Snowdens Enthüllungen und die Zukunft der Netzpolitik
Das weltweite Netz ist noch immer ein globales Freiheitsversprechen – ein Ort der Freiheit und der offenen Kommunikation, ein Ort der bürgerlichen und unternehmerischen Selbstentfaltung, ein Ort des Zusammenlebens. Doch dieses Bild hat Kratzer bekommen: Spätestens die Enthüllungen des vergangenen Jahres aus den Snowden-Files über die flächen-deckende Ausspähung durch ausländische Nachrichtendienste haben aufgezeigt, dass dieses Freiheitsversprechen in Gefahr ist. „Das Internet gehört der NSA“, brachte es Zeit Online Anfang Januar 2014 auf den Punkt.
Edward Snowdens Enthüllungen haben dazu beigetragen, dass die Netzpolitik endgültig ganz oben auf der politischen Agenda angekommen ist. Die Große Koalition hat sich darauf verständigt, die Digitalisierung zu einem Schwerpunkt der 18. Legislaturperiode zu machen und eine „Digitale Agenda 2014 – 2017“ auf den Weg zu bringen. Mindestens drei Bundesminister (eigentlich sind es noch mehr) verstehen sich als „Internetminister“. Dass es kein eigenes Ressort für Digitalpolitik gibt, kann man bedauern. Andererseits lässt es sich auch als eine Chance für das wichtige Zukunfts(querschnitts)thema interpretieren, wenn es jetzt zu einem Wettstreit der Ideen aus den unterschiedlichen Ressorts kommt. Zudem hat der Bundestag erstmals einen Internetausschuss eingesetzt, der die Verwirklichung der Digitalen Agenda im Parlament koordiniert und begleitet.
Unter dem Dach der „Digitalen Agenda“ der Bundesregierung werden sieben zentrale Handlungsfelder zusammengefasst: die Digitale Infrastruktur und der Breitbandausbau; die Digitale Wirtschaft; der Innovative Staat; die Digitale Gesellschaft; die Bereiche Forschung, Bildung und Kultur; Sicherheit, Schutz und Vertrauen für Gesellschaft und Wirtschaft; sowie die europäische und internationale Dimension der Digitalisierung. Damit bietet die Erarbeitung der Digitalen Agenda die Möglichkeit, eine umfassende und vorwärtsgewandte Digitalpolitik zu konzipieren, mit der die Maßnahmen zur politischen Gestaltung der digitalen Gesellschaft zielgenau aufeinander abgestimmt und gebündelt werden. Oberstes Ziel muss es sein, den gesellschaftlichen Wandel so zu gestalten, dass die digitale Gesellschaft eine offene, pluralistische und lebenswerte Gesellschaft bleibt und die ökonomischen Potenziale dieser Entwicklung in Deutschland umfassend genutzt werden können. Einige zentrale Punkte möchte ich im Folgenden aufgreifen.
Die netzpolitische Bilanz der Legislaturperiode wird sich vor allem an zwei Fragen messen lassen müssen: Erstens, in welchem Maße wird es gelungen sein, einen Aufbruch beim Ziel „Recht auf schnelles Netz“ zu schaffen? Und wie steht es um den Anspruch eines flächendeckenden Breitbandzugangs für alle Menschen? Zweitens: Ist es gelungen, ein Stück technologische Souveränität zurückzugewinnen?
Das Recht auf ein schnelles Netz
Diese beiden Punkte sind die Grundvoraussetzung für alle Hoffnungen und Erwartungen, die mit der digitalen Agenda verbunden sind: angefangen bei guter Arbeit, über die Wahrung der Grund- und Freiheitsrechte, von der digitalen Selbständigkeit, bis hin zur Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit. Das Recht auf ein schnelles Netz und eine flächendeckende Breitband-Grundversorgung im Rahmen der Daseinsvorsorge und die Rückgewinnung technologischer Souveränität sind zentral. Zusammen bilden sie die Grundpfeiler dafür, ob die wichtigen Ziele der Agenda auch nur ansatzweise erreicht werden können. Deswegen müssen sie auf der netzpolitischen Agenda oberste Priorität haben.
Ein Zugang zum schnellen Netz ist Bestandteil der Daseinsvorsorge. Ziel muss es sein, die digitale Spaltung schnell zu überwinden. Mit dem Koalitionsvertrag wurde vereinbart, dass Regionen, die nicht mindestens eine Datengeschwindigkeit von 2 Mbit/s haben, so bald wie möglich erschlossen werden sollen. Bis zum Jahr 2018 soll es in Deutschland eine flächendeckende Grundversorgung mit mindestens 50 Mbit/s geben. Um dieses Ziel zu erreichen, ist ein umfangreiches Maßnahmenpaket beim Breitbandausbau vonnöten. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre kann und darf sich die Politik nicht allein auf die Zusagen der Unternehmen verlassen. Das bedeutet, dass der Bund Investitionen bereitstellen und die Kommunen unterstützen muss, wo wettbewerbliche Lösungen nicht in Sicht sind. Anders sind die hochgesteckten Ziele nicht zu erreichen.
Der NSA-Skandal war für die deutsch-amerikanischen Beziehungen eine Zäsur, aber auch für unser Grundverständnis von einem freien und offenen Netz. Die politischen Lehren aus diesem Skandal reichen weit über netzpolitische Zusammenhänge hinaus. Dennoch gilt es gerade mit Blick auf die IT-Sicherheit, die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Notwendig ist eine systematische Bestandsaufnahme der potenziellen Verletzbarkeit und Abhängigkeit deutscher und europäischer IT-Infrastrukturen. Darauf aufbauend müssen Maßnahmen zum effektiven Schutz von sensiblen Kommunikationsstrukturen für die private, staatliche und wirtschaftliche Ebene entwickelt werden. Dazu gehören Maßnahmen zur Verbesserung der IT-Sicherheit, des Datenschutzes, der Spionageabwehr, außerdem der verstärkte Einsatz von einfach anzuwendender Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Wichtig ist dabei, keine isolierten „Scheinlösungen“ anzubieten, sondern IT-Sicherheit als Kette zusammenhängender Prozesse zu begreifen. Um Vertrauen zu schaffen, müssen diese insgesamt sicher sein. So macht eine deutsche Cloud nur wenig Sinn, wenn der Weg zu ihr über unsichere Leitungen führt.
Arbeitnehmerrechte im digitalen Wandel
Eine solche Bestandsaufnahme kann nur dann erfolgreich sein, wenn klar ist, wie ausländische Nachrichtendienste das Internet „beherrschen“ und wie und wo sie die flächendeckende Ausspähung betreiben. Dies ist die zentrale Aufgabe des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur NSA-Affäre, der – parallel zur Digitalen Agenda – die weiterhin offenen Fragen aufklären muss.
Der digitale Wandel verändert auch die Art und Weise, wie wir arbeiten. Er verändert Produktionsprozesse und Wertschöpfungsketten. Er ist in seinen tiefgreifenden Auswirkungen mit der Entstehung der Industriegesellschaft vergleichbar, Stichwort „4. Industrielle Revolution“. Digitale Innovationen bieten erhebliche Potenziale für Effizienz- und Leistungssteigerungen. Die digitalen Technologien beeinflussen alle Wirtschaftsstrukturen und -sektoren und verwischen die Grenzen zwischen Produktion und Dienstleistungen. Es gibt kaum noch Unternehmen, deren Arbeitsabläufe ohne das Internet funktionieren. Digitale Technologien ermöglichen Unternehmen und Beschäftigten neue Formen der räumlichen und zeitlichen Flexibilität der Arbeit sowie der Qualifikation. Teilhabemöglichkeiten und Teilhabegerechtigkeit müssen auch in der digitalen Welt gewährleistet werden. Gleichzeitig ist es eine offene Frage, wie die bewährten Mechanismen des Arbeitsschutzes – oder generell: Arbeitnehmerrechte – in ein immer stärker orts- und zeitungebundenes Arbeitsumfeld übertragen werden können.
Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist es, Investitionen und Innovationen in der digitalen Wirtschaft zu stärken und die Vernetzung der Industrie sowie Unternehmensgründungen durch optimale Bedingungen zu unterstützen. Eine moderne Wirtschaftspolitik muss die gesellschaftlichen Herausforderungen im Blick haben und eine gesellschaftliche Debatte über die positiven wie negativen Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt ermöglichen. Es ist notwendig, die Entwicklung digitaler Zukunftstechnologien zu beschleunigen und die Digitalisierung der klassischen Industrie zu unterstützen. Dies betrifft in Deutschland gerade auch traditionell starke Branchen wie die Automobilindustrie oder den Maschinenbau. In der „digitalen Welt“ dominieren zurzeit ausländische Anbieter den Hard- und Softwaremarkt ebenso wie die meistgenutzten innovativen digitalen Anwendungen (Apple, Microsoft, Google, Facebook). Diese Unternehmen sind meist recht jung und haben sich in kurzer Zeit zu Weltmarkführern entwickelt. Ich halte nicht viel von der Forderung nach einem deutschen Google. Vielmehr geht es darum, unsere Industrie im digitalen Zeitalter innovationsfähig zu halten und damit zu stärken. Der Wissens- und Technologietransfer zwischen Startups und klassischer Industrie ist der Stoff, aus dem wir in Deutschland wirtschaftliche Chancen entwickeln können. Mit dem Einzug des Internets der Dinge, Daten und Dienste in die Produktion können Innovationen, neue Geschäftsmodelle und Wertschöpfung sowie neue Arbeitsplätze entstehen.
Der Laptop als Werkbank des 21. Jahrhunderts
Das bedeutet zugleich, dass der Fokus der Förderung von Start-ups nicht ausschließlich auf die Entwicklung neuer Dienste gerichtet sein darf, die auf den dominierenden Infrastrukturen angeboten werden. Vielmehr muss die Offenheit der Strukturen für Innovationen – und damit auch für den Wettbewerb – langfristig gesichert werden, beispielsweise bei der Erarbeitung und Implementierung von Standards und Normen. „IT-Security – Made in Germany“ oder auch „Privacy – Made in Europe“ können dabei ein erheblicher Wettbewerbs- und Standortvorteil werden.
Klar ist: Für diese Entwicklung braucht es gut ausgebildete Beschäftigte. Digitale Bildung wird zum Motor des sozialen Aufstiegs. Der Laptop als Werkbank des 21. Jahrhunderts ist dabei mehr als ein schönes Bild: Es ist das Bekenntnis zur Arbeits- und Lebenswirklichkeit der digitalen Gesellschaft. Zugang zu Laptop oder Tablet für jeden Schüler, Veränderungen in der Lehrerausbildung und eine Digitalisierung der Bildungsinhalte sind wichtige Ziele. Es darf nicht länger vom Geldbeutel der Eltern oder der IT-Affinität von Schulleitern abhängen, ob junge Menschen sich das Know-how der digitalen Gesellschaft aneignen können.
Diese Punkte stellen nur einen Teil der notwendigen Schritte für eine fortschrittliche Digitale Agenda dar. Für die Politik ist die Digitalisierung Chance und Herausforderung zugleich. Auf vielen Gebieten arbeiten wir auf einem weißen Blatt Papier. Das heißt, dass wir Ideen entwickeln und neue Schwerpunkte setzen können. Die Digitale Agenda der Bundesregierung ist der erste Versuch, auf nationaler Ebene überhaupt eine konsistente, abgestimmte Gesamtstrategie zu entwickeln. Es ist ein ambitionierter Versuch, der sicher nicht an jeder Stelle sofort erfolgreich sein wird. Steve Jobs hat einmal gesagt: „Wenn Du Angst vor dem Scheitern hast, wirst Du nicht weit kommen.“ In gewissem Sinne ist das auch der Geist für den Arbeitsprozess der Digitalen Agenda 2014 – 2017. Die Politik muss den Gestaltungsspielraum in der Digitalpolitik nutzen. Wie dringend die Aufgabe ist, haben nicht zuletzt die Enthüllungen rund um Edward Snowden gezeigt.