Und der Zukunft zugewandt?
Abschiedsstimmung in der Bundesstadt. Mancher Umzugskarton war am 25. Juni 1999 schon gepackt, da entschied der Deutsche Bundestag in Bonn endlich über ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Es sollte kein unwürdiger Tag werden. Dies war von manchen befürchtet worden. Denn so viel Konfusion und Überdruss war selten. Immerhin blickte eine interessierte Weltöffentlichkeit wohl letztmalig auf das Parlament in seinem wunderschönen Bonner
Plenarsaal. Nach zehn langen Jahren endlich ein Finale, das sich engagierte Streiterinnen und Streiter wahrlich fulminanter, beeindruckender gewünscht hätten. Aber zu lange quälte sich die Debatte in einem Land, das es sich schon immer schwer damit gemacht hat, der Opfer des Holocaust würdig zu gedenken und die Erinnerung an die furchtbaren Zeiten des Nationalsozialismus wachzuhalten.
Als vor mehr als zehn Jahren die Idee eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas von Bürgerinnen und Bürgern entwickelt wurde, war noch nicht daran gedacht, die lange und so intensive Debatte selbst zu einem Teil des Denkmals werden zu lassen. Erst spät, vielleicht zu spät, hat sich das Parlament dieser Herausforderung gestellt. Und da bedurfte es erst eines neu installierten Staatsministers mit dem technokratischen Titel eines Beauftragten der Bundesregierung für die Angelegenheiten der Kultur und der Medien, um die Entscheidung von der Bundesregierung auf den Bundestag zu verlagern. Die Initiatoren um Lea Rosh hatten sich mit der Kohlregierung und dem Land Berlin schon arrangiert, mehrere Wettbewerbsverfahren hatten jedoch kein befriedigendes Ergebnis erbracht. Zumindest nicht für Bundeskanzler Kohl, dem der ursprüngliche Entwurf von Peter Eisenman zu überdimensioniert erschien. In der Art absolutistischer Fürsten fuhrwerkte Kohl so lange in der Konzeption herum, bis sie ihm höchstselbst genehm war. Dies wird künftig wohl kein Kanzler mehr zustande bringen, ohne dass ein kollektiver Aufschrei durch die Feuilletons gehen würde.
Fegefeuer politischer Eitelkeiten. Michael Naumann, kluger Kulturmensch, aber eben noch kein mit allen Wassern gewaschener Politiker, warf im Wahlkampf einen Stein ins Wasser - und erzeugte hohe Wellen. Mit seiner Kritik an einer monumentalen Ästhetisierung des Holocaust und seiner Forderung nach einem Haus des Erinnerns formulierte er Bedenken, die von nicht wenigen geteilt wurden. In einem Wahlkampf, der so heftig und emotional geführt wurde, konnte das angesichts der Sensibilität und Schwere des Themas nur schief gehen. Gleichwohl hatte die Mahnmalsdebatte an Fahrt gewonnen, die Politik hatte sich der Sache endgültig angenommen. Dass der neugeschaffene Bundestagsausschuss für Kultur und Medien nicht von Beginn an ein Schattendasein führte, ist zweifellos auch eine Folge dieser Debatte im Fokus der medialen Öffentlichkeit.
Leider geriet damit auch das Denkmal in das Fegefeuer politischer Eitelkeiten: "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der größte Kulturpolitiker im Land?" Der Kulturstaatsminister in der unfreiwilligen Rolle des Schneewittchens musste sich der Vorsitzenden des Kulturausschusses erwehren, die als "böse Königin" glänzte. Das hat der Debatte nicht gut getan. Ebenso wenig geholfen hat aber auch der gestrenge Eifer von Lea Rosh, die alle platt zu machen drohte, die Bedenken und alternative Vorschläge gegenüber ihrer Konzeption "Denkmal pur" vorzubringen wagten.
Das von Kohl und Rosh vermeintlich festgezurrte Paket wurde noch einmal aufgeschnürt. Wer wollte dies den Abgeordneten verdenken? Denn über das "Ob" und das "Wie" hatten sich zwar Interessierte, Expertinnen und Experten jahrelang heftig gestritten. Aber eben nicht das Parlament in seiner Gänze. So wurden sechs konkurrierende Anträge auf den Weg gebracht. Sie reichten von der grundsätzlichen Ablehnung eines Holocaust-Denkmals bis zur Befürwortung des überarbeiteten Stelenentwurfs von Peter Eisenman. Unterschiedliche Auffassungen gab es auch über die Widmung des Denkmals: für die Juden oder für alle Opfer des Nationalsozialismus? Und natürlich über den auf die Initiative Naumanns zurückgehenden Vorschlag, das Denkmal mit einem Haus des Erinnerns zu verbinden.
Den Anträgen gingen allerlei parlamentarische Scharmützel und Taktierereien voraus. In den Anhörungen dominierten plötzlich die Befürworter des Vorschlags "Denkmal pur". Elke Leonhard als Ausschussvorsitzende zeigte dem Minister, wo
Bartel den Most holt. Naumann, ein nobler Mann guter Sitten, konnte sich der "Hau-den-Michael"-Inszenierungen von Opposition und Leonhard (SPD) kaum erwehren und konterte ungeschickt. Auch wohlmeinende, aber wenig involvierte Abgeordnete wandten sich irritiert ab. Die Medien reagierten zunehmend genervt.
Verdienst vieler Youngsters. Zu den gröbsten Versäumnissen der zehnjährigen Debatte gehört sicher, die Frage nach den Vorstellungen der jungen Generation nie gestellt zu haben. Die dritte Generation nach der Shoa kam in der Auseinandersetzung nicht zu Wort. Natürlich müssen sich die Jüngeren ebenso kritisch fragen lassen, warum sie sich nicht einfach ungefragt einzubringen wussten. Denn jeder aufmerksamen Beobachtung kann nicht verborgen geblieben sein, wie engagiert und zugleich unprätenziös viele Jüngere die Auseinandersetzung mit Holocaust und Faschismus suchen und eine eigene Form des Gedenkens entwickeln. Auch ein hoch verdienter Staatsmann wie Hans-Jochen Vogel fühlte sich persönlich angegriffen, nur weil einige wenige junge SPD-Abgeordnete in einer Fraktionssitzung die raumgreifende Dominanz alter Männer und Frauen in dieser Debatte kritisierten. Da sind wohl noch viele Gespräche zwischen Alt und Jung vonnöten, um Verständnis für den unterschiedlichen Zugang zum Holocaust zu entwickeln.
Es ist sicher ein bleibendes Verdienst der Youngsters in der SPD-Fraktion, auf dieses Dilemma hingewiesen und einen Beitrag der jungen Generation formuliert zu haben. Der etwas naive Versuch, eine fraktionsübergreifende Initiative junger Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu starten, scheiterte dagegen schnell. Ein gemeinsames Vorgehen schien den Spitzen der Oppositionsfraktionen nicht genehm zu sein. Nichtsdestotrotz hat eine größere Gruppe junger SPD-Abgeordneter ihre Überlegungen in Antragsform gegossen. Die Skepsis gegenüber einer rein ästhetischen Mahnmalskonzeption war groß. Und nicht nur der Juden, aller Opfer des Holocaust muss würdig gedacht werden. Die authentischen Orte des Terrors, die regionale Gedenkstätten- und Erinnerungsarbeit brauchen Förderung. Und gerade junge Menschen sind interessiert an einem Ort, der Informationen über den Holocaust und seine Opfer verknüpft mit einem Denkmal.
Lachnummer der Feuilletons. Fragen sollen nicht zwischen den Eisenman-Stelen verhallen! Das war ein immer wieder vorgebrachter Appell. Der diese Vorschläge bündelnde Antragsentwurf über "ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas und ein Haus der Erinnerung" blieb leider eine Initiative von Abgeordneten der Koalition. Sachargumente, die zu einer Ablehnung des Vorschlags führten, haben da nur bedingt eine Rolle gespielt. Die zwischen SPD-Kulturminister und SPD-Ausschussspitze offen ausgetragenen Konflikte boten der Opposition ein weites Feld für die Strategie, einen Keil in die SPD-Fraktion zu treiben und den vom Bundeskanzler berufenen Naumann zu isolieren. Dass die rasche Demontage einer auch personalisierten Kulturpolitik des Bundes misslang, ist auch über alle egomanischen Zweifel erhabenen Abgeordneten wie Gert Weisskirchen zu verdanken. Die bei einigen vorhandene Bereitschaft zum Kompromiss bewahrte den Ausschuss für Kultur und Medien davor, endgültig zur Lachnummer zu werden.
Das Finale war schaurig schön. In Tag- und Nachtsitzungen wurde gefeilt, gedroht und getrickst. Ein in der parlamentarischen Arbeit alltäglicher Vorgang. Gleichwohl wandten sich manche Feuilletonisten angewidert ab, weil man dem Irrglauben erlag, dass in der Kulturpolitik, zumal in einer solch bedeutenden Frage nach dem Gedenken an die ermordeten Juden Europas, alle fernab von Fraktions- und Koalitionsgrenzen an einem Strang zögen. Der als neu verkaufte, gleichwohl alte Vorschlag Richard Schröders - ein Stein mit der in Hebräisch und anderen Sprachen verfassten Mahnung "Du sollst nicht morden!" - schien so schlüssig wie bequem zu sein. Gerade darin lag seine Sprengkraft, drohten doch auch viele Gegnerinnen und Gegner eines Denkmals am Ende diese Variante zu favorisieren. Unsäglich war das Gehabe Eberhard Diepgens, der mit peinlichen Argumenten für die seiner Meinung nach - im wahrsten Sinne des Wortes - pflegeleichteste Variante stritt. Der Berliner Wahlkampf machte vor der Denkmals-Debatte nicht halt.
Lea Rosh, die verdienstvolle Initiatorin, schrie Zeter und Mordio, weil da etwas entstand, was nicht hundertprozentig mit ihren Überlegungen in Übereinstimmung zu bringen war. So what! Das ist das gute Recht der Volksvertretung, sich einen eigenen Kopf zu machen! Das Wesen parlamentarischer Arbeit liegt nun einmal nicht im kritiklosen und vollständigen Abnicken von Vorlagen - da kann sich bisweilen eine Regierung, aber auch ein Förderkreis auf den Kopf stellen. Der Kompromiss, der nach einem wahrlich spannenden Abstimmungsmarathon eine überraschend deutliche Mehrheit erhielt, ist für viele sicher nicht völlig zufriedenstellend. Nicht für die Befürworter eines reinen Stelenfeldes. Nicht für die Befürworter eines Hauses des Erinnerns. Nicht für die Befürworter einer alternativen künstlerischen Konzeption. Nicht für die Befürworter eines allen Opfern gewidmeten Denkmals. Ein typischer Kompromiss eben.
Mammutaufgabe der Stiftung. Die Argumente derjenigen, die eine Hierarchisierung der Opfer befürchten, wiegen immer noch schwer. Am Anfang stand der Wunsch nach einem Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Das Denkmal allen Opfern des Holocaust zu widmen, wäre vielleicht eine zu radikale und als kaltschnäuzig missverstandene Abkehr vom ursprünglichen Vorschlag geworden. Und der gegenwärtig schwelende Konflikt um ein Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma lässt Schlimmes befürchten. Von alten Zusagen will man nun nichts mehr wissen. Aber die Sinti und Roma, die als "Untermenschen" herabgewürdigten Osteuropäer, die Behinderten, die Schwulen, die Zeugen Jehovas, die Kommunisten und Sozialdemokraten werden den Deutschen Bundestag immer wieder an dessen Beschluss erinnern, allen Opfern eine würdige Form des Gedenkens zu schaffen.
Diese gewaltige Herausforderung erwartet die zu gründende Stiftung. Sie wird den Parlamentsbeschluss umsetzen müssen. Ebenso bleibt zu klären, wie der "Ort der Information" beschaffen sein soll. Da hat ein letzter großer in Bonn getroffener Beschluss des Bundestages den an der Berliner Republik Zimmernden eine Mammutaufgabe zugewiesen. Zu wünschen bleibt, dass die junge, in politischer Verantwortung stehende Generation ihre Chance zu nutzen vermag, einer eigenen Weise des Gedenkens und Erinnerns eine gute Form zu geben.