"Und wenn ich sterbe, oh ihr Genossen"
Piazza al Serchio in den Bergen der Nordtoskana an einem lauen Aprilabend: Fünfzehn jüngere deutsche Sozialdemokraten sitzen in einer der beiden lokalen Pizzerien (die an der einzigen Piazza des Ortes) und sind satt. Nach insalata mista con tonno und Pizza con ruccola e prosciutto crudo und reichlich vino rosso setzt spätestens beim Café coretto (Espresso mit Grappa, wörtlich: korrekter Kaffee) langsam, aber immer lauter vernehmlich, der Gesang von Arbeiterliedern ein.
Angelockt vom wohlklingenden Bass eines deutschen Jungparlamentariers, der gerade mit Inbrunst anmahnt, im Falle seines Todes in die Berge gebracht zu werden - "Und wenn ich sterbe, oh ihr Genossen, in die Berge bringt mich dann", bella ciao -, verlässt die Köchin spontan ihre Wirkungsstätte und stimmt mit ein. Es kommt zu einer sozialistischen jam session, an der sich nicht nur die italienische Köchin und die deutschen Sozialdemokraten beteiligen, sondern auch eine bosnische Geschichtsstudentin - und alle in ihrer jeweiligen Muttersprache. Bis tief in die Nacht wird getrunken und gesungen, und je näher der Morgen rückt, desto deutlicher zeigt sich: Auch die letzte Bastion der inzwischen nicht mehr ganz so jungen sozialdemokratischen Enkelgeneration wird von den Urenkeln übernommen. Die Generation Berlin erobert die Toskana.
Nicht direkt eine feindliche Übernahme ist das. Dennoch sind deutliche Unterschiede zum Gebaren der Politpaten von heute festzustellen. Die Helden des letzten Jahrhunderts ziehen sich hierher zurück; ins rote Herz Italiens. Abseits des Pöbels und der Probleme daheim vergewissern sie einander der Richtigkeit ihrer ehernen Ansichten. Vielleicht veranstalten sie Dia-Abende mit den schönsten Bildern ihrer Revolution.
Nicht so ihre Kinder: Die haben zwar gelernt, dass man ohne ein bisschen dolce vita so wird wie Guido Westerwelle. Die kultivierte Behäbigkeit der Ruhestätten ihrer Eltern interessiert sie aber nicht mehr als Heiner Bremers Nachtjournal, das man hier ohnehin nicht empfängt. Insofern passen die Jungen deutlich besser zur Toskana, als die weißhaarigen Polit-Opas, die sich Anfang der Achtziger im südlichen Teil der Toskana mit Immobilien eindeckten.
Ein bisschen selbstverliebt, die jungen Leute?
Die Gegend um Florenz ist nämlich kein beschauliches Refugium, im Gegenteil - sie kocht. Wir sind Richtung Norden gefahren, eineinhalb Stunden von Lucca entfernt, auf Serpentinen in die Berge nach Montalcino. Hier haben die Bewohner Silvio Berlusconi vertrieben, der sich ein Häuschen kaufen wollte. Hier hängt die PACE-Fahne, wie sonst nur frisch gewaschene italienische Wäsche aus nahezu jedem Fenster. Und hier kann die Wirtin der Pizzeria die Internationale auswendig.
Für die Urenkel ist der Urlaub hier keine Ruhepause im Kampf um die unnatürliche Verlängerung eines politischen Lebens. Er ist das Leben selbst, keine Parallelwelt. Mit Wein, der den schweren Kopf nicht noch schwerer macht. Mit guten Freunden, die hier auf der selben Seite stehen wie daheim. Und mit Gesängen, die nicht wehmütig an eine ferne Jugend erinnern, sondern Spaß machen. Ein bisschen selbstverliebt, die jungen Leute? Vielleicht, aber mit Recht angesichts kommender Siege.
Unterkunft und nicht seltener auch Verpflegung bekommt man im Agriturismo, die hiesige Form von Ferienwohnung. Der Wein wird, wenn man möchte, aus dem eigenen Fass abgefüllt. In Wohnzimmeratmosphäre bekommt man Einfaches und Gutes zu essen für 12 bis 15 Euro (drei Gänge mit Getränken). Unterkünfte sind für 15 neue Toskana-Fraktionäre ab 1.100 Euro pro Woche zu haben. Gleiches (und noch viel mehr) sollte man für Essen, Grappa und Wein einkalkulieren.
Zwischen Spielekiste und Jahrestagung
Wenn des Nachts die alt-niederrheinische Spielekiste ausgepackt wird, der andere Teil auf der mitgebrachten Anlage die Achtziger-Jahre-Disco anwirft und bis auf die Terrasse tanzt, wenn in der eigenen kleinen Küche der Pecorino zum Nachtisch geschnitten wird - dann denkt keiner mehr an die eigenen Väter, die sich zu Hause innerparteiliche Debatten mit stehengebliebenen Protestnoten liefern. Im Gegenteil: Nach der ersten gemeinsamen Flasche Grappa wird dem Programm der Jahrestagung des Netzwerk Berlin der letzte Schliff gegeben oder die Idee des nächsten Artikels für die Berliner Republik diskutiert. Es muss ja weitergehen. Denn hinten, weit in der unendlich fernen Galaxis der Käseglocke Berlin, lauern in einer Welt von garstigen Feinden neue dunkle Gefahren. Aber das ist, von der Toskana aus gesehen, wahrhaftig eine andere Geschichte.
agenzia agriturismo - Loc. Campagnola, 0039583 605657