Sehnsucht nach dem starken Mann
Doch diese erfreulichen Indikatoren scheinen sich auf das Ansehen der beiden Volksparteien nicht positiv auszuwirken. Die Zustimmungswerte zur Großen Koalition sind schon seit Monaten im Keller und liegen auf noch niedrigerem Niveau als die Werte der rot-grünen Bundesregierung in deren Endphase. Das demoskopische Tief hat gewiss damit zu tun, dass die Regierungsparteien eine Reihe von unpopulären Maßnahmen ergreifen mussten. Die Erhöhung des Renteneinstiegsalters auf 67 Jahre, die Kürzung von Steuersubventionen, die Beitragserhöhungen in der Krankenversicherung im Zuge der Gesundheitsreform und die Erhöhung der Mehrwertsteuer – dies alles gehört zu einer „Politik des Weniger“, die nicht geeignet ist, Begeisterung hervorzurufen. Selbst wenn diese Maßnahmen mittel- und langfristig zu einer Stärkung der Wachstumskräfte beitragen, werden sie von den Bürgern zunächst als Belastungen wahrgenommen.
Für die nachlassende Unterstützung dürften zudem das Erscheinungsbild der Regierung und die institutionellen Probleme der Großen Koalition verantwortlich sein. Nachdem sich Union und SPD jahrzehntelang als Kontrahenten begegnet sind und unter Ausschluss der jeweils anderen Volkspartei regieren konnten, fällt ihnen die Gewöhnung an die neue Rolle sichtlich schwer. Statt die Wettbewerbsorientierung abzulegen, gemeinsame Erfolge auch nach außen hin gemeinsam darzustellen und unpopuläre Maßnahmen partnerschaftlich zu vertreten, betrachten sie die Wählerzustimmung zur Regierungspolitik weiter als ein Nullsummenspiel nach dem Motto: Dem einen nützt, was dem anderen schadet. Entsprechend kleinteilig fallen die meisten Kompromisse zwischen den Regierungsparteien aus. Beide Seiten setzen alles daran, für sich selbst bis ins kleinste Detail hinein Vorteile herauszuholen und Veränderungen durchzusetzen, um nur nicht den Eindruck zu erwecken, in den Entscheidungsprozessen unterlegen zu sein.
Die eigene Klientel kann das natürlich nur erkennen und würdigen, wenn die Verhandlungspositionen öffentlich dargestellt werden. So entsteht das Bild eines kleinlichen, permanenten Hickhacks, das wenig vertrauenerweckend wirkt und die Bürger von der Politik weiter entfremdet. Dass Entscheidungen, die auf diese Weise zustande kommen, auch in sachlicher Hinsicht nicht sonderlich weiterführen, hat der Streit um die Gesundheitsreform exemplarisch gezeigt.
Die Selbstbezogenheit der politischen Akteure verschärft das institutionelle Problem, das sich bei einer Großen Koalition aus der Suspendierung des normalen parlamentarischen Wechselspiels zwischen Regierung und (annähernd gleich starker) Opposition ergibt. Wenn die Wähler mit der Großen Koalition unzufrieden sind, müssen sie entweder auf die kleineren Oppositionsparteien ausweichen oder der Wahl fern bleiben. Profitieren würden vermutlich auch populistische oder extremistische Parteien am rechten Rand, die in der Bundesrepublik bislang nur sporadische Wahlerfolge erzielt haben. Niederlagen der Regierungsparteien bei den „Zwischenwahlen“, die im Laufe der Legislaturperiode stattfinden, sind in allen demokratischen Systemen zwar eine Art Naturgesetzlichkeit. Bei einer Großen Koalition könnten sie jedoch paradoxerweise dazu führen, dass dieses Regierungsformat „perpetuiert“ wird: Setzen sich die Stimmenverluste von SPD und Union fort, dürfte es für eine (kleine) Zweierkoalition, wie sie in der Bundesrepublik bis 2005 üblich war, erst recht nicht mehr reichen. Die nach den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern gebildeten Großkoalitionen bestätigen diese Annahme.
Die seit der Bundestagswahl als Alternative diskutierten Dreierkoalitionen müssen ihre Machbarkeit erst noch beweisen. Dies gilt sowohl für eine rot-rot-grüne Linkskoalition, die auf Bundesebene aufgrund der programmatischen Unverträglichkeit der PDS/Linkspartei fürs Erste ausgeschlossen werden kann, als auch für die schwarzen und roten Ampelkoalitionen. Politisch am ehesten vorstellbar erscheint eine rote Ampel, die aber im Bundesrat gegen eine überwältigende Mehrheit von oppositionsregierten oder -mitregierten Ländern ankämpfen müsste und dadurch im Gesetzgebungsprozess leicht lahm zu legen wäre. Unklar ist auch, wie eine Dreierkoalition überhaupt angebahnt werden soll, setzen neue Regierungsformate in der Bundesrepublik doch traditionell einen vorherigen Testlauf in den Ländern voraus. Die Parteiensysteme in den alten und neuen Bundesländern sind aber so strukturiert, dass sie Dreierkoalitionen in der Regel gar nicht erfordern. Der Hauptgrund dafür liegt in der ganz unterschiedlichen Stärke der PDS/Linkspartei. Ausgerechnet das Parteiensystem auf Bundesebene erweist sich also für die Koalitionsbildung als besonders schwierig.
Totalumgestaltung des politischen Systems?
Einen anderen Ausweg aus der Problematik könnten Minderheitsregierungen bieten, über die am Wahlabend des 18. September 2005 manche Akteure ebenfalls laut nachdachten. Vor dem Hintergrund der Weimarer Erfahrungen hat diese beispielsweise in den skandinavischen Ländern geläufige Praxis in der parlamentarischen Kultur der Bundesrepublik allerdings keine Wurzeln geschlagen. Symptomatisch für das letztlich ungebrochene Dogma der stabilen Mehrheitsregierung stehen das Scheitern des „Magdeburger Modells“ in Sachsen-Anhalt, dem auch die meisten Politikwissenschaftler nicht viel abgewinnen konnten oder die heftige Auseinandersetzung um die Rolle des Südschleswigschen Wählerverbandes nach der letzten Landtagswahl in Schleswig-Holstein. (Dabei würde eine unvoreingenommene Analyse zeigen, dass eine gestützte oder lediglich geduldete Minderheitsregierung mit den Funktionsbedingungen des parlamentarischen Systems besser vereinbar ist als eine Große Koalition.)
Angesichts dieser nicht vorhandenen oder nur schwer gangbaren Alternativen wirkt es befremdlich, wenn sich Politiker von Union und SPD mit der vermeintlichen Selbstgewissheit trösten, die ihnen vom Wähler aufgezwungene Regierung sei nur eine Übergangslösung. Der fortbestehende Wettbewerb zwischen den beiden Parteien verlangt von ihnen offenbar, dass sie dieses Bekenntnis gebetsmühlenartig wiederholen. Genauso befremdlich muten allerdings die intellektuellen Ambitionen einer Reihe von Journalisten und politischen Beobachtern an, die die Regierungsprobleme auf andere, sehr viel zupackendere Weise lösen wollen – nämlich mittels einer Totalumgestaltung unseres politischen Systems.
Auch an dieser Stelle müssen sich die Politiker den Vorwurf gefallen lassen, mit fahrlässigen Äußerungen falsche Erwartungen geweckt zu haben. Angela Merkels Hoffnung, nach dem erwarteten Wahlsieg von Schwarz-Gelb endlich „durchregieren“ zu können, war ebenso unbegründet wie die vom früheren Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi getroffene Feststellung, die 2003 begonnene Föderalismusreform müsse zur „Mutter aller Reformen“ in diesem Land werden. Immerhin sind die Politiker klug genug, sich allzu konkrete Reformvorschläge und Visionen von der künftigen Gestalt des Regierungssystems zu verkneifen, weil sie um die Beharrungskräfte der vorhandenen Strukturen und die darin eingebauten Interessen wissen.
Solche Rücksicht brauchen Journalisten nicht zu nehmen. Dies ist auf der einen Seite notwendig, damit sie die Kontrollfunktion einer freien Presse wahrnehmen können. Auf der anderen Seite verleitet es zu holzschnittartigen, Zustimmung erheischenden Diagnosen, die mit der Realität oft wenig gemein haben. Gerade bei Themen, die die Legitimität und Unterstützungsbereitschaft des de mokratischen Systems unmittelbar berühren, sollte es das journalistische Ethos gebieten, der Aufklärungspflicht besonders gewissenhaft nachzukommen. Bei den Vertretern des Boulevards mag man hier vielleicht Abstriche machen. Von der Qualitätspresse wird jedoch zu Recht erwartet, dass sie dem Populismus entgegentritt, statt ihn mit verkürzten oder verzerrten Deutungen der politischen Wirklichkeit selbst zu schüren.
Zumindest was die Analyse des politischen Systems angeht, wird die journalistische Zunft diesem Anspruch seit geraumer Zeit kaum noch gerecht. Durchmustert man die in den letzten Jahren vorgelegten Buchtitel und Leitartikel zur behaupteten Reformmalaise, ergibt sich ein nahezu übereinstimmender Befund: Schuld an Reformrückstand und mangelnder Regierungsfähigkeit tragen demnach die konsensuellen Strukturen des politischen Systems, die Entscheidungen – wenn überhaupt – nur auf kleinstem inhaltlichem Nenner und nach erheblicher zeitlicher Verzögerung ermöglichten. Titel wie „Die Konsensfalle“ des Spiegel-Redakteurs Thomas Darnstädt bringen das Problem scheinbar auf den Punkt. Dass der Konsensualismus und die mit ihm verbundenen Blockadetendenzen auch Ausdruck einer immer komplizierter werdenden Regierungswirklichkeit sein könnten, will diesen Autoren nicht in den Sinn kommen. Auch stören sie sich nicht sonderlich an der Tatsache, dass andere konsensdemokratisch verfasste Staaten wie die Niederlande oder die skandinavischen Länder in der Vergangenheit sehr wohl eine erfolgreiche Reformpolitik betrieben haben. Der Reiz ihrer Diagnose liegt gerade in der Simplizität, die sich sodann in den Therapievorschlägen widerspiegelt. Um die Regierungsfähigkeit wiederherzustellen, so die Behauptung, müssten „lediglich“ die vorhandenen Konsenszwänge zurückgedrängt und die politischen Entscheidungsträger mit mehr Autorität und Handlungsmacht ausgestattet werden. Dies sei auch unter Demokratiegesichtspunkten ein Vorteil, weil es die politischen Verantwortlichkeiten klar mache.
Der Journalist als populistischer Verfassungsingenieur
Es scheint nicht übertrieben, hinter diesen Vorstellungen die altbekannte Sehnsucht nach dem „starken Mann“ zu vermuten. Dass dieser im Gewand eines mehrheitsdemokratischen Dezisionismus daherkommt, vermindert den populistischen Gehalt der Systemkritik keineswegs, die in ihrer Forderung nach „Entkomplizierung“ vielen Menschen aus der Seele sprechen dürfte. Gewiss gehen nicht alle Autoren so weit wie der Publizist Arnulf Baring, der sich in einem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung geschriebenen Beitrag sogar den Notverordnungsartikel 48 der Weimarer Reichsverfassung zurückwünschte, um notwendige und schmerzliche Reformen durchzusetzen. In punkto Radikalität können es aber auch die meisten anderen Verfassungskritiker mit Baring mühelos aufnehmen. Bezeichnenderweise befinden sich unter ihnen viele Wirtschaftsjournalisten. Nicht selten wird ihnen dabei von ehemaligen Politikern, Verbandsvertretern oder Verfassungsjuristen sekundiert. Selbst der amtierende Präsident des Bundesverfassungsgerichts stimmt in diesen Chor ein.
Wenn sich Journalisten als „Verfassungsingenieure“ betätigen, greifen sie zumeist einzelne Bereiche des Regierungssystems heraus. Nur ausnahmsweise entwickeln sie eine komplette Agenda möglicher Systemreformen. Eine solche Gelegenheit hat vor einigen Monaten Christoph Schwennicke erhalten, dem von der Süddeutschen Zeitung für die Auflistung seiner institutionellen Reformvorschläge eine ganze Seite in der Wochenendbeilage freigeräumt wurde (7./8. Oktober 2006). Der unter dem bombastischen Titel „So retten wir Deutschland“ vorgelegte Zwölf-Punkte-Plan stellt eine Mischung dar, die man mit Vergnügen liest, deren ironische und polemische Zutaten sich vom offenkundig ernst gemeinten Kern der Systemkritik aber nur schwer trennen lassen. Dennoch (oder gerade deshalb) wollen wir den Reporter im Folgenden beim Wort nehmen.
Am Ausgangspunkt aller institutionellen Wunschträume steht bei Schwennicke die Einführung des Mehrheitswahlrechts. In der britischen Variante würde dieses mit dem heutigen Vielparteiensystem Schluss machen. An dessen Stelle träte eine bipolare Zweiparteienstruktur, bei der Union und SPD sich in der Regierungsverantwortung periodisch ablösen könnten. Folgt man Schwennicke, so überwiegen die demokratischen Vorteile eines solchen Systems seine Nachteile bei Weitem. Letztere liegen bekanntlich in der durch das winner takes all-Prinzip hervorgerufenen ungleichen Repräsentation, die – so Schwennicke – im Vergleich zum Verhältniswahlrecht zwar ungerecht sei, dem vorrangigen Zweck des Mehrheitswahlrecht, eine handlungsfähige und politisch identifizierbare Regierungsmehrheit hervorzubringen, aber untergeordnet werden müsse.
Gehören Grüne und FDP per Federstrich beseitigt?
So diskutabel die Argumente für einen derart radikalen Schnitt prinzipiell sein mögen, so schnell fallen sie in sich zusammen, wenn man den systemischen Kontext berücksichtigt, in dem die Einführung des Mehrheitswahlrechts erfolgen soll. Gerade dort, wo sich das Parteiensystem pluralisiert, wo also neue Parteien entstehen und die Kleinen zulasten der Großen in der Wählergunst zulegen, wäre der Übergang zu einem Mehrheitssystem unter Legitimationsgesichtspunkten kaum begründbar. Eine solche Reform würde FDP und Grüne mit einem Federstrich beseitigen, während die PDS/Linkspartei nur noch mit vereinzelten Mandaten aus ihren ostdeutschen Hochburgen rechnen könnte. Gerade weil dies so ist, gehört es in der Bundesrepublik zum guten parlamentarischen Brauch, Änderungen am Wahlrecht tunlichst im Konsens aller relevanten Parteien vorzunehmen. Ein Systemwechsel hin zum Mehrheitswahlrecht, der gegen den erbitterten Widerstand der kleinen Parteien durchgesetzt werden müsste, würde mit dieser bewährten Tradition brechen.
Selbst wenn man bereit wäre, diesen Preis zu zahlen, würde ein Mehrheitswahlrecht nicht dazu beitragen, die Regierungsfähigkeit der Bundesrepublik zu erhöhen. Im Zusammenspiel mit den föderalen Strukturen könnte sich die Reform sogar als kontraproduktiv erweisen. Verschwänden nämlich FDP, Grüne und PDS/Linkspartei von der bundespolitischen Bühne, wäre ihre Überlebensfähigkeit auch auf Länderebene in Frage gestellt. In den Ländern entstünde deshalb ein Druck, die eigenen Wahlrechtsregelungen jenen des Bundes anzupassen. Aufgrund des bei den Landtagswahlen auftretenden Zwischenwahleffekts hätte dies mit ziemlicher Sicherheit gegenläufige Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat zur Folge – zumal, wenn man einem weiteren Vorschlag Schwennickes folgt und die Landtagswahlen auf einen Termin inmitten der Legislaturperiode zusammenlegen würde. Bei einfarbigen Mehrheiten wäre die Kompromissfindung aber noch schwieriger als heute. Die Interessengegensätze zwischen Regierung und Opposition beziehungsweise zwischen Bund und Ländern, die durch das jetzige System vielfältiger und disparater Koalitionen zumindest abgemildert werden können, würden unvermittelt aufeinanderprallen.
Schwennicke würde diesem Argument sicher entgegenhalten, dass sein Reformplan auch eine Entmachtung des Bundesrates vorsieht. Wie dies bewerkstelligt werden soll, lässt er aber gleichfalls offen. Natürlich ist dem Redakteur der Süddeutschen Zeitung nicht entgangen, dass es eine Föderalismusreform mit eben dieser Zielrichtung gerade erst gegeben hat. Ob sie den bundespolitischen Einfluss der Ministerpräsidenten tatsächlich reduzieren wird, ist – wie Schwennicke am Beispiel der Gesundheitsreform zu Recht einwendet – mehr als zweifelhaft. Daraus den Schluss zu ziehen, das Versäumte könne in der beabsichtigten zweiten Reformrunde – der Neuordnung der Finanzbeziehungen – nachgeholt werden, ist jedoch blanke Illusion. Nachdem die Länder durch die Föderalismusreform I nur wenig zusätzliche substanzielle Kompetenzen erhalten haben, wäre es verwunderlich, wenn man ihnen jetzt weitreichende eigene Steuerbefugnisse zubilligen würde. An einer vollständigen Entflechtung der Zuständigkeiten dürften noch nicht einmal die großen, finanzstarken Länder interessiert sein.
Wenig überraschend, aber genauso off the point ist der Vorschlag, den Bundesrat durch einen Senat nach amerikanischem Vorbild zu ersetzen. Unter Demokratiegesichtspunkten ist dies gewiss sympathisch. Fraglich bleibt, ob es auch die viel beklagte Parteipolitisierung des Bundesrates beenden und diesen auf den Status einer reinen Länderkammer zurückführen würde. Weil die Senatoren ebenfalls Parteienvertreter wären, die vom Volk oder den Landesparlamenten gewählt würden, spricht wenig dafür. Der eigentliche Hebel für eine Reform des Beteiligungsföderalismus wäre eine noch konsequentere Rückführung der zustimmungspflichtigen Gesetze gewesen, die in der Bundesstaatskommission aber nicht durchsetzbar war. Der Vergleich mit den USA übersieht zudem, dass die exekutivische Struktur des föderalen Vertretungsorgans in der Bundesrepublik durch den Verbundcharakter des Gesamtstaates vorgegeben ist, der dem Bund das Gros der Gesetzgebungsbefugnisse und den Ländern die Regelzuständigkeit für die Verwaltung zuweist. Die Ursprünge dieses Prinzips reichen weit in die deutsche Geschichte zurück. An ihnen lässt sich nicht ohne Weiteres rütteln.
Warum die Direktwahl des Bundespräsidenten keine gute Idee ist
Ähnlich geschichtsblind sind die Vorstellungen, die Christoph Schwennicke von der künftigen Rolle des Bundespräsidenten hat. Das Amt des Staatsoberhauptes soll durch Einführung der Direktwahl politisch gestärkt werden. Auch diesen Vorschlag hat man schon oft gehört – meistens, wenn gerade die Wahl oder Wiederwahl eines Präsidenten durch die Bundesversammlung anstand. Überzeugender wird er dadurch nicht. Von der Aufwertung des Präsidentenamtes verspricht sich Schwennicke offenbar mehr Sachverstand und Gemeinwohlorientierung im Regierungs- und Gesetzgebungsprozess. Bei einer Direktwahl würde jedoch eher das Gegenteil eintreten: Das Staatsoberhaupt wäre Exponent einer bestimmten parteipolitischen Richtung, könnte also sein Amt gerade nicht mehr neutral ausüben. Die Änderung des Wahlmodus würde zudem eine Ausweitung der Befugnisse des Präsidenten nach sich ziehen, da man auf der Basis der heutigen Amtsausstattung kaum einen Wahlkampf führen könnte. Gerade dies würde den Präsidenten in eine potenzielle Rivalität zum parlamentarisch verantwortlichen Regierungschef bringen und eine weitere Variante des divided government heraufbeschwören. Nach den negativen Erfahrungen mit der dualistischen Exekutive in der Weimarer Republik haben sich die Verfassungsgeber im Parlamentarischen Rat aus guten Gründen gegen ein solches Modell entschieden. Auch in anderen europäischen Ländern ist der „Semi-Präsidentialismus“ längst auf dem Rückzug. Warum sollte man ihn also ausgerechnet in der Bundesrepublik wieder einführen?
Auf der Reformagenda nicht fehlen dürfen schließlich die Maßnahmen, die der Hypertrophierung des Regierungssystems durch die Parteien und der Selbstbedienungsmentalität der politischen Klasse entgegenwirken sollen: Verkleinerung der Parlamente, Begrenzung der Amtszeit von Mandatsträgern, Neuordnung der Abgeordnetenbesoldung, Zusammenlegung von Ministerien, Behörden und Bundesländern, Beendigung der unsinnigen Arbeitsteilung zwischen Bonn und Berlin – kaum ein populärer Vorschlag bleibt ausgespart. Vieles davon ist diskussionswürdig und an mancher Stelle im Übrigen schon verwirklicht. Dass die Maßnahmen eine nennenswerte Verbesserung der Regierungsfähigkeit bewirken könnten, unterstellt jedoch noch nicht einmal der Autor. Tatsächlich geht es hier wohl in erster Linie darum, das Ansehen der Parteien aufzubessern und die Legitimität der Parteiendemokratie insgesamt zu stärken. Dies ist wichtig, berührt aber kaum den Kern unserer Regierungsprobleme.
Die grotesken Blüten des Populismus
Ein anderer Vorschlag, der den Populismusverdacht ebenfalls nahe legen könnte, taucht bei Schwennicke bezeichnenderweise nicht auf: die Einführung oder Stärkung direktdemokratischer Beteiligungsmöglichkeiten. Im Kontext seiner Diagnose der Regierungsprobleme ist dies gut nachvollziehbar. Die Vorschläge laufen ja in der Summe darauf hinaus, den gewählten Vertretern die Handlungsmacht einzuräumen, auch unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen. „Es ist völlig uninteressant, dass nur 20 Prozent der Bevölkerung für uns stimmen werden“, legt Schwennicke seinem Idealpolitiker als Motto in den Mund. Auch die vorgeschlagene Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre und die Bündelung der Landtagswahltermine dürften vorrangig dem Ziel dienen, den Einfluss der Wähler auf die Politik zu reduzieren. Damit befindet sich der Redakteur der Süddeutschen Zeitung in vollem Einklang mit dem Mainstream der Wirtschaftsjournalisten, die im Volk das Haupthindernis für eine effektive Reformpolitik in diesem Land sehen.
Tatsächlich sind die Fixierung der Deutschen auf das überkommene Wohlfahrtsmodell und ihr Festhalten an sozialstaatlichen Sicherungsansprüchen Faktoren, die den Handlungsspielraum der Politik begrenzen. Ob ein mehrheitsdemokratisches System nach britischem Muster diese Restriktionen leichter überwinden könnte als das bestehende bundesdeutsche Konsenssystem, wäre jedoch erst zu zeigen. Die Erfahrungen der letzten Bundestagswahlkämpfe, in denen der Populismus groteske Blüten getrieben hat, stimmen hier eher bedenklich. Wenn Politiker nach den Wahlen etwas anderes tun müssen, als sie vorher versprochen haben, unterminieren sie nicht nur ihre eigene Glaubwürdigkeit, sondern die der gesamten Parteiendemokratie. Die jetzige Kanzlerin und ihr Vorgänger haben dies auf unterschiedliche Weise erfahren. Musste Gerhard Schröder vorzeitige Neuwahlen ausrufen, weil er den Kurswechsel der rot-grünen Bundesregierung in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik seiner Partei und Wählerschaft nicht mehr vermitteln konnte, so scheiterte Angela Merkels Versuch, die Bevölkerung mittels einer „Strategie der Ehrlichkeit“ auf noch härtere Einschnitte vorzubereiten, ebenfalls an der überschätzten Reformwilligkeit der eigenen Klientel. Die Möglichkeit einschneidende Veränderungen durchzusetzen, stößt also auch in einem System des gegnerschaftlichen Parteienwettbewerbs an Grenzen. Dies gilt umso mehr, als in der Bundesrepublik die mäßigenden Elemente der britischen Parlamentskultur fehlen.
Dass direktdemokratische Beteiligungsmöglichkeiten dieses Problem nicht verschärfen würden, sondern sie im Gegenteil ein Mittel sein könnten, den Populismus zu kanalisieren, dürfte für die Apologeten des mehrheitsdezisionistischen Modells eine schwer verdauliche Vorstellung sein. Tatsächlich erfordert es viel Geduld und die Bereitschaft zur nüchternen empirischen Analyse, die Wirkungsweise politischer Institutionen zu verstehen. Reformvorschläge sind nämlich nur dann tauglich, wenn man ihre Systemverträglichkeit beachtet. Daraus lassen sich zwei Mindestanforderungen an eine seriöse Analyse ableiten: Zum einen muss untersucht werden, wie sich die Änderungen einer Systemeigenschaft auf andere Systemeigenschaften auswirken. Dies lässt sich am besten mittels einer länder- beziehungsweise systemvergleichenden Betrachtung bewerkstelligen. Zum anderen geht es um die Frage, wie man vom einen in den anderen Systemzustand gelangt. Hier müssen sowohl die historischen Prägungen berücksichtigt werden, die den Pfad möglicher Veränderungen vorgeben, als auch die Interessenlagen der politischen Akteure. Es reicht eben nicht, sich auf der grünen Wiese Idealmodelle auszumalen und dann an die Politik zu appellieren, sie solle sich doch bitte einen „Ruck“ geben und diese verwirklichen. Individuen mögen so funktionieren, Institutionen nicht. Maßgeblich für deren Veränderbarkeit sind vor allem geeignete Anreizstrukturen, die sich durch moralische Appelle vielleicht ergänzen, aber niemals ersetzen lassen.
Voluntarismus statt Substanz
Journalistische „Analysen“ wie die von Schwennicke sind weit davon entfernt, diesen Kriterien zu genügen. Nicht nur, dass sie ganz im Voluntaristischen befangen bleiben; sie gehen auch in der Substanz an den Problemen der Regierungsfähigkeit in diesem Lande vorbei. Dies wäre durchaus verschmerzbar, würden die so transportierten populistischen Vorstellungen nicht starken öffentlichen Widerhall finden und verbreiteten Ressentiments gegenüber der Politik und dem politischen System in die Hände spielen. Weil die differenzierende Sichtweise der Wissenschaft – gemessen an Auflagenhöhe und Medienpräsenz – dagegen wenig ausrichten kann, entbehrt ein weiterer „Reformvorschlag“ Schwennickes nicht der Komik: das Auftrittsverbot für so genannte Parteienforscher im Fernsehen. Angeblich würden diese dort für Geld bloß das erzählen, was vorher in der Zeitung gestanden habe. Seinen Artikel aus dem Oktober 2006 hat der Redakteur der Süddeutschen Zeitung damit hoffentlich nicht gemeint. Andernfalls müsste man die Fernsehauftritte der Parteienforscher regelrecht herbeiwünschen oder aber die Forderung umdrehen und ein Schreibverbot für Journalisten verlangen – bei Themen, von denen sie nachweislich nichts verstehen.