Solidarität, Kompetenz, Führung
Bei der vorgezogenen Bürgerschaftswahl 2011 in Hamburg haben Olaf Scholz und die SPD das beeindruckende Ergebnis von 48,4 Prozent erzielt. Dass die SPD in einem Fünf-Parteien-Parlament die absolute Mehrheit gewinnen könnte, war zuvor für nahezu aussichtslos gehalten worden. Wie war dieser Erfolg möglich und welche Schlussfolgerungen sind daraus ableitbar? Aus unserer Sicht sind sieben Faktorenbündel hervorzuheben:
Erstens: Die seit 2008 amtierende schwarz-grüne Koalition war erfolglos, unbeliebt und vom ersten Tag an eher das Lieblingsprojekt einiger politischer Protagonisten als der CDU- und GAL-Wähler, geschweige denn der Hamburger Bevölkerung. Bereits 2008 wollte eine relative Mehrheit der Wählerinnen und Wähler lieber einen SPD- als einen CDU-geführten Senat, und dieser Wert stieg bis zur Wahl 2011 kontinuierlich an. Am Wahltag lag er bei 68 Prozent. Nur 29 Prozent der Wähler waren mit Schwarz-Grün zufrieden; die Unzufriedenheit reichte weit in die Wählergruppen der CDU und der GAL hinein. Diese Wechselstimmung zeigt sich auch im Ansehensverlust des CDU-Führungspersonals und im Einbruch der Kompetenzwerte der CDU. Verloren hat die CDU in erster Linie an die Nichtwähler (minus 77.000 Stimmen), an die SPD (minus 50.000) und die FDP (minus 20.000).
Jeder Fünfte wählte hier 2001 den Populisten Schill
Zweitens: In Hamburg gibt es volatile Wählergruppen, die nicht mit Kategorien wie „SPD-Stammwähler“, „Mitte“ oder „bürgerlich“ zu greifen sind. Zur Erinnerung: Im Jahr 2001 hatte jeder fünfte Wähler die rechtspopulistische „Schill-Partei“ gewählt, die zweieinhalb Jahre später wieder auf drei Prozent abstürzte. Diese Wähler wanderten schließlich zur CDU und nun teilweise zurück zur SPD – es scheint ihnen vor allem um Führung, Ordnung und Sicherheit zu gehen.
Drittens: Die SPD hat bereits in der Phase der Desorientierung des alten Senats einen klaren Führungs- und Gestaltungsanspruch angemeldet. Olaf Scholz etablierte sich schon vor dem Zerfall der schwarz-grünen Koalition im November 2010 aus der Opposition heraus in der Hamburger Politik (etwa bei der Herstellung des „Schulfriedens“), begab sich nach dem Bruch der Koalition in die Pole-Position und baute seinen Vorsprung im Laufe des Rennens aus. Scholz gelang es, dieses politische Momentum zu nutzen: Bei einer Direktwahl hätten sich 64 Prozent für den Herausforderer entschieden, aber nur 20 Prozent der Wähler für den amtierenden CDU-Bürgermeister Christoph Ahlhaus.
Stadt, Kandidat und Partei passten zueinander
Viertens: Entscheidend war, dass Olaf Scholz und die SPD zu Hamburg passten. Wahlen in Großstädten sind auch immer Selbstvergewisserungen: Wie will eine Stadt nach innen verfasst sein? Wie will sie sich nach außen darstellen? Olaf Scholz entsprach dem Bedürfnis vieler Hamburger nach hanseatischem Habitus: Solidität, Seriosität, Sachkompetenz, bürgerliche Ausstrahlung, Führung. Als politisches Kapital brachte er seinen Ruf als pragmatischer Problemlöser ein, den er sich vor allem als Bundesarbeitsminister in Zeiten der Finanzkrise erworben hatte. Bei allen persönlichen Kompetenzwerten lag er deutlich vor dem Amtsinhaber. Zugleich gelang es ihm, alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen anzusprechen. Ausdrücklich thematisierte Olaf Scholz auch die Probleme der Arbeitnehmer. Am Ende war für 68 Prozent der Wähler die SPD die Partei, die am besten zu Hamburg passt. Anders gesagt, es gab einen „Marken-Fit“ zwischen Stadt, Kandidat und Partei. Dabei konnte die SPD positive Erinnerungen an „gute alte Zeiten“ mit starken sozialdemokratischen Bürgermeistern aktivieren. Die höchste Zustimmung erzielte die SPD in den Altersgruppen ab 45 Jahren (51 Prozent). Die höchsten Zuwächse hatte sie bei Rentnern (51 Prozent, plus 21 Prozentpunkte), bei Wählern mit niedriger Bildung (60 Prozent, plus 20) und bei Arbeitern (57 Prozent, plus 19).
Fünftens: Das inhaltliche Profil bezog sich auf die konkreten Probleme in Hamburg. Laut Infratest dimap war für 93 Prozent der Wähler die Hamburger Politik wichtig für die Wahlentscheidung; für 60 Prozent spielte auch die Bundespolitik eine entscheidende Rolle. Die Wahlversprechen der SPD haben gezeigt, wie auch im Bund diskutierte Themen „vor Ort“ realisiert werden können. Einige Beispiele:
- - Kitagebühren: Im Anschluss an das von ihr initiierte erfolgreiche Volksbegehren zum Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung hat die SPD die Senkung der Kitagebühren und die schrittweise Kostenbefreiung für das fünfstündige Grundangebot zugesagt.
- - Wohnungspolitik: Mietpreissteigerungen und Wohnungsnot sind in Hamburg ein akutes Problem. Die SPD hat angekündigt, jährlich 6.000 Wohnungen bauen zu lassen und den sozialen Wohnungsbau wiederzubeleben.
- - Hafenpolitik: Der Hafen ist der symbolische Kristallisationspunkt für Wirtschaftskompetenz und Arbeit in Hamburg und zudem Lebensader der Stadt. Darum versteht die SPD den Hafen als öffentliche (Finanzierungs-)Aufgabe, während Ahlhaus das Prinzip „Hafen finanziert Hafen“ verfolgte. Unterstützung bekam die SPD vom maritimen Handelskammer-Präses, der Schatten-Wirtschaftssenator wurde.
- - Bildung/Jugend: Laut Infratest dimap war das Thema Bildung/Schule/Ausbildung mit 40 Prozent das mit Abstand wichtigste Problem in Hamburg. Der maßgeblich von der Hamburger SPD mit verhandelte Schulfrieden überbrückte Gräben in der Hamburger Wählerschaft und bildete die Grundlage für schulpolitische Verbesserungsvorschläge im Rahmen der bestehenden Schulstruktur. Hinzu kam, dass Olaf Scholz beim Thema berufliche Ausbildung an seine Tätigkeit als Arbeitsminister anknüpfen konnte.
- - Finanzen: Alle Vorschläge der SPD waren seriös durchfinanziert. Scholz machte nur Zusagen, die auch einzuhalten sind.
Diese Positionen wirkten sich auf das Profil der SPD als „kompetente Problemlöserin“ aus. Die stärksten Kompetenzwerte hatten die Sozialdemokraten auf dem Gebiet „Wohnungspolitik“. Es folgten „soziale Gerechtigkeit“ und „Familie“, danach „Schule/Bildung“, „Arbeit“ und „Wirtschaft“ auf etwa gleicher Höhe. Entscheidend jedoch war die Zukunfts- beziehungsweise allgemeine Problemlösungskompetenz: Laut Forschungsgruppe Wahlen lag die SPD hier mit 44 Prozent, laut Infratest dimap mit 51 Prozent vorn.
Diesmal kein lahmes „Sowohl als auch“
Sechstens: Die Wahlstrategie, das inhaltliche Profil, der Spitzenkandidat und die politische Kampagne waren in der SPD unumstritten und aus einem Guss. Es gab kein inhaltliches und personelles „Sowohl als auch“, sondern eine „sozialdemokratische Einheit“. Nach einer längeren Phase von Chaos und Streit trat die Hamburger SPD wieder geschlossen auf und nicht als Summe ihrer Flügel. Auf der „Metaebene“ griffen die zentralen Botschaften der Kampagne „Vernunft, Klarheit, Verantwortung“ nicht nur ein Bedürfnis der Wähler auf, sondern verkörperten auch die tatsächliche Haltung von Olaf Scholz und der Hamburger SPD. Das Resultat war ein bewusst nüchternes Gegenbild zu einer Politik, die auf bloße Inszenierung und hohle Personality setzt.
Siebtens: Trotz inhaltlicher Meinungsverschiedenheiten in Sachfragen gab es keine Polarisierung mit den Grünen. Rot-Grün war als erwartbare Koalitions- und Machtoption in beiden Wählergruppen weitgehend akzeptiert. Rund 81 Prozent der SPD-Wähler wählten die Partei auch mit allen Zweitstimmen. Die zweithäufigste Option (8 Prozent) war die Stimmenteilung zwischen SPD und Grünen. Ein SPD-FDP-Splitting gab es kaum. Bei den Grünen fällt das Wahlverhalten noch deutlicher aus: 51 Prozent der Grünen-Wähler gaben ihre Stimmen nur dieser Partei, 29 Prozent teilten ihre Stimmen zwischen Grünen und SPD auf. Olaf Scholz hat die Grünen im Wahlkampf nicht kritisiert und ihnen das Recht zugestanden, „hin- und wieder ungern mit der CDU zu koalieren“. Der politische Hauptgegner war eindeutig die CDU.
Was Wirtschaftskompetenz eigentlich bedeutet
Ein Wermutstropfen ist die geringe Wahlbeteiligung, die trotz der massiven Unzufriedenheit mit dem Senat auf 57,4 Prozent absank. So schön die SPD-Zuwächse auch sind – dass in sozial benachteiligten Stadtteilen wie Wilhelmsburg gerade einmal jeder dritte Wahlberechtigte an die Urne ging, kann angesichts einer deutlich höheren Mobilisierung des so genannten bürgerlichen Lagers zu einem strategischen Problem für die SPD werden. Sicher hat auch das komplizierte neue Wahlsystem einen Beitrag geleistet, bestimmte Gruppen von den Wahllokalen fernzuhalten. Der hohe Anteil von 3,1 Prozent ungültiger Stimmen kann kein Zufall sein.
Die Wahl in Hamburg war also keine ideologisch aufgeladene Richtungswahl, auch keine Denkzettel-Abstimmung über bundesweite Themen, sondern es ging vor allem um Personen, Haltungen und um konkrete regionale Probleme. Dennoch dominierten in den Tagen nach der Wahl zwei Schlussfolgerungen: Hamburg habe gezeigt, dass Wahlen „in der Mitte“ gewonnen würden. Und die SPD müsse „wirtschaftliche Vernunft“ gleichberechtigt neben die „soziale Gerechtigkeit“ setzen. Beide Schlussfolgerungen sind nicht falsch, aber in dieser verkürzten Form sind sie auch nicht richtig. Die Daten über die Motive der Wähler erschüttern die – in einigen Leitmedien vertretene – sehr grobschlächtige Weltsicht, es gebe einerseits „Stammwähler“, denen es um soziale Gerechtigkeit gehe, und andererseits „Mitte-Wähler“, denen „Wirtschaft“ wichtig sei.
Bezogen auf die Hamburger Wahl gaben 78 Prozent der Wähler an, für sie stehe die SPD nicht links, sondern in der Mitte. Doch gleichzeitig sagten auch 62 Prozent, die SPD nehme die Sorgen der „kleinen Leute“ ernst. Die Wähler scheinen also nicht zwischen einer Politik für die „kleinen Leute“ (vor allem Arbeitnehmer) und der „Mitte“ unterschieden zu haben. Das zeigt auch der Blick auf die inhaltlichen Wahlmotive: Gemäß Infratest dimap war das Thema „soziale Gerechtigkeit“ für 32,5 Prozent der höher Gebildeten wichtig, aber nur für 28,4 Prozent der Wähler mit einfachem oder keinem Schulabschluss. Auch war den höher Gebildeten die Bildungspolitik wichtiger. „Wirtschaft“ ist für 36,1 Prozent der höher Gebildeten wichtig – und für 36,7 Prozent der Wähler mit mittlerer Bildung. Der SPD ist es gelungen, alle Gruppen anzusprechen, die größten Zuwächse verzeichnete sie jedoch bei Arbeitern, Angestellten und Beamten sowie bei Rentnern. Bei allen Arbeitnehmergruppen lag sie knapp über 50 Prozent, bei den Arbeitern sogar bei 57 Prozent.
So sehr die Hamburg-Wahl also ein Unikum war, deren Rahmenbedingungen bei den noch anstehenden Landtagswahlen oder der Bundestagswahl 2013 kaum existieren werden, lässt sich dennoch eine Konsequenz für die Sozialdemokratie ableiten: Es geht darum, der gesellschaftlichen „Mitte“ ein eigenes Politik- und Deutungsangebot dazu zu machen, was „Wirtschaftskompetenz“ eigentlich bedeutet. Es geht eben nicht um inszenierte „Wirtschaftsfreundlichkeit“ oder das Nachsprechen wirtschaftsliberaler Formeln. Es geht – zumindest auf der Landesebene – um eine pragmatische Politik zur qualitativen Verbesserung des Wirtschaftsstandortes, die der Haltung und den Aussagen in anderen Politikfeldern nicht widersprechen darf. Erfolgreich ist daher nicht ein Nebeneinander, sondern eine Synthese von wirtschaftlicher und sozialer Kompetenz. Beide Aspekte bündeln sich im Übrigen in der Kompetenz zur Schaffung und zum Erhalt guter Arbeitsplätze – einem, wenn nicht dem Kernthema der Sozialdemokratie. «