Sicherheit durch Wandel
Von Willy Brandt kennen wir die Mahnung, dass „jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll“. Und weiter: Dass wir uns auf unsere Kraft besinnen sollen.
Was ist das für eine Zeit, für die wir Mit-Verantwortung haben, auf deren Höhe wir sein müssen? Vor 100 Jahren gab es auf der Welt 1,8 Milliarden Menschen. Heute sind es 7,5 Milliarden. Im Jahr 2050 werden es 9 bis 10 Milliarden Menschen sein. Wir erleben das Zeitalter der fast absoluten Mobilität bei Kommunikation und Transport, der weltweiten Vernetzung von Wirtschaft und Finanzen. Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Terror und existenzieller Not. Aber die Politik, ihre Wirkungs- und Gestaltungsmacht, ist über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus nur unzureichend entwickelt. Die Vereinten Nationen sind ein Fortschritt, aber gemessen am Regelungsbedarf oft hilflos. Das Gewaltmonopol ist längst nicht überall in verlässlichen Händen. Europa ist insgesamt weiter, aber längst nicht weit genug. Wenn – auf der Grundlage der allgemeinen Menschenrechte und demokratischer Prinzipien – die Kompromissfindung nicht Priorität bekommt und das Einstimmigkeitsprinzip nicht abgelöst wird, kann die EU nicht hinreichend zukunftsfähig werden.
Die Unterjüngung unserer Gesellschaft
Deutschland selbst ist eine gefestigte Demokratie und hat gute Voraussetzungen für eine friedliche Entwicklung auf stabilem Wohlstandsniveau. Aber verlässlich auf Nachhaltigkeit angelegt ist auch die deutsche Politik nicht in allen Bereichen. Die Regierungskoalition weiß das und hat mit dem Koalitionsvertrag vom Herbst 2013 den Finger in eine Wunde gelegt: Es geht um den Fachkräftemangel. „Mit einer Allianz für Fachkräfte wollen wir das Thema in den Mittelpunkt von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften stellen“. Und: „Uns ist bewusst, dass Deutschland zu den Ländern gehört, die weltweit am tiefgreifendsten vom demografischen Wandel betroffen sind.“
Die Koalitionäre haben gute Gründe für diese Einschätzungen: Die Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge 1950 bis 1964 sind inzwischen 50 bis 65 Jahre alt, im Jahr 2030 werden sie überwiegend Rentner sein. Die derzeit rund 49 Millionen im Alter zwischen 20 und 64 Jahren schrumpfen rasch in Richtung 40 Millionen, bis zum Jahr 2060 sogar auf 34 bis 38 Millionen. In dieser Rechnung sind schon 3 Millionen Zuwanderer (netto) bis 2030 enthalten, sonst würde die Perspektive noch schwieriger. Ab etwa 2020 wird die bisher weitgehend verdrängte Unterjüngung am Arbeitsmarkt relevant. Produktivitätssteigerungen können da nicht viel verändern; im üblichen Umfang sind sie in die Prognosen schon eingerechnet. Nur rund ein Drittel der Arbeitnehmer sind noch im produzierenden Gewerbe tätig, fast zwei Drittel arbeiten im Dienstleistungssektor, etwa im Riesenbereich der Sozialen Arbeit im weiteren Sinne (besonders Pflege) – kein Feld für eine Steigerung der Umschlagsgeschwindigkeit. Im Gegenteil, es wird mehr Zeit gebraucht für eine wachsende Zahl Pflegebedürftiger, also mehr Personal. Und unter dem Schlagwort Industrie 4.0 den generellen Niedergang des Arbeitskräftebedarfs zu unterstellen, wäre Übermut, aber keine Strategie. Der Bedarf wird komplexer, aber nicht einfach zu befrieden. Kurz: Das Problem gibt es.
Die Unterjüngung wird bisher von der wachsenden Lebenserwartung vieler Älterer überdeckt. Wir leben in der Illusion, irgendwie werde sich das Generationenloch schon füllen. Die Demografie-Debatte in Deutschland war bisher überwiegend ignorant: Wir wissen Bescheid … und warten mal ab. Aber nun, 2014 und 2015, kommen plötzlich sehr viele Menschen nach Europa, besonders nach Deutschland, viele junge Menschen sind dabei. Sie suchen hierzulande die Rettung vor Terror und Drangsal für sich und ihre Familien. Das spricht für uns, und das hat Konsequenzen. Deutschland muss sich entscheiden.
Die Menschen, die in Deutschland ankommen, erhalten organisierte und spontane Unterstützung, privat und staatlich. Ein bisschen Stolz ist schon erlaubt, wenn man die Hilfsbereitschaft erlebt, quer durch alle Generationen und Berufe. Die Hilfe erfolgt ohne Kalkül, sondern der Menschen wegen. Und es ist richtig: Wir dürfen die Asylberechtigten nicht kalkulierend benutzen. Aber nutzen dürfen wir diese Zuwanderung schon. Denn die Integration der Menschen in unsere Gesellschaft ist gut für sie und gut für das ganze Land. Deshalb dürfen wir nicht im Erste-Hilfe-Modus verharren und die Menschen in Wartschleifen stecken, sondern müssen die Integration zur couragierten Alltäglichkeit machen. Zügig. Und eine solche Art der Integration ist mit Familie leichter als getrennt von ihr.
Bei aller Hilfsbereitschaft: Das Land ist trotzdem betreten, beunruhigt, alarmiert, im Zweifel. Auch weil die Aufnahme, die Klärung der Asylberechtigung, die Wohnraumbeschaffung, die Finanzierung, die regionale Zuweisung und die Strukturen für Integrationsangebote ungeordnet wirken oder sind. Regelmäßige, mehrsprachige, faktenbelegte, offene Informationen zum Fortgang der Dinge wären hilfreich, besonders für diejenigen, die guten Willens sind und helfen wollen.
Es gibt weitere Gründe für Skepsis: Manche sehen die Risiken, aber nicht die Chancen. Schließlich ist nicht erkennbar, ob und wann die Zuwanderungszahlen deutlich sinken werden. Manche haben einfach Angst vor dem Fremden. Und manche wähnen das christliche Abendland oder den säkularen Staat in Gefahr. Anderen ist es schlicht egal, ob fremde Menschen umgebracht werden oder ertrinken. Oder sie wollen ihren Wohlstand nicht teilen, zumindest nicht mit diesen Fremden.
Es geht um eine echte Gemeinschaftsaufgabe
Wenn berechtigte Asylanträge zügig positiv entschieden werden und die Abgelehnten das Land wieder verlassen, entspannt sich einiges. Das ist keine einfache Unterscheidung, denn auch ohne akute Lebensgefahr sind deprimierende Perspektivlosigkeit und materielle Not im eigenen Land ein verständliches Motiv, in der Welt bessere Lebenschancen zu suchen. Aber zurzeit können wir in Deutschland nicht beides leisten.
Man muss die Integration der Asylberechtigten in den Mittelpunkt rücken. Es werden Lehrerinnen und Lehrer, Dolmetscher, Ausbilder, Bäcker, Maurer, Ärzte gebraucht. Das ist – nebenbei – gut für das Binnenwachstum. Bund, Länder und Gemeinden und Zivilgesellschaft müssen abgestimmt handeln, niemand darf seinen Teil der Aufgabe dem anderen zuweisen (wollen und können). Das gilt für Kitas, Schulen, die Berufsausbildung, das Gesundheitswesen, den Arbeitsmarkt, den Wohnungsmarkt, für Kultur, Religion, Sport, Wohlfahrt, Gewerkschaften, Verbände …
Was im Koalitionsvertrag noch wie eine Fata Morgana klang, kann nun beginnen: Wir sind in der Lage, die besagte Lücke bei Arbeits- und Fachkräften zu füllen, vor der die Ehrlichen bisher ratlos stehen und die Ignoranten die Augen zukneifen. Beides hilft nicht.
Es geht um eine wirkliche Gemeinschaftsaufgabe für alle politischen Ebenen, die weit über die Legislaturperiode hinausreicht. Die Investitionen werden sich erst in ein bis zwei Jahrzehnten wirklich amortisieren. Zu behaupten, man könne das alles aus dem ansehnlichen Überschuss des glücklichen Augenblicks bezahlen, ist keine legitime Beruhigung für Wähler, sondern eine gefährliche Untertreibung. Damit würden nur die Fehler vom Anfang der Flüchtlingstragödie verlängert, als die Herausforderung lange Zeit verschwiegen und verniedlicht wurde. Besser sagen, was ist, als die Wählerinnen und Wähler verschonen zu wollen! Sie merken das und antworten mit Vertrauensentzug.
Zum Bündel der anderen Fragezeichen – vom Zweifel bis zur krassen Ablehnung: Wir haben uns doch auch alles selbst erarbeitet, unseren Wohlstand und unsere Demokratie, und deshalb gehört das alles uns und sonst niemandem, oder? Heißt mit Fremden zu teilen nicht auch, das Erreichte zu gefährden? Wer garantiert, dass das gutgeht? Wer gibt uns Sicherheit? Illegitim sind solche Fragen nicht, aber doch auch selbstgerecht und geschichtsvergessen. Dabei ist das alles ja noch nicht so lange her: Nach 1945 haben wir auch im Westen Deutschlands die Demokratie nicht erzwungen, sie wurde uns von den Alliierten ermöglicht und abverlangt. Da die Welt in West und Ost geteilt war, wurde nicht der Morgenthau-Plan, sondern der Marshall-Plan in die Tat umgesetzt – Geostrategie und Erbarmen trafen sich. Im Jahr 1948 kam die D-Mark, ein Jahr später trat das Grundgesetz in Kraft. Ab 1950 verschwanden die Lebensmittelkarten und das Wirtschaftswunder fing an. Vorher, seit 1946, war uns in den Schulen leckere Quäkerspeise in die Kochgeschirre geschöpft worden, obwohl Deutschland die Söhne der Spender in den Jahren zuvor mit Panzern und Bomben bekämpft hatte.
Pegidahaftes Gebaren ist ignorant und dreist
Die millionenfache, kontinuierliche Zuwanderung der „Gastarbeiter“ ab Ende der fünfziger Jahre trug zum Wohlstand der Bundesrepublik erheblich bei. Pizza, Speiseeis, Spaghetti und Döner sind nicht die wichtigsten, aber doch nette Beigaben dieser Entwicklung. Die jahrzehntelange Zuwanderung bewirkte einen Fortschritt für unser Land, unsere Kultur und unsere Zukunftsfähigkeit. Die Phase ab 2015 kann ein ebensolcher Erfolg werden; das Potenzial, politisch und zivilgesellschaftlich, ist vorhanden. Immer verlief der Prozess der Wanderungen mal schneller, mal langsamer. Ihn zu gestalten, ist klüger, als ihn nur zu ertragen. Es kann gelingen.
Gewiss: Es wird unsere Gesellschaft und unser Land verändern. Die Konstante sind die Werte, die unser Grundgesetz setzt, die Gleichwertigkeit aller Menschen und das Demokratische und Soziale, die unser Miteinander bestimmen. Niemand darf dahinter zurückfallen, niemand, der hier lebt, und niemand, der kommt.
Alles pegidahafte Gebaren – als ob wir eine Wohlstandsgesellschaft aus originär eigener Kraft wären, eine tausendjährige Demokratie, einfach besser, ein Völkchen mit ganz besonderem Duft – ist ignorant und dummdreist. Aber Dummheit kann auch gefährlich werden, und deshalb müssen Diffamierung, Hass und Gewalt, die sich gegen Zuwanderer richten, bekämpft werden – präventiv und mit Sanktionen, mit Argumenten und mit Gesetzen. Mehr Sensibilität ist gefragt: Mit Vorurteilen fängt alles Übel an, und mit dem Tolerieren von Intoleranz nimmt es seinen Lauf. Man soll sich doch nicht gleich aufregen, nur wegen eines lockeren Spruchs? Doch, wir werden uns aufregen müssen. Es ist nicht egal, wie wir es mit der Würde des Anderen, des Fremden, des Zuwanderers, des Asylberechtigten und seiner Familie (!) halten.
Wer gibt uns Sicherheit? Totale Sicherheit kann es nie geben. Aber wenn wir so viel Sicherheit wie möglich wollen, dürfen wir nicht verharren, sondern müssen gestalten. Sicherheit durch Wandel, das bleibt richtig. Denn es gibt keine Stadttore mehr, die wir verschließen können und keine Stadtmauern, hinter denen wir in Sicherheit sind. Wir leben weltweit in offenem Gelände. Man kann das ignorieren oder bedauern, ändern kann man das nicht.
Nur klare Positionierung schafft Orientierung
Unbestritten: Es ist ein Problem, dass derzeit so viele Menschen in so kurzer Zeit kommen. Für manche Holprigkeit im Geschehen ist Nachsicht angebracht. Die Geschwindigkeit des Zuzugs macht das Gelingen aber nicht unmöglich.
Integration kostet, ja. Aber die Wahrheit ist: Wir sparen in diesen Zeiten Geld, das wir eigentlich wohlstandssichernd längst in Bildung, Ausbildung und Qualifizierung unseres Nachwuchses investieren müssten. Nur fehlt uns bisher ein Teil dieses Nachwuchses. Wir leben auf Kosten der kommenden Generationen. Was wir heute stolz sparen, müssen wir – und vor allem andere – morgen teuer bezahlen. Die Rechnung kommt so oder so.
Wenn alle Fragen beantwortet sind, kommt immer noch der Einwand: Wir können doch nicht alle retten! Richtig. Das verspricht auch niemand, und es kommen auch nicht alle. Jeder weiß, dass unsere Aufnahmefähigkeit nicht unbegrenzt ist. Aber darum geht es bei diesem Einwurf ja nicht. Die Einsicht in die schlimme Wahrheit, dass nicht alle Asylberechtigten der Welt in Deutschland oder Europa gerettet werden können, ist keine Entschuldigung dafür, einen dieser Menschen nicht zu retten, obwohl wir ihn retten könnten. Diejenigen, die eine Höchstzahl fordern, vermeiden es, ihre Mindestzahl zu nennen, denn dann müssten sie Farbe bekennen. Was ist unsere Messlatte: Wollen wir möglichst viele retten oder möglichst wenige? In Schmidtschen Worten: Wer tut, was er kann, der kann nicht mehr tun, als er tut – aber das muss er tun. Pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken.
Und auch diese abschließende Frage ist berechtigt in der Demokratie: Was bedeuten die Entwicklungen für die Mehrheitsbildung im Lande, für kommende Wahlen? Das Schema grundsätzlicher, ideologischer Bipolarität hat sich über die Zeit abgeschliffen. Die deutsche Einheit und das Ende des kommunistischen Reichs haben daran Anteil, auch die faktische Globalisierung und die Sorgen um Europa angesichts fortschreitender Renationalisierung. Die zentralen Herausforderungen für die kommenden Jahrzehnte sind offensichtlich (Maut in Ehren, sie ist es nicht), sie laufen nicht immer und überall entlang der bisherigen Wählerstrukturen, nicht einmal der Parteistrukturen:
• internationale Verantwortung mittragen,
• Europa weiterbauen und stärken (!),
• jetzt asylberechtigte Menschen aufnehmen,
• sie zügig integrieren und befähigen, für sich selbst zu sorgen, sie fördern und fordern,
• Fremdenfeindlichkeit stoppen, wo nötig bekämpfen,
• Wohlstand und Gerechtigkeit und Frieden für Deutschland und Europa nachhaltig sichern.
Diese Punkte finden keine hundertprozentige Zustimmung im Lande, aber doch eine deutliche Mehrheit, wenn die demokratischen Kräfte ohne Taktiererei dafür werben. Die Sache muss ausgetragen werden. Eindeutig. Nur klare Positionierung zu essenziellen Fragen schafft Orientierung. Die Wahlbeteiligung wird steigen. Es gibt etwas zu entscheiden.
Die Idee der Sozialdemokratie müssen wir dabei nicht verbiegen. Sie ist mit ihren Werten und Zielen auf der Höhe der Zeit. Und wie andere hat auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands Persönlichkeiten in ihren Reihen, die die Führungs- und Gestaltungsaufgabe im Land in diesem Sinne übernehmen und die Deutschlands gewichtiger Rolle in Europa gerecht werden können.
Das Demokratische und das Soziale, die uns im Grundgesetz vorgegeben sind, sind nicht unser Eigentum, wohl aber unsere Eigenart. Das galt für die Bundeskanzler Brandt, Schmidt und Schröder. Und wir bleiben verlässlich.
Nachbemerkung. Auch der 13. November in Paris ändert daran nichts, im Gegenteil: Flüchtlinge unter Verdacht zu stellen oder in Haftung zu nehmen für terroristische Verbrecher, nur weil sie dieselbe Sprache sprechen, ist eine Schande.