung, sich mehr mit Popper als mit Marx zu befassen, kam von Dahrendorf.
Deshalb mutet es beschämend an, wie die Sozialdemokratie bis zum heutigen Tage mit dem Erbe des Sozialliberalismus umgeht. Im jüngst erschienenen Werk des Parteihistorikers Bernd Faulenbach wird die Zeit der sozialliberalen Ära von 1969 bis 1982 großspurig als „sozialdemokratisches Jahrzehnt“ tituliert. Darin kommen die linksliberalen Protagonisten der FDP bestenfalls als ideengeschichtliche Statisten vor. „Dem Partner keine Schnitte“, lautet hier offenbar die unausgesprochene Losung, hinter der sich immer noch ein verschwiemelter ideologischer, von Funktionären beherrschter Wahrheitsanspruch zu verbergen scheint. So wird das Freiburger FDP-Programm von 1971 als ein Anschlussprojekt zu Willy Brandts Mission, „mehr Demokratie wagen zu wollen“, interpretiert. Werner Maihofer, Karl Hermann Flach oder auch Hildegard Hamm-Brücher waren aber geistig mehr als nur Trittbrettfahrer des Demokratischen Sozialismus. Historisch betrachtet befand sich die FDP in Freiburg programmatisch mehr auf der Höhe der Zeit als die nach links driftende Sozialdemokratie mit ihren planifikatorischen Heilsversprechen und einer symbolischen Sozialismus-Renaissance.
Linksliberalismus 2.0
Die SPD sollte nicht in Platzhirschmanier alle Errungenschaften der sozialliberalen Ära für sich allein in Anspruch nehmen. Die schon vor Egon Bahrs „Wandel durch Annäherung“ einsetzenden Bemühungen der FDP um eine Entspannung gegenüber dem Osten und eine „Politik der kleinen Schritte“ – erinnert sei an die „Schollwer-Papiere“ von 1962 und 1967 – bleiben in Bilanzen wie denen Faulenbachs ebenso unerwähnt wie die bildungspolitischen Offensiven von Dahrendorf („Bildung als Bürgerrecht“) und Hamm-Brücher. Von den freidemokratischen Verdiensten im Kampf um Bürgerrechte ganz zu schweigen.
Den liberalen Anteil an der sozialliberalen Ära auf lästige „Bremserfunktionen“ oder gar auf das finale „Scheidungspapier“ des damaligen Wirtschaftsministers Otto Graf von Lambsdorff aus dem Jahr 1982 zu reduzieren, ist eine riskante Selbsttäuschung. Zudem wird dabei ignoriert, dass sich Teile davon in Gerhard Schröders erfolgreicher Agenda 2010 wiederfanden. Die Standardfrage vieler SPD-Mitglieder lautet dazu: Erfolg? Worin, wozu? Dass Lambsdorff und die Seinen Helmut Schmidt an der weiteren Entwicklung einer prägenden Reformära gehindert hätten, gehört in das Reich der Geschichtslegenden. Hier zeigt sich, dass selbst bei strategischen Weichenstellungen deren liberale Seite oft übersehen, unterschlagen oder verdrängt wird. Es scheint deshalb kaum übertrieben, von einem neurotischen Verhältnis der SPD zu Fragen der Liberalität zu sprechen. Mag sein, dass es kein sozialliberales Narrativ gibt. Aber gibt es ein sozialdemokratisches Narrativ für die „bleierne Zeit“ Helmut Schmidts von 1974 bis 1982, das – von exogenen Faktoren einmal abgesehen – über die bangen Stunden des „Deutschen Herbstes“ anno 1977 oder die quälende Nachrüstungsdebatte hinausreicht?
Der Sozialliberalismus hätte eine programmatische Antwort werden können auf eine Entwicklung jenseits von falscher Prosperitätserwartung und keynesianischer Gießkannenpolitik. Unter diesem Aspekt sprach Ralf Dahrendorf zu Beginn der achtziger Jahre – leider häufig missverstanden! – vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“. Dagegen wäre eine Übereinkunft der SPD mit dem liberalen Erbe eine progressive Perspektive für die gesamte Politik und nicht nur eine bloße Adaption von liberalen Werten, wie sie von Guido Westerwelle & Co. schändlichst vernachlässigt wurde.
Die aktuelle Devise lautet deshalb für die SPD: Eine regulative Idee des Politischen sollte Individualismus, Eigenverantwortung und Gerechtigkeit in ein zeitgemäßes Verhältnis setzen. Dass diese regulative Idee aber der „demokratische Sozialismus“ sein soll, will heute so recht keinem mehr einleuchten. Christian Rickens sieht den „Linksliberalismus 2.0“ als intellektuelle und politische Antwort auf die Frage: Wie schafft man beides – frei zu sein, ohne der marktliberalen Orthodoxie anheimzufallen, und solidarisch zu sein, ohne dem gewerkschaftlichen Strukturkonservatismus auf den Leim zu gehen. Mit einer solchen intellektuellen und politischen Frage könnte die Leerstelle gefüllt werden, die der kaum mehr kommunizierbare Sozialismus-Begriff im emotionalen Speicher seiner Mitglieder hinterlässt. Da aber der ganze sozialdemokratische Entwurf von jeher auf staatliches Handeln fixiert ist, erleben wir in der neuerlichen Hochzeit des Etatismus im Zeichen der globalen Finanzkrise nur eine rhetorische Wiederbelebung alter Leitbegriffe, statt auf eine neue, in die Zukunft gerichtete soziale und liberale Politik zu setzen. Retro ist leider angesagt und nicht Reform.
Wer das liberale Erbe für sich beansprucht, sollte bei seiner eigenen Liberalität beginnen, an der es der SPD in den letzten Jahren in teils erschreckender Weise mangelte. Die Parteiordnungsverfahren gegen prominente abweichende „Oldies“ und hessische Abgeordnete, die ihr freies Abgeordnetenmandat nicht als imperatives verstanden wissen wollten, haben der SPD beträchtliche Sympathieeinbußen in der Bevölkerung eingebracht. Die Bürger verabscheuen es, wenn unbequeme abweichende Meinungen diszipliniert werden. Wo wenig Identität ist, herrscht meist viel Inquisition. Vor allem fehlt es der Partei dabei an der inneren Liberalität, an einer Toleranzkultur, wie sie für Volksparteien mit weiten Flügeln einst stilprägend gewesen ist. Eine solche Kultur stellt heute angesichts schwindender Bindungen geradezu ein Überlebensgebot dar. Dass einer prominenten Seiteneinsteigerin wie Doris Schröder-Köpf unlängst noch zugerufen werden konnte, ihr fehle der nötige „Stallgeruch“, offenbart eine bedenkliche Mischung aus Bunkermentalität und Sektierertum ausgerechnet in Zeiten, da die Partei über jedes Mitglied ohne Duftmarke erfreut sein müsste. Peer Steinbrück drückte sich so aus: „Es gibt eine Schicht von Parteiaktivisten, die einem intoleranten Jakobinismus anhängen und Meinungsoffenheit bereits für einen Verrat an Prinzipien halten.“
Ein anderes Exempel: Es gebe zum Rauswurf von Thilo Sarrazin „keine Alternative“ tönte 2010 auf der Höhe der Affäre Thomas Meyer, Mitglied der SPD-Grundwertekommission, im Gespräch mit dem Kölner Stadt-Anzeiger. Er leistete sich damit eine intellektuelle Blamage ohnegleichen. Die Verwendung der Formel „Keine Alternative!“ – Angela Merkels anti-intellektuelles „Unwort des Jahres“ – war für sich betrachtet schon armselig genug. Obendrein tat sich im weiteren Verlauf der parteiinternen Verhandlung der Causa Sarrazin eben doch eine Alternative auf, klug eingefädelt von SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, die sich gegen eine Ausschlussmentalität an der SPD-Basis durchsetzen sollte und damit der Partei weiteren Ärger ersparte. Der Parteilinke Ludwig Stiegler brachte die Sarrazin-Affäre ironisch auf den Punkt: Eine Partei, die ihre Paradiesvögel und spinnerten „Oldies“ nicht mehr aushalte, verabschiede sich vom Anspruch einer Volkspartei. Dissidenz ist nicht Verrat.
Das gilt für den Parteiapparat – aber auch für die Öffentlichkeit. Zur inneren Liberalität gehört deshalb ein gelassenes Verhältnis gegenüber den Medien. Seit etwa zehn Jahren und während der letzten drei Bundestagswahlen spuken in sozialdemokratischen Köpfen weitgehend Verschwörungsideologien, wenn es um eine Würdigung der Rolle der Medien geht. Zwei gleichlautende gegnerische Meinungen in der Presse ergeben aber noch keine konspirative Kampagne gegen die Partei. Wer mit kruden Manipulationsthesen archaische Feindbilder bedient – hier das gutgläubige Volk, da die maliziösen Medien – beweist nur ein instrumentell verengtes Verhältnis zur Pressefreiheit, bar jeden demokratischen Selbstbewusstseins.
Liberal zu sein hieß einmal, mutig und dynamisch, protagonistisch und fortschrittlich, vorausdenkend und nachdenklich zu sein und im Kampf für eine neue moderne Kultur und die Verteidigung von Minderheitenrechten notfalls auch gegen den Strom zu schwimmen. Spätestens nach Guido Westerwelles Berufung auf „schweigende Mehrheiten“ und die „Leistungseliten“, die nicht spätrömischer Genusssucht verdächtig sind, ist der politische Liberalismus in Deutschland theoretisch und praktisch heimatlos geworden. Denn Westerwelles Freiheitsbegriff erschöpfte sich im Anti-Etatismus, in Deregulationsparolen und Steuersenkungsphrasen, für die noch vor wenigen Jahren auch Mitglieder der SPD und der Union anfällig waren.
Von staatsfrommen Rezepten geht keine Vision zum Aufbruch mehr aus
Vor diesem Hintergrund wäre zu fragen, ob der Journalist Bernd Ulrich Recht hatte, als er 2010 in der Zeit den Liberalen attestierte, „geistig an einem toten Punkt angekommen“ zu sein. Dies machte er an zwei Faktoren fest: der Klimakatastrophe, die eher neue staatliche Regeln verlange, und an den weltweiten Abgründen des deregulierten Finanzkapitalismus, die Steuerungsimperative und keine Öffnungsklauseln erforderten. Bei solch weitschweifigen Extrapolationen werden weitere weltbewegende Faktoren gerne ausgespart, die nach wie vor die couragierte Wahrnehmung einer dezidiert liberalen Korrektivfunktion auch künftig dringend erforderlich macht: im Internetbereich, wo ein sensibler Rechtsstaat erst noch zu installieren wäre (wie die aktuelle Urheberrechtsdebatte beweist), und bei der Terrorismusbekämpfung, wo den Rasenmähermethoden der Law-and-Order-Politik dringend Einhalt geboten werden muss. Helmut Schmidt trug jüngst mit der „Demokratisierung der europäischen Institutionen“ seiner Partei ein weiteres klassisch sozialliberales Projekt an – statt nur noch strukturkonservativ am alten sozialpolitischen Projekt zu kleben.
Auch wenn liberale Deregulierer momentan schlechte Karten haben, folgt daraus nicht bereits, dass der sozialdemokratische Etatismus von der Geschichte geadelt worden wäre. Von staatsfrommen Rezepten geht selbst in Zeiten der größten Krise des Kapitalismus keine zündende Idee oder gar Vision zum Aufbruch mehr aus. Es sollte keiner so tun, als könnte eine arithmetisch wieder erstarkte Sozialdemokratie nach der Wahl von François Hollande mit alten Rezepten auf europäischen Krisengipfeln Avantgarde spielen. Man wird sehen. Aber bis dahin wäre wenigstens das Phänomen zu reflektieren, dass die SPD bis heute noch keinen selbstkritischen Reim darauf weiß, warum die FDP 2009 das beste und sie selbst das schlechteste Resultat seit 1949 erzielte, obwohl doch den Liberalen und ihren Rezepten die ideologische Schuld am Finanzcrash zugeschrieben wurden.
Wer also hat die besten Chancen im Kampf ums liberale Erbe? Eine neue Heimat für den Liberalismus dürfte wohl am ehesten bei den Grünen zu suchen sein, die die größte Projektionsfläche für den gesellschaftlichen Wandel darstellen. Solange sich die Piraten nur mit dem abschreckenden Beispiel einer bindungs- und verantwortungslosen Freiheit hervortun, müssen ihre Chancen auf Dauer gering veranschlagt werden. Ob Christian Lindner nach seinem Wahlerfolg in Nordrhein-Westfalen auch das Stehvermögen haben wird, über einen ersten Ampelflirt hinaus auch seiner stagnierenden Partei mit einem sozialliberalen Wiederbelebungsversuch auf die Beine zu helfen, muss eher skeptisch beurteilt werden. Und die SPD? Hat sie die Kraft, neue liberale Impulse zu setzen und aufzunehmen oder sie wenigstens in einer Koalition zusammenzuführen? Das wäre noch kein neues Denken, aber zumindest eine strategische Option, die mehr verspricht, als sich fahrlässig und unpolitisch auf eine demoskopische, angeblich „strukturelle“ Mehrheit der linken Mitte gegen den Neoliberalismus zu berufen.