Stolperstein Bündnisfrage
I rgendwann klang das Werben Frank-Walter Steinmeiers um die FDP nur noch peinlich. Mal nannte der SPD-Kanzlerkandidat die Ampel „wahrscheinlich“ und mal sprach er von „guten Chancen“, immer wieder strich er die „Schnittmengen“ heraus, auch „Neugier“ konnte der Sozialdemokrat bei den Liberalen entdecken. Zudem prognostizierte Steinmeier, die FDP werde schon umfallen, spätestens am Wahlsonntag um 18 Uhr. Doch die FDP sagte einfach „Njet“. Lieber gehe man in die Opposition, als zusammen mit SPD und Grünen zu regieren, erklärte Partei-chef Guido Westerwelle. Auch die Wähler konnten bei der FDP weder Chancen noch Schnittmengen und erst recht keine liberale Neugier auf die Ampel erkennen.
Das Ergebnis ist bekannt. Schwarz-Gelb gewann die Bundestagswahl 2009, die SPD erzielt nur noch 23 Prozent. Sieben Jahre hatten die Sozialdemokraten regiert, erst mit den Grünen, anschließend als Juniorpartner der Union. Für diesen Absturz waren nicht nur eine ausgezehrte Partei und ein glückloser Kanzlerkandidat verantwortlich. Das Desaster war auch die -Folge der fehlenden Machtoption jenseits der ungeliebten Großen Koalition.
Die FDP hingegen erzielte ihr Rekordergebnis von 14,6 Prozent auch deshalb, weil sie unbefangen für eine bürgerliche Mehrheit werben konnte und der Parteienwettbewerb zwischen den beiden großen Parten blockiert war. Während die FDP eine Wahlkampfstrategie gewählt hatte, in der Programm, Personal und Machtoption zusammenpassten, war der SPD genau dies völlig misslungen.
Im Bundestagswahlkampf 2013 müssen alle Parteien noch größere strategische Herausforderungen bewältigen als 2009. Nicht nur die SPD, die wieder vor dem doppelten Dilemma steht: Sie muss einerseits um eine sich zierende FDP sowie eine rot-grün-gelbe Mehrheit werben und andererseits dem Eindruck entgegentreten, am Ende laufe es sowieso auf eine Große Koalition hinaus. Gleichzeitig machen ihr in der Opposition zwei populistische Parteien Konkurrenz, deren Koalitionsfähigkeit äußerst zweifelhaft ist: die Linkspartei und die Piraten.
Auch für CDU und CSU ist die Ausgangslage kompliziert, auch sie stellt die Unübersichtlichkeit des Vielparteiensystems vor ein strategisches Dilemma. Die Unionsparteien können sich überhaupt nicht darauf verlassen, dass die Wähler sich noch einmal mehrheitlich für Schwarz-Gelb entscheiden. Es scheint im Gegenteil derzeit nicht einmal ausgeschlossen, dass die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. CDU und CSU könnten sich im Wahlkampf also zu einer Entscheidung gezwungen sehen: Entweder sie stärken mit einer Zweitstimmenkampagne die Liberalen, oder sie führen im Gegenteil Wahlkampf gegen ihren jetzigen Koalitionspartner, um zumindest die SPD auf Abstand zu halten und die eigene Vormachtstellung im Parteiensystem zu sichern. Entweder die Unionsparteien setzen auf einen Lagerwahlkampf, dessen Aussichten ungewiss sind, oder sie öffnen sich anderen Mehrheitsoptionen.
Zu frühe Festlegung rächt sich – zu lange Zauderei auch
Wie die nächste Bundestagswahl ausgeht, ist völlig offen. Seriöse Prognosen für den September 2013 lassen sich aus den aktuellen Meinungsumfragen nicht ableiten. Die Wechselbereitschaft der Wähler ist hoch, die Schwankungen in der Wählergunst sind so groß wie noch nie in der bundesdeutschen Geschichte. Trotzdem müssen die Parteien spätestens nach der Sommerpause – also sehr bald – damit beginnen, ihre strategischen Weichen für den Bundestagswahlkampf zu stellen und auch ihre Machtoptionen zu formulieren.
Einfach wird das nicht. Zu frühe Festlegungen können sich genauso rächen wie zu langes Zaudern. Die Frage, wer mit wem regiert, gewinnt dabei im sich rasant verändernden Parteiensystem immer mehr an Bedeutung. Vor allem die zunehmende Zahl der Wechselwähler orientiert sich bei der Wahlentscheidung nicht nur an Themen und Kandidaten, sondern vor allem auch an Koalitionsoptionen. Zur Abstimmung stehen am Wahltag also nicht nur Werte, Personen und Klientelversprechen, sondern auch mögliche Regierungsbündnisse.
Doch je mehr Parteien in den Bundestag einziehen, desto schwieriger wird es zugleich, stabile und regierungsfähige Mehrheiten zu bilden. Je mehr Parteien einander im Vielparteiensystem Konkurrenz machen, desto schwieriger wird es für die Akteure, im Wahlkampf die Bündnisfrage zu kommunizieren. Die Frage, auf welche Koalitionsoptionen für die Regierungsbildung die Parteien setzen, könnte sich im September 2013 als wahlentscheidend erweisen. Wer die falsche Strategie einschlägt, gerät frühzeitig auf die Verliererstraße.
Früher waren die Dinge übersichtlich. Es gab im Bundestag vier Parteien in drei Fraktionen, die politischen Lager standen sich unversöhnlich gegenüber. Das blieb auch so, als 1983 die Grünen und 1990 die PDS das Parteiensystem erweiterten. Bei der Frage, wer das Land regiert, hatten die Wähler nicht das entscheidende Wort. Das besaß die FDP, denn von den Liberalen hing es entscheidend ab, welche der beiden Volksparteien das Land regierte. Fünf Jahrzehnte ging dies so. Erst 1998 wurde erstmals eine Bundesregierung vom Wähler abgewählt, Rot-Grün trat an die Stelle von Schwarz-Gelb.
Doch mittlerweile ist die Farbenlehre des bundesdeutschen Parteiensystems ziemlich unübersichtlich geworden. Die ideologischen Schlachten gehören der Vergangenheit an, die Lagergrenzen diffundieren. In einem Land, in dem die CDU Atomkraftwerke abschaltet, die SPD die Kürzung von Sozialleistungen durchsetzt und die einst pazifistischen Grünen in den Krieg ziehen, gibt es keine unüberwindbaren Hürden mehr, die einer Regierungszusammenarbeit im Wege stehen. Im fragmentierten Parteiensystem bieten sich somit viele Koalitionsmöglichkeiten: Schwarz-Gelb oder Rot-Grün, Ampel oder Jamaika, Große Koalition oder Rot-Rot-Grün. Ziehen auch die Piraten in den nächsten Bundestag ein, wird es machtpolitisch noch sehr viel bunter. Zugleich wird es noch unwahrscheinlicher, dass es 2013 für die traditionellen Zweierbündnisse jenseits der Großen Koalition reicht. Wunschkoalitionen zwischen Union und FDP beziehungsweise SPD und Grünen sind im Vielparteiensystem Auslaufmodelle.
In den Parteien werden deshalb längst die unterschiedlichsten Optionen strategisch durchgespielt. Christdemokraten diskutieren offen über mögliche Bündnisse mit den Grünen, für manchen Liberalen ist eine Ampelkoalition mit SPD und Grünen kein Teufelszeug mehr. Die SPD erinnert sich wieder gerne an sozialliberale Zeiten. Die Grünen wiederum wissen, dass sie zum strategischen Verlierer im Parteienwettbewerb werden könnten, wenn sie sich nicht von ihrer Fixierung auf die SPD und rot-grüne Bündnisse lösen. Gerade in Krisenzeiten gewinnt zudem die Große Koalition an Attraktivität.
Doch in der Praxis stehen alle Parteien vor einem schier unauflöslichen Dilemma. Einerseits sind die Erwartungen zwischen Stammwählern und Wechselwählern sehr unterschiedlich. Die Stammwähler orientieren sich weiterhin an den alten Frontstellungen des Parteiensystems. Sie reagieren verschnupft, wenn ihre Partei traditionelle Grundüberzeugungen aufgibt, um neue Wähler zu erreichen oder neue Machtoptionen zu erschließen. Andererseits stehen für viele Wechselwähler bei der Wahlentscheidung nicht mehr Werte, sondern Partikularinteressen, die Spitzenkandidaten und eben die Bündnisfrage im Vordergrund. Einerseits müssen die Parteien also der alten Lagerlogik folgen – andererseits müssen sie diese Logik durchbrechen; einerseits müssen sie überzeugend für ihre Wunschkoalition werben – anderseits müssen sie sich möglichst glaubwürdig möglichst viele Optionen offenhalten.
Die Grünen haben versucht, aus dieser Not eine Tugend zu machen. Wenn sie sich die Koalitionsfrage zwischen SPD und CDU offen halten wollen, werben sie im Wahlkampf für „Grün pur“, um anschließend mit der Partei zu koalieren, mit der sich „mehr grüne Inhalte“ durchsetzen lassen. Nur: „Grün pur“ heißt dann eben auch keine Elbvertiefung, kein Kohlekraftwerk, kein Flughafenausbau. In Hamburg startete die schwarz-grüne Stadtregierung 2008 deshalb unter denkbar schlechten Vorzeichen und scheiterte schnell. In Berlin kam das angestrebte rot-grüne Bündnis nach der Abgeordnetenhauswahl 2011 gar nicht erst zustande. SPD und Grüne konnten sich nicht über den Ausbau der Stadtautobahn A100 verständigen.
Wahlversprechen können also Koalitionsaussagen torpedieren, vor allem dann, wenn sie konkret sind. Im Vielparteiensystem sind jedoch nicht die Parteien machtstrategisch im Vorteil, die vor allem viele Wähler mobilisieren, sondern diejenigen, die verschiedene Machtoptionen besitzen. Der CDU in Schleswig-Holstein zum Beispiel nutzte es wenig, dass sie bei der Landtagswahl 2012 noch einmal knapp die meisten Stimmen erhielt. CDU und FDP fehlte der dritte Bündnispartner. Den hatten SPD und Grüne mit dem Südschleswigschen Wählerverband (SSW), und auch die Piraten standen als möglicher Mehrheitsbeschaffer bereit. Auf der anderen Seite spielt Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit seit über 10 Jahren virtuos mit den Optionen, die seine Partei in Berlin besitzt. Nacheinander regierte er mit den Grünen, der Linkspartei und nun mit der CDU, obwohl seine SPD bei Abgeordnetenhauswahlen nie mehr als 30 Prozent der Stimmen erzielen konnte.
Hannelore Krafts Triumph – für die SPD ein Pyrrhussieg?
Auch Hannelore Kraft konnte im Jahr 2010 nur deshalb Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen werden, weil sie eine entscheidende Machtoption mehr hatte und als Mehrheitsbeschafferin für die rot-grüne Minderheitsregierung die Linkspartei bereitstand. Für Kraft zahlte sich aus, dass sie im Wahlkampf mit allerlei rhetorischen Verrenkungen der Frage nach einem möglichen rot-rot-grünen Bündnis ausgewichen war. Für eine rot-grüne Mehrheit nach der Neuwahl 2013 reichte es anschließend, weil die Linke wieder an der 5-Prozent-Hürde scheiterte und Schwarz-Gelb angesichts einer zerstrittenen Bundesregierung für den Wähler keine attraktive Alternative zu Rot-Grün bot.
Gerade die beiden letzten Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen zeigen darüber hinaus, wie schwierig es für die Parteien im Wahlkampf ist, eine erfolgreiche Machtstrategie zu kommunizieren – und wie fragil im Vielparteiensystem machtstrategische Weichenstellungen insgesamt sind.
Im Landtagswahlkampf 2010 hatten sich CDU und Grüne gegenseitig deutliche Avancen gemacht. Für den damaligen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers war Schwarz-Grün eine Alternative zur schwarz-gelben Landesregierung, die kaum mit einer Wiederwahl rechnen konnte. Am Ende fehlten nur wenige Prozentpunkte und statt einer rot-grünen Minderheitsregierung hätte es im Düsseldorfer Landtag möglicherweise ein schwarz-grünes Bündnis gegeben.
Ganz anders war die Konstellation bei der vorgezogenen Neuwahl am 13. Mai 2010. Die CDU stürzte auch deshalb ab, weil ihr Spitzenkandidat keine realistische Bündnisoption zur Wahl stellen konnte. Die um ihr politisches Überleben kämpfende FDP hingegen positionierte sich im Wahlkampf nicht nur gegen die schwarz-gelbe Bundesregierung in Berlin, sondern Spitzenkandidat Christian Lindner schloss auch eine Ampel-Koalition nicht aus. Wieder war der Ausgang knapp. Viel fehlte nicht, und SPD und Grüne hätten die FDP als Mehrheitsbeschaffer gebraucht.
Dann würden jetzt auch bundespolitisch die Bündnisfragen ganz anders diskutiert. Stattdessen restaurierte der Wahlsieg von Rot-Grün in Düsseldorf noch einmal die alte Frontstellung im Parteiensystem. Doch möglicherweise war dieser Triumph für die SPD ein Pyrrhussieg. Schließlich hat er ihre Optionen für den Bundestagswahlkampf nicht erweitert, sondern verringert. Im Bund stellt sich die machtpolitische Farbenlehre nämlich völlig anders da, und die SPD droht 2013 in eine ähnliche Falle zu tappen wie 2009.
Allein auf einen Sieg von Rot-Grün zu setzen, ist für die SPD gefährlich, erst recht dann, wenn die Wahlkämpfer selbst nicht daran glauben. Die Aussicht auf die Große Koalition, womöglich erneut als Juniorpartner, wirkt vor allem bei den Stammwählern demobilisierend. Das Werben um die FDP hingegen könnte sich erneut als aussichtslos erweisen. Zumindest derzeit will die FDP davon nichts wissen. Daran wird sich kaum etwas ändern, wenn die Sozialdemokraten mit der Forderung nach einer Reichensteuer in den Wahlkampf ziehen. Wenn die Machtoption nicht zu den Wahlversprechen passt und beides nicht zum Spitzenkandidaten, machen sich die Wahlkämpfer unglaubwürdig.
Alle Parteien werden zukünftig also umdenken müssen, bevor sie sich mit ihrem Personal und ihrem Programm beschäftigen, sollten sie sich die Bündnisfrage beantworten. Sonst wird diese am Wahltag zum Stolperstein.