Solidarität und Eigenverantwortung - ein Gegensatz nur auf den ersten Blick

Wer sich aus eigenen Kräften zu helfen weiß, muss auch aufgefordert sein, dies zu tun. Wird die Solidarität in einer Gesellschaft überlastet, trifft dies am Ende diejenigen, die am meisten auf sie angewiesen sind

Solidarität und Eigenverantwortung, vielfach werden sie als der Gegensatz schlechthin dargestellt. Solidarität, verstanden als das Einstehen füreinander, wird als unvereinbar angesehen mit der Eigenverantwortung, die viele mit einer Ellenbogenmentalität, mit einem Jeder-gegen-jeden gleichsetzen. Das eine schließe das andere aus. Meines Erachtens trifft jedoch vielmehr das Gegenteil zu. Solidarität und Eigenverantwortung sind keine Gegensätze, sie bedingen einander. Anders ausgedrückt: Ohne Eigenverantwortung ist Solidarität erst gar nicht möglich. Wer sich aus eigenen Kräften helfen kann, muss auch aufgefordert sein, dies zu tun. Nur so bleibt Raum für die Unterstützung derjenigen, die diese Unterstützung wirklich benötigen, weil sie sich eben nicht aus eigenen Kräften helfen können. Wird die Solidarität in einer Gesellschaft überlastet, trifft dies am Ende besonders diejenigen, die auf sie angewiesen sind. Eigenverantwortung, also sich dort zunächst selbst zu helfen, wo man es kann, und selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen, ist somit eine Voraussetzung für eine auch langfristig funktionsfähige Solidarität.

Die richtige Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung wird besonders vor dem Hintergrund einer alternden und schrumpfenden Gesellschaft zu einer entscheidenden Frage. Erst kürzlich hat das Statistische Bundesamt seine „12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung“ vorgelegt. Demnach kommen heute 34 Senioren im Alter ab 65 Jahren auf 100 Personen zwischen 20 und 64 Jahren. Im Jahr 2030 werden es bereits mehr als 50 Senioren sein und 2060 bereits mehr als 60. Auch wenn die statistische Altersgrenze bei 67 Jahren liegt, wird sich dieser so genannte Altersquotient, wenn auch auf einem günstigeren Niveau, bis ins Jahr 2060 noch verdoppeln. Dies stellt unsere umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme – die laufenden Ausgaben werden über Beiträge auf das Erwerbseinkommen finanziert – auf eine harte Probe. Verschlechtert sich das Verhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsempfängern, müssen entweder die Beitragssätze steigen, oder aber das Leistungsniveau muss sinken.

Es ist zu befürchten, dass kommende Generationen eine steigende Beitragslast nicht akzeptieren werden oder gar nicht schultern können, und dass es zu Ausweichreaktionen kommt. Bei einer zu starken Belastung steigt der Anreiz für qualifizierte Arbeitskräfte, ins Ausland abzuwandern. Geringqualifizierte weichen in die Schwarzarbeit aus, wenn sich angesichts steigender Lohnzusatzkosten gerade im niedrigen Einkommensbereich die Arbeitsaufnahme nicht mehr lohnt. Von einer Rationierung der Leistungen wären besonders diejenigen betroffen, die sich aus eigener Kraft nicht anderweitig absichern können. Gerade die Schwachen in der Gesellschaft sind damit die Leidtragenden umlagefinanzierter sozialer Sicherungssysteme, die die Lasten auf kommende Generationen verschieben, statt durch Vorsorge die Belastungen auf alle Generationen fair zu verteilen.

Die Gesundheitsprämie ist kein Abschied von der Solidarität


Vor allem in der Debatte um die künftige Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme wird der vermeintliche Gegensatz zwischen Solidarität und Eigenverantwortung gern bemüht. Ein Prämiensystem, das Vorsorge für einen höheren Bedarf an Gesundheitsleistungen im Alter trifft, wird als „unsolidarisch“ bezeichnet, hier müssten ja schließlich Personen mit unterschiedlichen Erwerbseinkommen eine Prämie in gleicher Höhe zahlen. Dabei wird gerne vergessen, dass eine solche Form der Finanzierung zwangsläufig durch einen sozialen Ausgleich unterfüttert werden muss. Dieser ist jedoch im Steuer- und Transfersystem besser aufgehoben als in der Krankenversicherung selbst. In der Krankenversicherung stehen Gesunde für Kranke ein, im Steuer- und Transfersystem Einkommensstarke für Einkommensschwache. Der Einkommensausgleich in der Krankenversicherung ist intransparent und wenig treffsicher. Nur über das Steuer- und Transfersystem kann jeder gemäß seiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit herangezogen werden, nur so ist sichergestellt, dass starke Schultern tatsächlich mehr tragen als schwache. Die Finanzierung der Krankenversicherung über einkommensunabhängige Beiträge ist somit kein Abschied von der Solidarität. Sie wird vielmehr treffsicherer und zielgenauer ausgestaltet, damit sie auch wirklich (langfristig) für diejenigen gewährleistet ist, die auf sie angewiesen sind.

Darüber hinaus setzt eine einkommensunabhängige Finanzierung, verbunden mit der Rückkehr zur Beitragsautonomie der Krankenkassen, ein starkes Zeichen für einen Richtungswechsel in der Gesundheitspolitik: weg von einer Politik der Vereinheitlichung, Zentralisierung und staatlichen Gängelung, hin zu Wahlfreiheit und Wettbewerb. Wettbewerb ist dabei nicht zu verstehen als ein Jeder-gegen-jeden, sondern als ein Instrument, mit dessen Hilfe sich auch in der Gesundheitsversorgung gute Lösungen zu günstigen Preisen durchsetzen können – im Interesse der Versicherten und Patienten. Innovationen und Fortschritt können sich in einem solchen System im Sinne aller Bürger überhaupt erst entfalten. Wahlfreiheit erlaubt es, Versicherungstarif und Leistungsangebot an die eigenen Bedürfnisse anzupassen. Niemand, auch keine noch so wohlmeinende staatliche Stelle beziehungsweise irgendein Dritter, kennt diese schließlich besser als man selbst.

Eigenverantwortung und Solidarität sind also keine Gegensätze. Sie bedingen einander. Wer sie gegeneinander ausspielt, handelt zwar aus Sicht leider immer noch vieler vermeintlich „sozial“, riskiert aber mittel- und langfristig die Funktionsfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme. «

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