Kinder in der alternden Gesellschaft
Ich habe den von der Redaktion der Berliner Republik vorgeschlagenen Titel für meinen Beitrag übernommen, um mich gleich mit ihm auseinandersetzen zu können. Das scheint mir nötig. Denn dieser Zusammenhang begegnet einem ja oft, in privaten Gesprächen, vor allem in der Politik und vor allem so: Zu wenige Kinder und länger leben – wie passt das zusammen? Hält das unsere schrumpfende Gesellschaft aus? Halten das speziell unsere Sozialsysteme aus?
Mir scheint die Antwort recht einfach und eindeutig: Das ist neu, einiges wird sich ändern, wenn wir es nicht selbst verändern. Aber es geht, wenn wir die Prioritäten richtig setzen: Erstens, diejenigen Kinder ansehen, die wir haben. Und zweitens, Wohlstand primär über Leistung sichern, nicht über die Zahl der Köpfe.
Trotzdem, es gibt zu beiden Themen – Kinder in unserer Gesellschaft und demografische Entwicklung – dringenden Diskussions- und Handlungsbedarf. Ich will die mir wichtigsten Punkte – soweit sie die Kinder betreffen – kurz skizzieren:
Den Kindern, die es gibt, eine gute Entwicklung und eine gute Erziehung geben: Kinder als Persönlichkeiten. Sie sollen welche werden und sein, mit Rückgrat, selbstbewusst, frei und verantwortungsbereit, mit Lebensmut und Lebensfreude. Die Literatur über die Entwicklung von Kindern hin zum Erwachsensein ist riesig. Wahrscheinlich steht alles drin. Wer weiß wo?
Dass Kinder bewusst gewollt, geplant – das Wort ist so arrogant wie zutreffend – werden können, ist eine positive Sache. Die allermeisten Kinder sind heute gewollt, zumindest nicht ungewollt, nicht unwillkommen. Das ist gut für alle Beteiligten und Betroffenen. (Dass manche potenzielle Eltern sich verplanen, ist auch wahr. Nicht wenige Kinder werden wohl nicht geboren, weil der Entschluss für sie zu spät gefasst wird und die Gesetze der Biologie Grenzen setzen. Ein besonderes Thema.)
Das geplante Kinder dann vielleicht – oder oft? – auch passgenau weiter verplant werden, ist eine andere, keine so gute Sache.
Wie werden die – wenigeren – Kinder zwischen uns Erwachsenen groß? Viele ohne Geschwister, konfrontiert mit allen Informations- und Kommunikationsangeboten (auch: -zumutungen) dieser Zeit.
Warum ist so selten von Erziehung die Rede?
Ich denke, Eltern haben es heute schwerer als unsere damals, ihren Kindern Orientierung zu geben, sie zu leiten, ohne sie zu bestimmen. Denn darum geht es bei der Erziehung. Mag sein, ich bin zu weit weg von der Lebenswirklichkeit der Eltern von heute. Aber dass das Wort „Erziehung“ – in diesem positiven Sinne – mir so selten begegnet, finde ich auffällig.
Wer Orientierung geben will, muss selbst orientiert sein, Eltern, Großeltern, Lehrer. Sind wir’s? Was gilt? Ohne Werte geht es nicht. Ohne die unseres Grundgesetzes auf keinen Fall: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. Damit auch die körperliche Unversehrtheit.
Die Geltung der individuellen Freiheitsrechte ist umfassend. Damit auch, spiegelbildlich, die Verantwortung jedes Einzelnen. Im Übrigen: Brutal schlagende (deutsche) Lehrer hat meine Generation noch erlebt. Mancher von uns auch solche (deutsche) Eltern. Diese Gewalt ist eingedämmt. Gewalt lässt sich eindämmen.
Nun soll hier nicht der Erziehungs- oder Wertenotstand ausgerufen werden. Das wäre fahrlässig und unverantwortlich. Dafür erlebe ich auch zu viele junge Menschen, die mich begeistern. So schlecht ist deren Erziehung offensichtlich nicht. Und die haben erkennbar Lust aufs Leben. Gut so.
Aber eine Debatte in Deutschland über „Erziehung heute“ fände ich hilfreich. (Sie täte auch uns Älteren gut. Eltern und Kindern sowieso. Und vermutlich käme noch nebenbei so manches auf den Tisch, was längst mal dahin gehört). Wenn Politik da nicht zuständig ist – und sie ist es prioritär nicht – wer führt die Debatte dann?!
Den Kindern, die es gibt, die Chance auf Bildung, Ausbildung Gesundheit und Wohlstand geben: Bescheidwissen, besser: Bildung, denn das ist mehr als Wissen. Das ist keine Garantie, aber eine Voraussetzung für gerechte Lebenschancen.
Nach gescheiterter Schule und ohne Ausbildung die jungen Menschen in Benachteiligtenprogramme (die müssen sein, ausdrücklich: ja) zu schicken und so soziale Gerechtigkeit schaffen zu wollen, ist eine Notlösung – wenn es nicht längst vorher konkrete Hilfsbemühungen gab, ein Zynismus.
Ungerechtigkeit wird in der Kindheit, auch der frühen, geprägt. (Ich weiß, auch nachher kann noch viel schiefgehen und Gescheiterte, denen dann trotzdem geholfen werden muss, wird es immer geben.) Dazu ist Politik schon deutlich mehr gefordert und vieles ist in den letzten zehn Jahren in Bewegung gekommen. Das muss entschlossen vorangebracht werden.
Gesundheit kann gelernt werden
Ja, die Zeit vor der Schule und in der Schule muss im Interesse der Kinder (!) gestaltet werden (auch weil die Mütter und Väter dann leichter ihrem Beruf nachgehen können, aber zuerst wegen der Kinder selbst).
Gesundheit ist ein Geschenk der Natur, aber nicht selbstverständlich. In den Kinder- und Jugendjahren kann viel verschlampt werden, was bald oder später zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führt. (Danach auch noch, aber blicken wir auf die ersten 15 bis 20 Jahre. Gesundheit kann gelernt werden – in Grenzen). Zum Thema Erziehung gehört Gesundheit dazu. Zum Thema gerechte Lebenschancen und Wohlstandssicherung im Übrigen auch, massiv sogar.
Den Kindern, die benachteiligt sind, ganz konkret helfen: Nicht alle Eltern können sinnvoll erziehen. Nicht alle Familien nehmen ihre Verantwortung für ihre Kinder wahr. Also muss versucht werden, die Eltern mit Argumenten zu erreichen. Nicht alle werden prinzipiell unwillig oder absolut unfähig sein. Manche haben es selbst nicht besser erfahren und sind hilflos. Kinder aufziehen und erziehen ist keine leichte Aufgabe – aber auch keine, vor der man Angst haben muss.
Im Interesse der Kinder muss deren Schutz vor Vernachlässigung und Gewalt garantiert werden, denn sie selbst sind zu schwach, sich zu wehren oder ihr Recht einzufordern. Eine aufmerksame und hilfsbereite Gesellschaft ist da sehr förderlich, aber der Staat muss Wege sichern, die den Schutz der Kinder gewährleisten. Hier steht das Recht des Einzelnen, des Kindes, über dem der Eltern.
Eltern, die in unserer Gesellschaft eigene Orientierungs- und Behauptungsprobleme haben, werden ihre Kinder kaum wirkungsvoll ins Leben begleiten können. Gibt es Elternsprechstunden, Familienhelferinnen oder sonstige Hilfen für solche Eltern? Von Menschen, die diese Eltern verstehen und die von diesen Eltern verstanden werden? Ja, gibt es – aber sind sie ausreichend? Wann gibt es hinreichend Patinnen und Paten, die solche Kinder gezielt über eine längere Zeit begleiten, in den Beruf zum Beispiel? Wir sind bei all dem nicht bei Null. Es gibt viele und ermutigende, gute Beispiele. Aber Deutschland muss da systematischer ran. Die Politik, aber nicht nur die Politik.
Familien mit Kindern unterstützen: Bildung, Arbeit, Wohnen, Gesundheit und Gesellschaft – dies alles muss stimmen. Einiges dazu ist gesagt. Familie und Beruf müssen vereinbar sein. Auch deshalb sind Ganztagseinrichtungen in der Vorschulzeit und in den Schulen so wichtig, ausreichend viele und in der erforderlichen Qualität. Wir kommen voran. Der Druck darf nicht nachlassen.
Gesundes Essen, preisgünstig bis kostenlos
Auch Unternehmen können mit ihren speziellen Angeboten hilfreich sein; die Debatte über die gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmen kann hier sehr konkret werden. Dass so viele Alleinerziehende – ganz überwiegend Frauen – arbeitslos sind und schwer wieder Arbeit finden, hat noch immer in dem unzureichenden Angebot an Ganztagsbetreuung seinen Hauptgrund.
Wohnung, Wohnumfeld und Stadtteilleben sind wichtig für Kinder. Die Idee der sozialen Stadt kann zusätzliche Impulse vertragen unter dem Gesichtspunkt der Interessenlage der Kinder. Vereine, zum Beispiel Sportvereine, und Initiativen leisten da viel, auch für die physische Gesundheit und für die psychische Stabilität. Sie tun das ehrenamtlich. Bravo! Der Kommunal-Kombi könnte helfen, zusätzliches belastbares Engagement zu initiieren.
Die finanzielle Ausstattung von Familien muss stimmen. Arbeitseinkommen und Steuern und Kindergeld und Kinderzuschlag und Elterngeld müssen das berücksichtigen. Konkrete Hilfen für Kinder aus einkommensschwachen Familien sind gleichwohl unentbehrlich; gesundes Essen in Ganztagseinrichtungen etwa sollte obligatorisch werden, preisgünstig bis kostenlos. Berufsarbeit und eigenes, ausreichendes Familieneinkommen durch die eigene Arbeit ist die beste Basis für die finanzielle – oft auch emotionale – Stabilität von Familien. Arbeitslosigkeit kann Familien zerstören. Familienspezifische Transfers müssen bei Bedarf obligatorisch sein.
Für die Kinder handeln, die nicht in unserem Land leben: Deutschland hat wenige – aber auch arme – Kinder, ist aber ein relativ reiches Land. Die Welt hat sehr viele Kinder in sehr armen Ländern. Wir werden nicht allen helfen können. Aber vielen. Wir – das sind die reichen Länder. Karitativ helfen, das ist nicht wenig. Zahlreiche Organisationen und Einzelne sind da aktiv. Das ist sehr gut, ist allen Lobes wert und muss weitergehen.
Wohlstand bleibt nicht von allein
Aber es geht auch grundsätzlich politisch um die soziale Ordnung dieser Welt. Auch insofern geschieht einiges Gutes – der Kampf der International Labour Organisation gegen Kinderarbeit weltweit beispielsweise –, und dazu trägt Deutschland aktiv bei. Aber noch ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Aus heute 6,5 Milliarden Menschen werden bis 2050 rund 9,1 Milliarden. Was diese Generation erlebt, das wird auch über die Friedfertigkeit der Welt im zweiten Teil des Jahrhunderts entscheiden – und über das Glück oder die Katastrophe von Milliarden Kindern. (Angesichts dieser Dimension ist dieser Abschnitt meines Beitrages hier unangemessen schmal, es sollte dazu mal ein eigenes Heft erscheinen. Heidemarie Wieczorek-Zeul und andere können dazu viel sagen).
Wohlstand sichern, damit es allen – einschließlich Kindern und Älteren – gut gehen kann: Wohlstand bleibt nicht von allein. Wohlstand für Deutschland hängt aufs Engste ab von unserer Leistungsfähigkeit. Wir sind Hochleistungsland und müssen das bleiben. Das kann nur gelingen, wenn wir alle Potenziale voll nutzen. Wir haben aber im Wesentlichen nur ein Potenzial: unser Wissen und Können, verknüpft mit unserer Erfahrung und unserer Vernetztheit in einer globalisierten Welt.
Die Investitionen – komisches Wort hier, aber berechtigt – in die Köpfe und die Herzen unserer Kinder und jungen Menschen sind entscheidend: für die Chancen der jungen Generation, aber auch für das Niveau unserer sozialen Sicherungssysteme und damit für die soziale Sicherheit der Älteren. Das müssen die jungen, die aktiven, die älteren und die alten Menschen wissen und deshalb müssen wir es ihnen sagen, klipp und klar. Das alles ist für die Wohlstandssicherung viel wichtiger als die Zahl an Kindern.
Es gibt genügend Menschen in Deutschland. Wenn unser Land attraktiv ist, kommen welche hinzu. Vor allem aber: Wir haben große stille Reserven. Die Fähigkeiten der Jungen, der Frauen und der Älteren sind nicht voll mobilisiert.
Die Zahl der Kinder wird also nicht – wesentlich – die Zukunftsfähigkeit des Wohlstands in unserem Land beeinflussen, sondern Bildung (und noch einmal: das bedeutet mehr als „Wissen“), Ausbildung, Weiterbildung, Forschung und Entwicklung sowie die Festigung weltweiter Märkte nach sozialen Regeln werden entscheidend sein.
Die Lösung muss nahe bei den Kindern sein
Dies ist der Punkt, kurze Anmerkungen zu den föderalen Strukturen in Deutschland zu machen. Es gibt einige politische Herausforderungen, die zielführend nur beantwortet werden können, wenn Bund, Länder und Kommunen konzertiert und konzentriert die Umsetzung angehen. Die Ausrede, dass die andere Ebene für diesen oder jenen unbefriedigenden Aspekt der Kinder- oder Alten- oder Wohlstandspolitik verantwortlich sei und man seine eigenen Hände in Unschuld waschen könne, oder dass die anderen Ebenen sich da mangels Zuständigkeit heraushalten sollten, ist schlichtweg dumm und ein Elend deutscher Politik. Diese Themen können nur gelingen, wenn sich alle im Interesse des einen Menschen, für den sie Politik machen sollen, zusammentun und nicht der eine Mensch stückchenweise, altersphasenweise den verschiedenen Ebenen zugeteilt wird. Es ist Zeit, sich darüber mehr Gedanken zu machen, und etwas zu tun. Die Lösung muss nahe bei den Kindern sein. Also vor Ort, in unseren Städten und Stadtteilen.
Dazu beitragen, dass Menschen lange aktiv bleiben: Das faktische Renteneintrittsalter steigt. Die Berufserfahrungen werden nicht mehr systematisch kohortenweise frühzeitig stillgelegt. So manches Unternehmen entdeckt endlich wieder die Stärken der Älteren. Wir werden in diesen Jahren bald statt der 55 die 62 als das Alter erkennen und akzeptieren, ab dem fließende Übergänge in die Rente – bedarfsweise – organisiert werden müssen. Immer mehr Menschen werden aber bis 65, in 20 Jahren bis 67 im Beruf stehen. Und das auch können.
Kinder – nicht Humankapital!
Es geht aber nicht nur um berufliche Aktivität. Immer mehr wird diese Altersklasse in der Gesellschaft eine neue, eigene Rolle gewinnen. Über die gesellschaftliche Einordnung dieses Phänomens wird nachzudenken sein. Wir werden eine immer zeitreichere Gesellschaft sein; mit viel Erfahrung, viel Wissen, viel Können, relativ guter Gesundheit, Kompetenz. Dass solche Menschen, wenn sie wollen – ich glaube, sie wollen –, länger in ihren Wohnungen, in ihrem Umfeld, in gesellschaftlichen Zusammenhängen aktiv bleiben können, drängt sich auf. Daraus lässt sich viel Gutes machen. Was dieser letzte Abschnitt des Beitrags noch mit Kindern zu tun hat? Fitte Großeltern sind nicht das Letzte, was Kindern gut tut.
Resümee zur Kinderzahl: Und heißt das alles nun, dass wir in Deutschland genügend Kinder haben? Dass es egal ist, wie viele Kinder wir haben? Dass wir uns dazu keine Gedanken machen müssen? Nein, das alles heißt es nicht. Klartext: Es wäre aus mehreren Gründen gut, es würden mehr Kinder geboren in Deutschland. Kinder – nicht Humankapital! Den Weg dahin finden wir aber wohl nur, wenn wir nicht über die Kinder jammern, die es zurzeit nicht gibt, sondern diejenigen nehmen, die da sind. Kinder in einer alternden Gesellschaft.