Sympathische Hybris.
Er nimmt sich der falschen Themen an, schreiben die Kommentatoren: der falschen Themen zum richtigen Zeitpunkt. Oder der richtigen Themen zum falschen Zeitpunkt. Auf jeden Fall hat er die falschen Berater. Er findet nicht die angemessene Sprache, um seine Politik zu vermitteln; aber seine Politik ist ohnehin substanzlos. Er hat keinen Tiefgang. Er hätte sich auf keinen Fall, noch dazu in der offiziellen Regierungsmaschine, von einem Starfriseur die Haare schneiden lassen dürfen.
Der Adressat all dieser vorläufig abschließenden Urteile ist nicht etwa Gerhard Schröder: Sie richten sich vielmehr an den frühen und mittleren, den pre-Monica Bill Clinton.
Aus dem Presseecho auf dessen schwierigen Regierungsstart mögen Schröders Heyes und Stegs, Steinmeiers und Krampitzes Mut und Kraft schöpfen: Es ging doch immer irgendwie weiter mit dem amerikanischen Präsidenten. Seine engsten Mitarbeiter hatten freilich zu leiden. Sie mussten die spät gebeichtete Wehrdienstvermeidung verkaufen und den unorthodoxen Konsum von Marihuana ("ohne zu inhalieren"). Ständig lebten sie unter der Drohung, es könne irgendeine vollbusige Schönheit aus Arkansas auftauchen und dem Präsidenten etwas Sexuelles anhängen. Von Whitewater ganz zu schweigen.
Mit der Faszination des Macht und dem Stress, dem man in ihrer Nähe ausgesetzt ist, beschäftigt sich Clinton-Pressesprecher George Stephanopoulos in seinen Erinnerungen: "All too human" heißt sein Buch (Little, Brown and Company, 1999, 455 Seiten, in Deutschland ca. 80 Mark). Allzu menschlich - das ist nicht nett gemeint.
Stephanopoulus schildert Clinton aus der Mitarbeiterperspektive. Wie alle Politik-Mitarbeiter hat er mit dem Problem zu kämpfen, dass er seinen Chef gut kennt: Zu gut, um von ihm so beeindruckt zu sein wie das restliche Publikum.
Clinton ist ein Achtundsechziger. Er gibt nicht viel auf Formen. Im Umgang mit Angestellten benimmt er sich locker, jovial, freundlich. Oder eben, wenn die Stimmung einmal nicht so gut ist, jähzornig und ungerecht. Dann wird deutlich, dass auch informelle Hierarchien Hierarchien sind - das Recht zum Dampfablassen gilt selbstverständlich nur von oben nach unten. Stephanopoulos entwickelt eine ausgefeilte Typologie der clintonschen Unzufriedenheitszustände, vom leichten, nurmehr rituellen Nölen bis zum quasi-therapeutischen Zornesausbruch. "Ich muss darüber nachdenken" bedeutet im Clinton-Code: "Ich will Hillary anrufen."
Von Hybris ist der Autor nicht frei, aber es ist die sympathische, nachvollziehbare Hybris nahezu eines jeden, der einmal für einen Politiker gearbeitet hat: Die Vorstellung nämlich, man selbst könne es wenigstens vergleichbar gut, wenn nicht besser machen als der Chef. Stephanopoulos legt sich über seine Ambitionen einigermaßen ehrlich Rechenschaft ab: Er, der für die Demokraten Dukakis und Gebhardt gearbeitet hat, der den "linken" New Yorker Gouverneur Mario Cuomo verehrt (und Clinton kritisch mit diesem vergleicht) hat eigene politische Vorstellungen, eigenen politischen Ehrgeiz. Zwar reibt er sich mit Begeisterung in den Wahlkampagnen der Clintons auf, zwar verlässt er die Pressestelle des Weißen Hauses nur zum Schlafen, aber er will kein Unterling sein, kein bloßer Zuarbeiter, sondern ein Berater. Sein persönliches politisches Programm ist linksliberal. Clinton betrachtet er von Anfang an als konservativen Südstaatler mit Neigung zum Populismus. Es gehört allerdings zu den speziellen Aufgaben des Pressesprechers, populäre, auch populistische Sprachregelungen und Verpackungen für Clintons Politik zu finden: für dessen Sparbemühungen im Rahmen der Haushaltssanierung; für unbeliebte Maßnahmen wie Steuererhöhungen.
Manches erfährt man bei Stephanopoulos über die Zufälligkeit, mit der politische Tagesordnungen zustandekommen: Die erste größere Debatte, in die die neue Regierung verstrickt wird, dreht sich um die Gleichstellung von Homosexuellen im Militär. Nicht gerade Amerikas größtes Problem, aber Schwulen- und Lesben-Lobbyisten und die Medien hatten sich in dieses Spiegelstrich-Wahlkampfversprechen verbissen.
Spannend sind die Tage mit George Stephanopoulos im Weißen Haus: Seine Erinnerungen geben einen schönen Einblick in die unordentlichen, zum Teil willkürlichen und unberechenbaren Prozesse des Politik-Machens, der täglichen, halb freundschaftlichen, halb würgenden Umarmung mit der Presse. Politik, das weiß man, ist eine Droge. Hier wird nachvollziehbar, warum manche Leute sie einnehmen.
Wer im zweiten Glied steht, muss sich dabei aber bewusst bleiben, dass er für seinen hohen Arbeitgeber - bei aller Zuneigung, die vielleicht bestehen mag - immer nur ein Mittel bleibt. Wenn dieses Mittel, dieses Werkzeug nicht funktioniert, wird es fallen gelassen. Stephanopoulos bekommt das zu spüren, als er in der Lewinsky-Affäre zur Offenheit rät. Damit hat er selbst seine Laufbahn im Gefolge des Präsidenten beendet: Wer nicht für die Clintons ist, ist gegen sie.