Schluss mit der Wirtschaftsdemokratie!
Wir müssen begreifen: Die tief greifenden globalen Veränderungen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, denen wir uns tagtäglich gegenüber sehen, bergen nicht nur Risiken. Gewiss, die Angst vor Veränderung ist menschlich. Doch dürfen wir uns von ihr nicht lähmen lassen, wollen wir die vielfältigen Chancen, die den gegenwärtigen Entwicklungen eben auch innewohnen, nicht ungenutzt verstreichen lassen. In ihrer langen und stolzen Geschichte hat sich die Sozialdemokratische Partei stets deshalb als progressiver Motor der Gesellschaft ausgezeichnet, weil sie nicht davor zurückschreckte, althergebrachte Wahrheiten zu überdenken - um gesellschaftlichen Wandel zu gestalten, anstatt der Vergangenheit hinterherzulaufen.
Die Menschen innerhalb wie außerhalb der SPD erwarten von uns klare Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit - in der Sprache unserer Zeit. Wollen wir die Menschen auch in Zukunft erreichen, müssen wir uns also notwendigerweise auch mit unserer Sprache auseinandersetzen. Selbstkritisch, nicht selbstzerfleischend. Nicht, um dem Zeitgeist hinterherzulaufen, sondern um ihn zu prägen. So schmerzhaft dieser Umdenkprozess vielen auch erscheinen mag - eine glaubwürdige programmatische Erneuerung kann nur dann gelingen, wenn sie einher geht mit einer vorbehaltlosen begrifflichen Neuorientierung. Denn Begriffe sind kein Selbstzweck.
Den Menschen reinen Wein einschenken
Ganz bewusst haben wir uns deswegen in unserem Beitrag Impulse für ein neues Grundsatzprogramm der SPD für den steinigeren Weg entschieden und darauf verzichtet, aus unserer Sicht Überholtes allein zum Zweck der - falsch verstandenen - Traditionspflege in den gänzlich veränderten Kontext der Gegenwart hinüber zu befördern. Wir sind überzeugt: Aufrichtigkeit zahlt sich aus. Denn um das Wichtige zu tun, müssen wir die Menschen mitnehmen. Um sie zu überzeugen, müssen wir ihnen reinen Wein einschenken.
Die große Herausforderung unserer Zeit ist das erschreckende Phänomen verfestigter Massenarbeitslosigkeit. Sie unterspült nicht nur die bisherigen Grundpfeiler unserer sozialen Sicherungssysteme, sie stellt auch die gesellschaftliche Realität unseres demokratischen Gemeinwesens vor ungekannte Probleme. Obwohl wir als Exportweltmeister unbestreitbar einer der weltweit größten Gewinner der Globalisierung sind, treffen uns die Folgen der Arbeitslosigkeit auf Grund unserer spezifischen Organisation der Sozialsysteme besonders hart.
Dies gilt für Großkonzerne, die im harten internationalen Wettbewerb denationalisierter Märkte wettbewerbsfähig bleiben müssen und bei denen der Standortwettbewerb heute bereits innerhalb des Konzerns selbst tobt. Es gilt jedoch ganz besonders für kleinere und mittlere Unternehmen, die das Rückgrat unserer Wirtschaft bilden. Ihnen müssen geeignete Rahmenbedingungen garantiert werden, damit sie dem zunehmenden Konkurrenzdruck aus Asien und den neuen Mitgliedern der EU standhalten können. Nicht zuletzt angesichts dieser Fakten ist es unumgänglich, den deutschen Sozialstaat durch tief greifende Reformen zukunftsfähig zu gestalten, um so das notwendige Maß an sozialer Sicherheit zu gewährleisten und zugleich die Menschen zu stärken und ihnen neue Chancen zu eröffnen.
Es ist weder gerecht noch effizient, Jahr für Jahr 700 Milliarden Euro in ein System von Umverteilungen zu pumpen, das die Menschen in Passivität verharren lässt, statt zur Bekämpfung der Ursachen von Arbeitslosigkeit und sozialer Exklusion beizutragen. Vielmehr müssen wir unsere Ressourcen bündeln, um zielgerichtet in erheblich größerem Umfang als bisher in den Zukunftsfaktor Bildung zu investieren, damit für bislang unterprivilegierte Schichten faire Lebenschancen und Teilhabemöglichkeiten gesichert werden können.
Probleme von heute, Antworten von gestern?
Wir wissen: Arbeit ist mehr als bloßer Broterwerb. Unsere Arbeitswelt ist einer der zentralen Orte menschlichen Zusammenlebens. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit muss Anfang und Ende sozialdemokratischer Politik sein, denn den dauerhaften Ausschluss breiter Bevölkerungsschichten an der Teilhabe innerhalb eines Kernbereichs unserer Gesellschaft können wir nicht schicksalsergeben hinnehmen.
Doch können wir den Problemen von heute mit den Antworten von gestern Herr werden? Kann insbesondere das Konzept der so genannten Wirtschaftsdemokratie wie es von Wolfgang Thierse, Heidemarie Wieczorek-Zeul und Michael Müller unlängst erneut in die sozialdemokratische Debatte eingebracht haben, Substanzielles zur Beantwortung der drängenden Zukunftsfragen beitragen? Verbinden die Menschen in Deutschland überhaupt noch etwas mit diesem Begriff oder ist er ihnen ein längst fremd gewordener Gemeinplatz?
In seiner ursprünglichen, unter Federführung von Fritz Naphtali ausgearbeiteten und von der SPD auf ihrem Magdeburger Parteitag im Mai 1929 offiziell übernommenen Form bedeutete die Theorie der Wirtschaftsdemokratie eine Reaktion auf die Krise der Gewerkschaftsbewegung in Folge rapider Mitgliedereinbrüche. Angesichts enttäuschter Hoffnungen bei einem großen Teil der Arbeiterschaft, die eine grundlegende Neugestaltung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Weimarer Republik erwartet hatte, befand sich die reformistische Arbeiterbewegung in politischer und programmatischer Hinsicht in der Sackgasse.
Neue Vorzeichen, neue Lösungen
In dieser Situation sollte die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung neu analysiert werden, um die Ziele sozialdemokratischer Politik auch unter gänzlich neuen Vorzeichen verwirklichen zu können. Es ging 1929 also darum, unter veränderten politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen zeitgemäße Lösungen zu entwickeln, statt verloren gegangenen Utopien nachzuhängen.
Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie verband dabei im Wesentlichen zwei Grundgedanken: Zum einen sollte die Macht des privaten Kapitals auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene begrenzt und kontrolliert werden. Dies sollte durch die Errichtung eines von Arbeitnehmern und Arbeitgebern paritätisch besetzten staatlichen Kontrollamtes sowie den Ausbau wirtschaftlicher Selbstverwaltungskörperschaften erreicht werden, um schließlich das Privateigentum an Produktionsmitteln aufzuheben - denn Sozialismus und Wirtschaftsdemokratie wurden als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet. Zum anderen versprach man sich von einer Ausdehnung öffentlicher Betriebe, Arbeiterselbsthilfeorganisationen und Konsumgenossenschaften eine Stärkung des Selbstbewusstseins der Arbeiterschaft, die darüber hinaus freien Zugang zu einem demokratischen Bildungswesen erhalten sollte.
Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie war die sozialdemokratische Antwort jener Zeit auf die Probleme jener Zeit. Auch damals war der Schritt zur Erneuerung keineswegs unumstritten, das beharrliche Festhalten an überlieferten Glaubenssätzen und festgefahrenen Werturteilen erschwerte die notwendige programmatische Anpassung, konnte sie letztlich jedoch nicht verhindern.
Angesichts der verantwortungsvollen Aufgabe, durch ein neues Grundsatzprogramm die Weichen für die Zukunftsfähigkeit des sozialdemokratischen Projekts zu stellen, müssen wir uns heute - 75 Jahre später! - die Frage stellen, ob das Festhalten am Begriff der Wirtschaftsdemokratie den dramatischen Problemlagen unserer Zeit gerecht werden kann - oder ob uns nicht vielmehr der Mut der Väter des Konzepts, sich gründlich neu zu orientieren, ein Ansporn sein muss, es ihnen gleich zu tun.
Verbraucherschutz plus Status quo
Denn wir stimmen ja in den entscheidenden Punkten überein. Die Bedeutung von Tarifautonomie und Gewerkschaften ist unbestritten. Die Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen, die übrigens im ursprünglichen Konzept kaum eine Rolle spielt, garantiert, dass Arbeitnehmer auch im Schlüsselbereich der Wirtschaft als selbstbestimmt handelnde Subjekte ihre Verantwortung für das demokratische Gemeinwesen wahrnehmen können.
Ja, wir wollen es ernster nehmen: Eigentum verpflichtet. Wirtschaftliche Prozesse müssen auch in Zukunft in den institutionellen Rahmen unserer reifen Demokratie eingebettet bleiben, Unternehmen müssen ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen. Doch bringt uns der Begriff der Wirtschaftsdemokratie tatsächlich voran bei unseren Bemühungen, diese Ziele zu erreichen? Hilft er uns - besonders in einer abgespeckten Variante, die allein auf die Fortentwicklung des Verbraucherschutzes und den Erhalt des arbeitsrechtlichen Status quo reduziert scheint, die gewachsene Bedeutung von Bildung für die Schaffung sozialer Gerechtigkeit aber nur höchst unzureichend nachvollzieht?
Irgendwie riecht das Wort nach DDR
Dass es unser Ziel sein muss, die Menschen in Deutschland auch zukünftig in die Lage zu versetzen "ihren Status auch als Konsumenten sowie als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausfüllen zu können" ist unstrittig. Mehr als zweifelhaft erscheint jedoch, ob der Begriff der Wirtschaftsdemokratie zur Beantwortung der entscheidenden Zukunftsfragen in dieser wenig konkreten Form Substanzielles beitragen kann. Ohnehin stellen wir fest, dass dieses Konzept innerhalb und außerhalb unserer Partei, vorsichtig gesagt, an Strahlkraft verloren hat. So wurde ihm im Berliner Programm zwar eine exponierte Stellung eingeräumt, den öffentlichen Diskurs aber hat er nicht nennenswert zu beeinflussen vermocht. Er ist bei den Menschen ganz einfach nicht mehr angekommen, sondern weckt bei vielen allenfalls schmerzhafte Assoziationen an die Praxis der Zwangsenteignungen in der DDR.
Wollen wir aber die Probleme unserer Zeit lösen, wollen wir die Menschen von der Bedeutung unserer Vorhaben überzeugen, dann müssen wir ihnen aufrichtig begegnen. Wenn wir gemeinsam für unsere Vorstellungen sozialer Demokratie kämpfen, haben wir jeden Grund, selbstbewusst in die Zukunft zu blicken, aber umso weniger Anlass, uns hinter überholten Begriffen zu verstecken.