Verantwortung in der Welt - wie geht das?
Deutschland soll mehr Verantwortung in der Welt übernehmen – das ist das außenpolitische Leitmotiv der Großen Koalition. Seit den Auftritten von Joachim Gauck, Frank-Walter Steinmeier und Ursula von der Leyen auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 erscheint die Verantwortungsthese im Gewand höchster, also überparteilicher Staatsraison – eine Sache für Große Koalitionen eben.
Das Problem ist nur: Dem großkoalitionären Einheitsbrei fehlt die parteipolitische Würze. Als Catch-All-Begriff bleibt Verantwortung beliebig. Um das Wie, Wo und Warum deutscher Verantwortung muss gesellschaftlich gerungen werden – auch parteipolitisch.
Je weniger offen und kontrovers die Parteien in der Mitte die Verantwortungsdebatte führen, desto mehr Ablehnung sammelt sich an den Rändern – schlimmstenfalls in einer dumpfen Fremdenfeindlichkeit à la Pegida.
Es geht um Deutungshoheit
Die SPD sollte die Debatte über deutsche Verantwortung selbstbewusst führen. Sie kann ihr Impulse geben, so wie sie der deutschen Außenpolitik in der Vergangenheit schon oft wichtige Impulse gegeben hat. Willy Brandts Ostpolitik, ebenso wie Gerhard Schröders „Ja“ zum Einsatz im Kosovo und sein „Nein“ zum Irak-Einsatz, waren zunächst unbequeme, aber letztlich prägende Weiterentwicklungen deutscher Außenpolitik. Heute – da ein Sozialdemokrat das Außenamt bekleidet, da Deutschland eine Schlüsselrolle in internationalen Friedensbemühungen ausübt und da SPD-Bundestagsfraktion und Parteiöffentlichkeit so intensiv über Außenpolitik diskutieren wie lange nicht – kann die SPD erneut zum Schrittmacher der deutschen Außenpolitik werden.
Es geht um Deutungshoheit – in der Außenpolitik nicht anders als in der Innenpolitik. Dazu zählt beides: Verantwortung in täglicher, aktiver Politik auszuüben, sie aber zugleich im eigenen Wertegerüst einzuordnen und der öffentlichen Debatte zu stellen.
Worin aber besteht das Wertegerüst, der sozialdemokratische Markenkern im Bereich der Außenpolitik? Hier lohnt der Vergleich mit der Innenpolitik: Innenpolitisch fußt die Sozialdemokratie auf Prinzipien wie Fairness, Chancengleichheit, Vorsorge und Realismus. Genau diese Prinzipien prägen auch die Außenpolitik der SPD.
Erstens: Fairness. Warum überhaupt mehr Verantwortung? Laut einer internationalen Datenauswertung ist Deutschland das meistvernetzte Land der Welt: wirtschaftlich, politisch, sogar bei Migration und digitalen Datenflüssen. Das bedeutet: Mehr als in anderen Ländern hängen unser Wohlstand und unsere Sicherheit von einer funktionierenden internationaler Ordnung ab. Mehr als andere müssen wir deshalb zu ihrem Erhalt beitragen.
Der Philosoph John Rawls nennt das „Fair-Play“. Zu einem „System sozialer Kooperation“ müssen Rawls zufolge diejenigen am meisten beitragen, die die größten Vorteile aus dem System ziehen. Im Alltag kennt man das von der Kaffeekasse im Büro: Wer mehr Kaffee trinkt, tut mehr rein.
Wohlstand fällt nicht vom Himmel
Im Zusammenhang nationaler Verteilungspolitik ist Sozialdemokraten dieses Prinzip wohlbekannt. Da heißt es: „Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache.“ Der Erfolg eines Unternehmers etwa fußt auf funktionierenden öffentlichen Gütern wie Rechtsstaatlichkeit, Infrastruktur und Bildung. Deswegen muss ein erfolgreicher Unternehmer überdurchschnittlich zum Erhalt dieser Güter beitragen – und zwar durch höhere Steuern.
Dasselbe gilt auch auf internationaler Ebene: Deutschlands Wohlstand fällt nicht einfach vom Globalisierungshimmel. Er fußt auf einer friedlichen, verlässlichen und regelbasierten Ordnung. Zu deren Erhalt muss Deutschland besonders beitragen: sei es in den Friedenseinsätzen der Vereinten Nationen, in der konjunkturellen Stabilisierung Europas oder in den diplomatischen Bemühungen in der Ukraine-Krise.
So gesehen ist „mehr Verantwortung“ die außenpolitische Spiegelung des sozialdemokratischen Ur-Prinzips „Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache“.
Prävention erspart Krisenmanagement
Zweitens: Vorsorgende Außenpolitik. Außenpolitik gelingt dann am besten, wenn Krisen verhindert wurden. Deswegen legt sozialdemokratische Außenpolitik einen Schwerpunkt auf vorsorgende Instrumente von ziviler Krisenprävention über die Stärkung fragiler Staaten bis hin zu Friedensmediation und Friedenskonsolidierung. Seit dem „Aktionsplan“ der rot-grünen Regierung von 2004 werden diese Instrumente mehr und mehr zum Markenzeichen deutscher Außenpolitik.
Ein aktuelles Beispiel ist das deutsche Engagement im syrischen Flüchtlingsdrama. Wenn in Jordanien oder im Libanon die Bevölkerung schon zu über einem Drittel aus syrischen Flüchtlingen besteht, dann drohen Grundfunktionen wie Ernährung, Gesundheit oder Bildung schlichtweg zu kollabieren. Wenn das Auswärtige Amt in die staatliche Funktionsfähigkeit dieser Länder investiert, ist das zugleich präventive Sicherheitspolitik.
Das innenpolitische Pendant dazu ist das Prinzip der vorsorgenden Sozialpolitik: Lieber früh ins Bildungssystem investieren als später Arbeitslosengeld zahlen. Lieber früh in Nachbarschaftskampagnen und „Soziale Stadt“ investieren als später in Kriminalitätsbekämpfung. Genauso lautet die Grundidee der vorsorgenden Außenpolitik: Lieber frühzeitig und gezielt in Frieden und Stabilität investieren, als eingreifen zu müssen, wenn es zu spät ist!
In der öffentlichen Debatte wird Außenpolitik viel zu oft auf die Gretchenfrage verkürzt: „Wie hältst Du’s mit dem Militär?“ – als gäbe es nur zwei Optionen: entweder folgenloses diplomatisches Gerede oder Militäreinsätze. Sozialdemokraten sollten den Gegenbeweis antreten, dass Außenpolitik sehr viel mehr konkrete Instrumente im Koffer hat – und zwar immer mit dem Ziel, die Ultima Ratio des Militärischen abzuwenden. Genau darauf zielen die vielen deutschen Initiativen in der Ukraine-Krise: von der OSZE-Beobachtermission über den Nationalen Dialog bis hin zum Minsker Abkommen.
Gleiche Freiheit für alle Völker
Drittens: Internationale Chancengleichheit. Chancengleichheit ist ein normativer Grundpfeiler der Sozialdemokratie. Im nationalen Kontext lautet das Versprechen: „Egal woher Du kommst, aus welchem Stadtteil oder Elternhaus, Du verdienst die gleichen Chancen auf ein gutes Leben.“
Genauer betrachtet besteht Chancengleichheit aus zwei Komponenten: einer liberalen (der Freiheit zum eigenen Lebensentwurf) und einer egalitären (den gleichen Startchancen zu seiner Verwirklichung). Die Kurzformel lautet: Die Freiheit des Individuums plus die Egalisierung der Chancen ergibt liberale sozialdemokratische Gerechtigkeit.
Auch zwischen Staaten gibt es das Prinzip der Chancengleichheit. Und auch hier besteht es aus einer liberalen und einer egalitären Komponente: der Freiheit jedes Staates, seine eigenen Geschicke selbst zu lenken, und dem gleichen Anspruch aller Staaten, dass diese Souveränität geschützt wird – durch das Völkerrecht, internationale Organisationen, Verträge und Bündnisse, durch Regeln eben, die für alle Staaten, große wie kleine, gelten. Die internationale Version der Formel heißt also: Souveränität des einzelnen Staates plus faire Regeln zwischen Staaten ergibt liberale sozialdemokratische Gerechtigkeit.
Beispiel Ukraine-Krise: Von vornherein hat die SPD die Souveränität der Ukraine als Handlungsmaßstab im Krisengeschehen hervorgehoben. Nicht Russland, nicht die EU, sondern die Bürger der Ukraine sollen über die Zukunft ihres Landes bestimmen. Das geht nur unter friedlichen und fairen Außenbedingungen, und diese unterläuft Russland mit der Annexion der Krim und dem militärischen Vorgehen in der Ostukraine.
Der Russland-Kritik der SPD geht es also nicht – wie einigen anderen Stimmen in der Debatte – um Blockkonfrontation, Überlegenheitsgesten oder gar das Niederringen des konkurrierenden Systems. Kern des Vorwurfs an Russland ist die Regelverletzung. Das mutwillige Verrücken von Grenzen, das Ausweiten der „Einflusssphäre“ – all das widerspricht diametral einem gerechten Umgang unter Staaten: nämlich der Freiheit der Völker, verbürgt durch internationale Spielregeln.
Die Zumutung des Friedensrealismus
Viertens: Friedensrealismus. Frieden ist der Leitstern aller Außenpolitik. Deshalb sprechen Sozialdemokraten lieber von Friedenspolitik als von Außen- und Sicherheitspolitik. Doch Friedenspolitik bedeutet zweierlei: Nicht nur Frieden zu bewahren, wo Friede herrscht, sondern aktiv gegen Unfrieden vorzugehen, wo Unfriede herrscht.
„Du musst die Welt nehmen, wie sie ist, aber du darfst sie nicht so lassen“, lautet ein alter sozialdemokratischer Leitsatz. „Die Welt nehmen, wie sie ist“ fällt in der Außenpolitik besonders schwer. Sie kennt fast keine Situationen, die nur schwarz oder weiß sind; fast keine Beteiligten, deren Interessen oder gar Realitätswahrnehmungen übereinstimmen; fast keine Entscheidungen, die nur richtig oder falsch sind. Friedenspolitik erfordert in solchen Umständen eine Mischung aus idealistischem Ziel und pragmatischer Analyse, kurz: einen gesunden „Friedensrealismus“.
Friedensrealismus stellt für Sozialdemokraten wie für Konservative eine Zumutung dar. Denn er erfordert, auch mit schwierigen Gesprächspartnern im Dialog zu bleiben, ohne eigene Prinzipien zu verbiegen. Dabei gilt die Faustregel: Je bedrohlicher die Konflikte (Russland, Syrien, Iran), desto unangenehmer die Gesprächspartner.
Auch hier unterscheiden sich die Parteien tendenziell: Wo sozialdemokratische Politik gebietet, das Ziel im Visier zu behalten, auch wenn der Weg riskant ist, da lautet die konservative Alternative, das Ziel anzupassen, damit der Weg sauber und überschaubar bleibt. Während der erste Weg die eigenen Handlungsoptionen maximiert, engt der letztere sie ein. Wer die Welt nicht so lassen will, wie sie ist, muss sich Einflussmöglichkeiten offenhalten.
Im Kampf gegen den so genannten Islamischen Staat wird der Friedensrealismus wohl auf die derzeit härteste Probe gestellt. In der Entscheidung, Waffen an kurdische Peschmerga zu liefern, stand Grundsatz gegen Grundsatz: der Schutz von Menschenleben und internationaler Sicherheit gegen das Exportverbot in Krisengebiete. Gar nicht tätig zu werden, wenn Grundsätze miteinander in Konflikt geraten, wäre kein Hochhalten von Grundsätzen, sondern käme einem Verstecken hinter den Prinzipien gleich. Deshalb heißt Friedensrealismus in solchen Fällen Abwägung – auch wenn keine Option perfekt ist. Und in diesem Fall wog der Kampf gegen die IS-Barbarei schwerer als das Risiko von Waffenlieferungen – auch, wenn diese am Ende in falsche Hände gelangen könnten.
Kontroversen wie diese gehören in die Mitte der Gesellschaft – und damit auch die Debatte über Deutschlands Verantwortung. Aus diesem Grund hat das Auswärtige Amt den „Review 2014“ durchgeführt, mit breiter Beteiligung über die üblichen Verdächtigen der Außenpolitik hinaus. Gerade der SPD sollte es ein Anliegen sein, Außenpolitik aus dem Anschein des Elitären und Exklusiven herauszuführen.
Nur so wird das entstehen, was deutscher Außenpolitik noch fehlt: die „normative DNA“ – ein Wegweiser, um in konkreten Entscheidungssituationen abstrakten Werten wie Verantwortung, Frieden oder Gerechtigkeit zur Durchsetzung zu verhelfen.
Wie die außenpolitische DNA wächst
Der SPD ist eine solche normative DNA in nationalen Fragen tief eingewachsen. Es gibt Narrative, Leitsätze und Programme, die Grundwerte wie Gerechtigkeit, Freiheit oder Chancengleichheit in konkrete Politik übersetzen – vom Mindestlohn bis zur Erbschaftssteuer. In internationalen Fragen ist die sozialdemokratische DNA weniger ausgeprägt. Die Anwendung innenpolitischer Prinzipien auf internationaler Ebene könnte ein Ansatz sein.
Letztlich wächst Deutschlands außenpolitische DNA von beiden Enden heran: von unten, im Ringen um konkrete Entscheidungen, und von oben, in Richtungs- und Wertedebatten. An beiden Enden hat die Sozialdemokratie schon heute eine prägende Rolle – und diese sollte sie selbstbewusst vertreten.