Supergang der Frustrierten
Dieser Sommer hat gezeigt: Wir müssen die Bedrohung durch den dschihadistischen Terrorismus ernstnehmen – in Deutschland ebenso wie im restlichen Europa. Bis zu 5 000 Westeuropäer haben sich in den vergangenen fünf Jahren radikalisiert, viele von ihnen sind Anhänger des so genannten Islamischen Staates. Dies ist nicht allein ein Sicherheitsrisiko, sondern ein Problem für unsere Gesellschaft insgesamt – eines, das uns noch viele Jahre beschäftigen wird und daher nach einem umfassenden Ansatz verlangt.
Die Bedrohung durch den dschihadistischen Terrorismus ist nicht neu. Neu ist hingegen ihr Botschafter und die Art und Weise, wie dieser seine Botschaft präsentiert. Anders als vormals Al-Kaida hat der „Islamische Staat“ (IS) eine konkrete Utopie geschaffen und lädt seine Anhänger dazu ein, sich an deren Verwirklichung zu beteiligen. Der IS stellt keine religiösen oder intellektuellen Anforderungen. Seine schockierende Brutalität bietet ein noch effektiveres Ventil für den Hass auf die eigene gesellschaftliche Herkunft. Zugleich kommuniziert der IS auf allen Kanälen, er projiziert Stärke und Macht und gibt selbst Unterstützern, die nicht in seine Struktur eingebunden sind, das Gefühl, Teil seiner Kampagne zu sein.
Das Ergebnis: Der Islamische Staat mobilisiert nicht mehr nur junge, männliche Muslime auf der Suche nach Religion und Bedeutung, sondern auch Frauen, Kleinkriminelle, Einzelgänger, religiöse Novizen und sogar viele Konvertiten, die zwar keinen muslimischen Hintergrund haben, sich aber aus völlig anderen Gründen frustriert und entfremdet fühlen. Mit anderen Worten: Der IS hat den Dschihadismus „demokratisiert“. Für viele seiner Anhänger ist er eine Art „Supergang“, wie es der Brüsseler Polizeichef einmal ausdrückte.
Das destruktive Potenzial des Islamischen Staates ist immens: Seine Anhänger sind willens und in der Lage, Menschen auf noch brutalere und wahllose Weise zu töten als Al-Kaida. So verschärft der IS jene gesellschaftlichen Konfliktlinien, die die Gruppe überhaupt erst attraktiv gemacht haben. Mehr noch als die Anschläge Al-Kaidas schafft es der Islamische Staat, europäische Gesellschaften zu terrorisieren, Ängste zu schüren, Misstrauen zu säen und damit den Nährboden für Frustration und Entfremdung zu bereiten.
Im Teufelskreis der Polarisierung
Je mehr sich europäische Gesellschaften polarisieren, desto stärker wächst die Unterstützung für rechte Populisten und rechtsextremistische Gewalttäter, die keinen Unterschied zwischen Muslimen und Dschihadisten machen und deren Aktionen gesellschaftliche Gräben nicht überwinden, sondern sie weiter vertiefen. Die Folge ist ein Teufelskreis der Polarisierung, der das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion und damit das europäische Gesellschaftsmodell insgesamt infrage stellt. Wer diese Bedrohung nicht ernstnimmt, hat nicht verstanden, worum es geht.
Doch was ist dagegen zu tun? Wir müssen Polizei und Nachrichtendienste besser ausstatten, ihnen die notwendigen Befugnisse erteilen und die Kooperation zwischen den Sicherheitsbehörden in Europa verbessern. Deshalb schlage ich eine umfassende „Inventur“ aller Kompetenzen und Kapazitäten vor, damit unsere Behörden mindestens für die kommenden zehn Jahre, in denen die Bedrohung akut sein wird, gut aufgestellt sind.
Die Sicherheitsbehörden zu stärken, wird jedoch allein nicht genügen, um einem Problem Herr zu werden, dessen Wurzeln tiefer reichen. Anders formuliert: Statt nach jedem Feuerausbruch nach mehr Feuerwehreinsätzen zu verlangen, sollten wir uns öfter und systematischer darüber Gedanken machen, warum es so häufig brennt. Eine intelligente Antwort auf die terroristische Bedrohung muss deshalb auch auf Prävention setzen – sozusagen als anti-extremistischer Brandschutz. Im Fokus der Präventionsarbeit sollten nicht allein die bereits Radikalisierten stehen, sondern auch junge Menschen, die für Extremisten ansprechbar sind. Das ultimative Ziel sollte lauten, schneller zu sein als die Extremisten. Es geht darum, jungen Leuten zuzuhören, ihre Probleme ernstzunehmen, Angebote zu machen und – vor allem – sie an sich zu binden, bevor die Extremisten die Gelegenheit dazu bekommen.
Der IS rekrutiert viele seiner Anhänger in Orten wie dem Brüsseler Stadtteil Molenbeek oder den Pariser Banlieues – Orte, die der Staat bereits vor Jahrzehnten aufgegeben hat, an denen nur wenige Jugend- und Kulturzentren existieren und wo sich junge Menschen gelangweilt und alleingelassen fühlen. Wer hier aufwächst, dem mangelt es häufig an Orientierung und Perspektive, sieht man einmal von einem Leben als Taxifahrer, Kleinkrimineller oder Arbeitsloser ab. Dieses Vakuum zu füllen, jungen Menschen Beschäftigung, eine Aussicht auf Integration und Erfolg sowie das Gefühl zu geben dazuzugehören, ist nicht in erster Linie Extremismusprävention, sondern Sozialpolitik.
Das Gefühl der Zugehörigkeit
Eine noch tiefergehende Wurzel des Problems ist die mangelnde Integration der Kinder und Enkel der „Gastarbeiter“, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Europa gekommen sind. Dass junge europäische Muslime für eine Ideologie ansprechbar sind, die von ihnen verlangt, sich radikal gegen die eigenen europäischen Gesellschaften zu wenden, liegt daran, dass sie sich nicht als Teil dieser Gesellschaften fühlen: Wer Mohammed heißt, mag zwar in Frankreich geboren sein und einen französischen Pass haben, aber das bedeutet noch lange nicht, dass er sich als Franzose fühlt. Nicht jeder wird deshalb zum Terroristen, sondern nur eine verschwindend geringe Zahl. Dennoch ist es genau dieses Gefühl der Entfremdung, das sich die Anwerber des Islamischen Staates zunutze machen.
Mehr Investitionen in Sozialprogramme, Bildung und Arbeitsplätze genügen also nicht. Entscheidend ist: Europäische Gesellschaften müssen sich auf eine Weise selbst definieren, dass sich Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion und Hautfarbe akzeptiert und aufgehoben fühlen. Die Vorstellung, was es bedeutet, ein Franzose, Deutscher oder Brite zu sein, muss der gesellschaftlichen Realität entsprechen. Und genauso wie jeder Bürger, egal welcher Herkunft, die Pflicht hat, gesellschaftliche Normen und Gesetze zu akzeptieren, ist es die Pflicht der Gesellschaft, jeden, der dies tut, als gleichwertigen Mitbürger in die Gemeinschaft aufzunehmen.
Das Ziel des Terrorismus – und besonders des dschihadistischen Terrorismus – ist genau das Gegenteil: Statt Gesellschaften miteinander zu versöhnen, versucht der Terrorismus, sie zu spalten, Misstrauen zu säen und das Gefühl der Entfremdung zu verstärken. Jeder Anschlag birgt deshalb die Gefahr, dass vorhandene Gräben weiter vertieft werden. Wer auf Terrorismus mit Ausgrenzung und Polarisierung reagiert, tappt in die Falle, die der Islamische Staat gestellt hat. Statt sich vom Pluralismus abzuwenden, müssen wir daher noch stärker für ihn werben.
Kurzum: Der Terror ist unter uns. Terrorismusbekämpfung ist nicht allein eine Aufgabe der Sicherheitsbehörden, wir als ganze Gesellschaft sind gefragt. Radikalisierung zu unterbinden, schützt nicht nur Menschenleben, sondern auch unser demokratisches Gesellschaftsmodell.
Peter R. Neumann ist Autor des Buches „Der Terror ist unter uns: Dschihadismus und Radikalisierung in Europa“. Das Buch ist soeben im Ullstein Verlag erschienen, hat 304 Seiten und kostet 19,99 Euro.