Schweres Erbe

Die "Bevölkerungspolitik" der untergegangenen Sowjetunion hat in der Peripherie Russlands äußerst schwierige Verhältnisse hinterlassen. Speziell die baltischen EU-Mitglieder haben mit ethnischen Verwerfungen und Moskauer Aggression zugleich zu kämpfen

Damals, als die Welt noch scheinbar unerschütterlich in zwei rivalisierende Blöcke geteilt war, als es die Sowjetunion noch gab, als die Grenzen zwischen Ost und West, zwischen Gut und Böse irgendwie klar waren, da hätte niemand geglaubt, dass diese Welt einmal derart radikal durcheinander gewirbelt werden würde, wie es Anfang der neunziger Jahre geschah. Die bipolare Weltordnung mit ihren klaren Machtgefügen gibt es nicht mehr. An ihre Stelle ist eine zunehmende globale Unübersichtlichkeit getreten, ein multipolares System mit vielen neuen Akteuren – und konfliktträchtigen Hypotheken aus einer anderen Zeit.

 

Die russische Diaspora in den ehemaligen Staaten des Kreml-Reiches ist so eine Hypothek. Die Folgen der russischen Umsiedlungspolitik, die schon unter Stalin begann, stellen ein schweres Erbe für die Staaten des ehemaligen Ostblocks dar. Heute gibt es dort zum Teil bedeutende russische Minderheiten, in einigen Regionen und Städten bilden die Russen sogar die Mehrheit der Bevölkerung. Der Kreml hatte sie aus geostrategischen und machtpolitischen Gründen zu hunderttausenden umgesiedelt, er hatte Anreize geschaffen und in der neuen Heimat ein besseres Leben versprochen.

 

In den Jahren 1990 und 1991 wurden die russischen Minderheiten dann von den weltweiten Umbrüchen überrollt: Nach dem Ende des Kalten Krieges waren aus den „Besatzern“ plötzlich Minderheiten und ungeliebte Fremde geworden, die sinnbildlich für die jahrzehntelange Unterdrückung durch Moskau standen – bis heute. Fremde waren die von Moskau Verpflanzten eigentlich immer gewesen, doch erst mit der gewonnenen Unabhängigkeit der ehemaligen Ostblockstaaten konnte sich die ganze Ablehnung der einheimischen Bevölkerung gegen sie Bahn brechen.

 

Die Folgen der Russifizierung

 

Nach der Auflösung der Sowjetunion gab es massive Völkerwanderungen in Richtung Russland, besonders aus den zentralasiatischen Republiken wie Usbekistan, Kasachstan oder Turkmenistan. Hunderttausende brachen auf, eines der unmenschlichsten Experimente sowjetischer Großmachtideologie war gescheitert. Die ethnischen Konflikte im Kaukasus mit ihren Kriegen und Vertreibungen sind wohl die sichtbarsten und schlimmsten Folgen dieser katastrophalen „Bevölkerungspolitik“. Nicht überall kam es nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zu derartigen Völkerwanderungen und Katastrophen. Dennoch sind die Folgen der Russifizierungspolitik auch in anderen Staaten an der russischen Peripherie deutlich spürbar. Auch hier gibt es erhebliches Konfliktpotenzial, zum Beispiel im Baltikum.

 

Die stalinistische Politik hatte zum Ziel, auch die baltischen Republiken in einen einheitlichen Sowjetstaat einzugliedern. Zwischen 1944 und 1991 versuchte Moskau, das nationale Selbstbewusstsein dieser Völker zu brechen. Ein Mittel waren Massendeportationen von Esten und Letten nach Sibirien bei gleichzeitiger Ansiedlung russischer Bürger im Baltikum. Deshalb machen die russischen Minderheiten in Estland und in Lettland heute, anderthalb Jahrzehnte nach der staatlichen Unabhängigkeit, jeweils etwa ein Drittel der 1,4 beziehungsweise 2,4 Millionen Einwohner aus. Kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs stellten die Letten sogar nur noch knapp die Mehrheit im eigenen Land. In Litauen ist der Anteil etwas überschaubarer: Rund sieben Prozent der Bevölkerung sind Russen.

 

Die Esten und Letten befürchten, trotz ihrer staatlichen Unabhängigkeit eine Minderheit im eigenen Lande zu werden. Diese nachvollziehbare Angst erklärt die zunächst strikten und teilweise diskriminierenden, gerade gegen russische Einwohner gerichteten Gesetze in beiden Republiken. Estland und Lettland haben, bei allem Verständnis für ihre Empfindungen nach einem halben Jahrhundert sowjetischer Fremdherrschaft, zum Teil eine verfehlte Politik gegenüber den russischen Minderheiten betrieben. Diese Politik wurde damit gerechtfertigt, dass nur ein rigoroses, strikt an nationalen Interessen orientiertes Vorgehen das Überleben der Nationalstaaten, seiner Kulturen und Bräuche und besonders seiner Sprachen gewährleisten könne.

 

Bürger zweiter Klasse

 

Diese Politik gegenüber den Minderheiten machte die russischen Einwohner zu Staatenlosen, die nur unter bestimmten Voraussetzungen estnische beziehungsweise lettische Staatsbürger werden konnten. Eine zentrale Bedingung waren fundierte Sprachkenntnisse. Kritik der Europäischen Union und der OSZE führte im Jahr 1998 zu einer Entschärfung der Gesetze und damit zu einer Verbesserung der Lage der russischen Minderheiten. Besonders die Europäische Union hat im Vorfeld des EU-Beitritts der baltischen Staaten auf einen anderen Umgang hingewirkt, was auch als Beruhigung der Minderheiten und als Zugeständnis an Russland zu verstehen war. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion galt es, ein geschwächtes und orientierungsloses Russland nicht unnötig zu reizen. Die Pläne der EU, die Union bis in ehemaliges russisches Einflussgebiet zu erweitern, waren schon brüskierend genug.

 

Anfang der neunziger Jahre gab es in Estland noch 400.000 Staatenlose, heute liegt die Zahl bei 100.000; die Mehrzahl der ehemaligen Russen hat sich für die estnische Staatsbürgerschaft entschieden. In Lettland leben hingegen noch 400.000 Staatenlose. Ob mit oder ohne lettischen Pass – die Angehörigen der russischen Minderheit haben das Gefühl, vom offiziellen Lettland und von den Letten als Bürger zweiter Klasse betrachtet zu werden. Dabei fällt es gerade in Riga schwer, der Realität auszuweichen: Die Hälfte der Hauptstadtbewohner sind russischer Herkunft.

 

Besonders Lettland hat aufgrund seines sowjetischen Erbes ein Integrationsproblem, das damit auch ein Problem der Europäischen Union ist. Der Gemeinschaft kann es nicht gleichgültig sein, wenn sich im Nordosten der EU hunderttausende Staatenlose, die folglich auch keine EU-Bürger sind, in Parallelgesellschaften einrichten.

 

Unter Jelzin war Russland weiter

 

Dass es dazu kommen konnte, ist allerdings nicht allein die Schuld Lettlands beziehungsweise Estlands. Viele russische Einwohner haben sich bis heute nicht damit abgefunden, als Minderheit in einem anderen Land zu leben. Sie bemühen sich schon deshalb nicht um die Staatsbürgerschaft, weil sie das Erlernen der estnischen oder lettischen Sprache als Zumutung empfinden oder aus einem Ehrgefühl heraus trotzig ablehnen. Alte wie junge Russen kapseln sich ab und gerieren sich als Opfer der diskriminierenden Mehrheitsgesellschaften. Unterstützt werden sie in dieser Haltung von Moskau, das in Bezug auf die baltischen Staaten bis heute Geschichtsklitterung betreibt. So ist die Annektierung der drei Baltenrepubliken durch die sowjetische Armee nach russischer Lesart keine Okkupation, sondern ein freiwilliger Beitritt gewesen. Angeblich hat es ein halbes Jahrhundert Besatzung, Deportationen, politische und kulturelle Unterdrückung nicht gegeben. Hier prallen zwei konträre Geschichtsbilder aufeinander. Vor zwei Jahren erklärte Wladimir Putin gar, die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts sei der Zerfall der Sowjetunion gewesen. Unter Boris Jelzin war Russland schon einmal weiter.

 

Die europäisch-russische Annäherung darf nicht dazu führen, dass wir vor bestimmten Fehlentwicklungen die Augen verschließen. In dem Konflikt an der Ostsee steckt ein kaum beachtetes Konflikt- und Gewaltpotenzial, wie die Ausschreitungen anlässlich der Verlegung des sowjetischen Kriegerdenkmals in Tallinn Ende April dieses Jahres gezeigt haben.

 

Die EU muss ihren Mitgliedern beistehen

 

Auch Russland kann nicht daran gelegen sein, dass es in dieser Region zu einer weiteren Eskalation der Gewalt kommt. Dennoch werfen estnische Regierungsmitglieder wie der Justizminister Rein Lang der russischen Botschaft vor, sich massiv in die inneren Angelegenheiten Estlands eingemischt zu haben. Lang bezichtigt die Botschaft, die Ausschreitungen mitorganisiert und angeheizt zu haben. Auch die estnische Parlamentspräsidentin Ene Ergma klagte kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen, man beobachte eine Zunahme der Propaganda sowie gezielter Provokationen aus Moskau. Tallinner Medien berichten zudem, dass estnische Sicherheitskreise in einem Bericht auch Aussagen über die von Vertretern der Minderheit gegründete „Verfassungspartei“ machen, die von Moskau finanziert werde. Die Partei setzt sich unter anderem dafür ein, Russisch als zweite Amtssprache in Estland einzuführen – eine Forderung, die Unterstützung beim russischen Präsidenten findet. Putin hat wiederholt erklärt, er werde die Interessen der Russen „im nahen Ausland“ verteidigen.

 

Die Europäische Union muss ihren baltischen Mitgliedstaaten in dieser schwierigen Phase beistehen und helfen, eine drohende Eskalation zu verhindern. Darüber hinaus sind massive Integrationsanstrengungen nötig, um dem Problem Herr zu werden. Allein werden Estland und Lettland die Entwicklung vermutlich kaum in den Griff bekommen. Und der Druck aus Moskau scheint eher zu- als abzunehmen.

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