Soziale Demokratie und junge Frauen
Ein Blick in die Empirie zeigt, dass junge Frauen nicht nur sozialdemokratisch wählen, sondern immer häufiger auch sozialdemokratisch denken. So unterschiedlich die Landtagswahlen 2008 in Hessen, Hamburg und Niedersachsen, aber auch 2007 in Rheinland-Pfalz sowie 2006 in Berlin und Sachsen-Anhalt auch ausgingen, eines hatten sie alle gemeinsam: Die SPD verzeichnete Zuwächse, und diese waren jung und weiblich.
Besonders eindeutig ist der Befund in Hessen: Rund die Hälfte der 18- bis 29-jährigen Frauen wählten SPD, in dieser Gruppe ist das ein Zuwachs von 23 Prozentpunkten. Auch die Frauen im Alter zwischen 30 und 44 wählten verstärkt sozialdemokratisch, nämlich zu immerhin 43 Prozent – ein Plus von 18 Punkten. Der CDU hingegen zeigten die jungen Frauen die kalte Schulter. Nur 24 Prozent der 18- bis 29-Jährigen machten das Kreuz bei den Christdemokraten, das war ein Viertel weniger als bei den Landtagswahlen von 2003. Die CDU wird zur Partei der alten Männer, die FDP bleibt – trotz einiger weiblicher Anmutungen im Erscheinungsbild – Männerpartei, und die Linkspartei ist die Partei der zornigen alten Männer. Junge Frauen gewinnt man offensichtlich nicht durch weibliche Fassade. Aber was genau treibt sie zur Sozialdemokratie?
„Aufstieg und Gerechtigkeit“ – unter diesem Motto hat die SPD ihren zweiten Zukunftskonvent veranstaltet. Diese Begriffskombination ist nicht nur originär sozialdemokratisch, sie umschreibt auch höchst treffend das Lebensgefühl junger Frauen. Das illustriert die aktuelle Brigitte-Studie 2008 „Frauen auf dem Sprung“ über die Einstellungsmuster von 17- bis 29-jährigen Frauen. Die von WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger betreute Untersuchung zeigt deutlich: Junge Frauen sind selbstbewusste Optimistinnen – ganz egal, aus welchem Teil des Landes sie kommen, unabhängig auch vom Bildungsniveau. Für ihre Zukunft sehen sie alles, nur nicht schwarz. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind Pisa-Verlierer männlich und Bildungsgewinner weiblich. Zwischen 1990 und 2006 stieg der Frauenanteil unter den Abiturienten von 46 auf 55 Prozent. Für die jungen Frauen gibt es nur eine mögliche Richtung: aufwärts, wenngleich in kleinen, realistischen Schritten.
Erfolg haben, aber nicht auf dem Egotrip
Zu dieser maßvollen Aufstiegsorientierung gesellt sich das Bedürfnis nach Gemeinschaft und sozialer Gerechtigkeit. Junge Frauen wollen aufsteigen, aber nicht auf dem Egotrip. Sie lehnen nicht den Wettbewerb ab, aber sie sperren sich gegen die Vorstellung, dass der Wettbewerb zum dominierenden Prinzip wird. Sie wollen in der Gemeinschaft vorankommen und dabei auch Verantwortung für andere übernehmen.
Diese Mischung aus Bildungshunger, Aufstiegsentschlossenheit und Gemeinwohlorientierung macht die junge Frauengeneration zu einer ähnlich interessanten Zielgruppe wie die bildungshungrigen Männer der siebziger Jahre. Wie damals junge Männer zweite (Aus)Wege suchten, sind heute die jungen Frauen die Gruppe in der Gesellschaft, die viel leistet und entschlossen ist, ungerechte Spielregeln zu ändern, statt sich ihnen zu unterwerfen. Gerechtigkeit ist eine wichtige Kategorie für junge Frauen. Sie empfinden die Verteilung von Gütern und Einfluss in Deutschland als besonders ungehörig, die sozialen Unterschiede als besonders kapital, die Gesellschaftsordnung als besonders starr. Kurz: In ihren Augen ist die Gesellschaft ausgesprochen verbesserungsbedürftig – und zwar im sozialdemokratischen Sinne.
Ein völlig neuer Frauentyp
Jahrzehntelang galten Frauen als tendenziell konservativ. Dieser Befund trifft heute nicht mehr zu. Im Gegenteil sind jungen Frauen politische Pioniere, ihre Einstellungen weisen in die Zukunft. Junge Frauen bilden die Meinung von morgen. Die Studie der Brigitte enthält zahlreiche Hinweise darauf, dass mit den heute 18- bis 29-jährigen Frauen ein völlig neuer Frauentyp die Schulen und Universitäten verlässt, der sich auf dem Arbeitsmarkt, in der Gesellschaft und in der Familie selbstbewusster und fordernder Gehör verschafft und die öffentliche Meinung stärker prägen wird als alle Frauengenerationen zuvor.
Nicht nur bilden junge Frauen die Meinung von morgen, sie setzen auch heute schon auf die Themen der Zukunft. Indizien für politische Präferenzen von jungen Frauen haben wir aus den Landtagwahlen in Hessen und Hamburg. Dort waren Bildung und Chancengleichheit die wahlentscheidenden Themen, aber auch die Umweltpolitik. In Hessen war zu erleben, dass das klassische Männerthema Wirtschaftspolitik zum Frauenthema werden kann, wenn es mit Umwelt- und Ressourcenfragen verknüpft wird. Es ist dieser Werteaspekt, der Frauen überzeugt: die Perspektive der Nachhaltigkeit. Grundlegend ist die Idee, Wohlstand und Energie nicht auf Kosten der Umwelt und des Friedens zu gewinnen. Windparks und Solarfelder sagen Frauen mehr zu als geostrategische Planspiele um Rohstoffe auf der Landkarte und die Aussicht auf Kriege um Gas und Öl. Diese Einstellung ist weder naiv noch romantisch. Sie ist progressiv und höchst rational. Ökologische Industriepolitik, nachhaltige Wirtschaftspolitik – das sind sozialdemokratische Zukunftsthemen. Wer sie als Partei besetzt, gewinnt die jungen Frauen.
Kind oder Karriere – vor dieser Entscheidung stehen viele junge Frauen bis heute. In der Vergangenheit wurde die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf permanent gestellt, aber nie gelöst. Es gab eine Zeit, da wurden die Frauen mit dieser Frage sogar gänzlich allein gelassen. Das Ergebnis war eine Generation, die aus schlecht bezahlten „Teilzeit-Arbeitnehmerinnen“ ohne realistische Karrierechancen und kinderlosen „Karrierefrauen“ bestand. Paradoxerweise diskriminierte die Gesellschaft beide Varianten zugleich. Die einen galten als Rabenmütter, die anderen als Egoistinnen. Die unbeantwortete Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf blockierte und lähmte eine ganze Frauengeneration. Auf beiden Gebieten blieb sie weit hinter ihren Möglichkeiten zurück: In Deutschland liegt die Erwerbsquote von Frauen bei nur 66 Prozent und die Geburtenquote bei durchschnittlich 1,4 Kindern pro Frau.
Wie Schröder in seiner letzten Elefantenrunde
Heute wird die Frage der Vereinbarkeit zumindest als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet und nicht mehr als Privatproblem. Doch bis zu einer wirklichen Aufgabenteilung und einer realistischen Vereinbarkeitsperspektive stehen noch viele Stürme bevor. Denn bisher ist zwar das Problem benannt, aber regional noch sehr unterschiedlich gebannt.
Klar ist, dass die junge Frauengeneration beides will: einen Beruf (94 Prozent) und Kinder (fast 90 Prozent). Klar ist auch, dass die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft davon abhängt, ob beides zusammen möglich ist. Damit verlagert sich die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf endgültig vom Privaten ins Politische. An dieser Stelle hat die SPD durch Krippenausbau, Ganztagsschulen und Elterngeld bereits einen Kompetenzvorsprung, den sie weiter ausbauen sollte. Das Ziel muss sein, Frauen endlich wirkliche Chancengleichheit zu ermöglichen.
Volle 99 Prozent der jungen Frauen sagen von sich: „Ich weiß, dass ich gut bin.“ Doch sobald das erste Kind da ist, haben sie auf dem Arbeitsmarkt einen Wettbewerbsnachteil. Denn das schwierigste Hindernis im Vereinbarkeitsderby ist die deutsche Arbeitskultur. Doch die neue, gut ausbildete Frauengeneration wird auf dem Arbeitsmarkt immer dringender gebraucht. Diese Machtstellung kann und muss sie nutzen, um die Arbeitswelt nach ihren Bedürfnissen umzugestalten. Das bedeutet: Schluss mit Testosteron-getränkten 14-Stunden-Tagen, Schluss mit Meetings, die grundsätzlich nach Kindergartenschluss stattfinden, Schluss mit der ungleichen Bezahlung, Schluss mit der Bevorzugung von Männern bei Beförderungen. Und Schluss mit der Angewohnheit von Arbeitgebern, artikulierter Kompetenz den Vorzug vor angewandter Kompetenz zu geben.
Fest steht: Junge Frauen haben heute ein modernes sozialdemokratisches Gesellschaftsbild. Für die politische Kommunikation bedeutet dies, dass ihnen die SPD eindeutige inhaltliche Botschaften senden muss. Wichtig ist aber auch, das Lebensgefühl der jungen Frauen zu treffen. Wer repräsentiert dieses Lebensgefühl? Immer noch fällt jedem zuerst Alice Schwarzer ein, und ihre Verdienste für die Gleichberechtigung sind unbestritten. Doch auch wenn Emma – also Schwarzer – „bis heute die feministisch korrekte Linie zu allen Fragen der Zeit vorzugeben versucht“ (Der Spiegel), stellt sie offensichtlich nicht die richtigen Fragen zur richtigen Zeit. Es ist ehrenwert, sich mit der Situation der Frauen in anderen Ländern auseinanderzusetzen. Aber wenn die feministische Debatte reduziert wird auf Pornografie und Beschneidung, Diätwahn und die Frau als Opfer der Gesellschaftsordnung, genügt Emma ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr. „Emmas Rolle bleibt, das Mögliche von Morgen heute zu denken“, heißt es auf Alice Schwarzers Internetseite. Schön und gut. Mit ihrer Haltung erinnert Alice Schwarzer aber ein wenig an Gerhard Schröder in seiner letzten Elefantenrunde am Wahlabend 2005.
Die Alpha-Mädchen betreten den Raum
Viele junge Frauen haben Alice Schwarzer das Vertretungsmandat längst entzogen. Sie möchten lieber selbst gehört werden und suchen die Öffentlichkeit – so wie Katja Kullmann, Iris Radisch, Thea Dorn, Meredtih Haaf oder Jana Hensel. Diese „Alpha-Mädchen“ geben dem Feminismus wieder eine Stimme, und zwar eine selbstbewusste, optimistische und fröhliche. Das ist ein Fortschritt, denn der Macht der ersten Feministinnen folgte bald die Ohnmacht der Sprachlosigkeit. Lange Zeit wollten Frauen von Emanzipation und Feminismus nichts mehr wissen. Wer das Wort „Feminismus“ aussprach, war sogar in den Augen vieler Frauen ein verkrampftes, einsames Wesen. Mit Hilfe der Alpha-Mädchen konnten die jungen Frauen diese sprachlose Ohnmacht überwinden. Sie trauen sich wieder, Ungerechtigkeiten zu artikulieren.
Allerdings ist der Feminismus der Alpha-Mädchen – diese Einschränkung muss erlaubt sein – an manchen Stellen naiv. Denn die Autorinnen vermitteln den Eindruck, im 21. Jahrhundert funktioniere Emanzipation ohne Konflikt, also letztlich unpolitisch und damit wieder im privaten Raum. In Wirklichkeit geht es im Feminismus immer auch um die Machtfrage. Das belegt auch die lebhafte Diskussion auf dem Hamburger Parteitag um einen Satz, der nun im SPD-Grundsatzprogramm steht: „Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die männliche überwinden.“
Alles gesagt – nur noch nicht von jedem Mann
Junge Frauen empfinden die SPD als eine Kraft, die ihre Anliegen thematisiert. Die SPD gilt nicht als Kanzlerwahlverein, sondern als Ort der Debatte. Dieses Ideal sollte die Partei tatsächlich verkörpern, damit zukünftig mehr junge Frauen nicht nur eine Affinität zur SPD haben, sondern auch regelmäßige Wählerinnen oder sogar Parteimitglieder werden. Zurzeit ist die Situation paradox: Ihre sozialdemokratische Haltung motiviert junge Frauen dazu, ihr Kreuz bei der SPD zu machen, aber Halt vermitteln ihnen die Strukturen der SPD noch nicht. Stattdessen finden sie die gleichen Mechanismen und Spielregeln vor wie am Arbeitsplatz. Aus diesem Grund kehren viele Frauen der traditionellen Politik nach einer kurzen Episode wieder den Rücken und widmen sich neuen Formen der politischen Partizipation. Diese Parteiflucht entspricht nicht nur dem Zeitgeist, sie hat eine explizit weibliche Dimension.
Die SPD muss für die jungen Frauen Räume schaffen, die sie betreten, benutzen und gestalten wollen – sowohl virtuelle als auch reale. Immer wieder ist zu beobachten, dass in den Ortsvereinen zwei Welten aufeinander treffen. Die männliche Mehrheit will über den Weltfrieden diskutieren, die weibliche Minderheit möchte konkrete Verabredungen treffen. Es gibt einen Satz, der lustig klingt, aber einen typisch weiblichen Ausstiegsgrund beschreibt: „In dieser Sitzung wurde alles gesagt, aber noch nicht von jedem Mann.“ Frauen betrachten Gremiensitzungen oft als redundant, ineffizient und voller Selbstbeweihräucherungen. Sie bevorzugen Sitzungen, in denen nicht jeder Teilnehmer die Welt rettet, sondern ein gemeinsamer, umsetzbarer Beschluss gefasst oder eine Aktion geplant wird. Und sie bevorzugen Strukturen der Entscheidungsfindung, in denen die Entscheidung tatsächlich noch zu finden ist – unter Einbeziehung ihrer Erkenntnisse.
Dass die SPD noch keine Frauenpartei ist, zeigt übrigens auch ein Blick auf das Organigramm der Parteizentrale. Und hier liegt der kritische Punkt in der noch jungen Beziehung zwischen der Sozialdemokratie und den jungen Frauen: Ihre Entscheidung für die SPD ist ein Vertrauensvorschuss, den sich die Partei erst noch verdienen muss.
Und weil zurzeit kein politischer Artikel ohne einen Verweis auf den amerikanischen Präsidentschaftsbewerber auskommt, bedanken wir uns abschließend bei Barack Obama: für seine Debattenkultur, die so inspirierend und einladend daherkommt. Besonders die jungen Frauen in den USA ließen sich von Obamas Reden, seinem Kommunikationsstil und seinen Zukunftsthemen überzeugen. Im Vorwahlkampf der Demokraten erschien er den Frauen zwischen 18 und 30 als der wahre Feminist, Hillary Clinton hingegen als Technokratin der Macht. Für die jungen Frauen war sie unglaubwürdig, weil sie erst auf die Feminismuskarte setzte, als sie Angst bekam, zu verlieren. Der Sieg Obamas ist keine Niederlage des Feminismus in den USA, sondern ein Zeichen, dass der Feminismus sich verändert hat: Junge Frauen wählen nicht automatisch Frauen, sondern den, der ihre Interessen am besten vertritt. Für den Wahlkampf 2009 in Deutschland bedeutet das: Entscheidend ist der Inhalt, nicht das Geschlecht.