Wie Rot-Grün 2013 die Wahl gewinnt

Gerechtigkeit, Zusammenhalt und Fortschritt müssen das gemeinsame Versprechen von SPD und Grünen bei der Bundestagswahl 2013 sein. Handwerkliche Kompetenz und Orientierung sind dabei die Stärken der SPD, Bürgernähe und Demokratie die der Grünen. Mit klarem Bekenntnis zu Rot-Grün und dem Willen zum ganzen Regierungswechsel legen SPD und Grüne Angela Merkels fehlende Machtoption bloß, zwingen FDP, Linkspartei und Piraten in die inhaltliche Auseinandersetzung - und machen der deutschen Gesellschaft ein glaubhaftes solidarisches Gegenangebot zu Schwarz-Gelb

Was ist bloß los in Deutschland? Das fragten wir uns in den USA in den vergangenen zwei Jahren häufig. Während sich in Amerika ein visionärer Präsident mit dem Machtpoker des politischen Alltags quält, gibt sich in Deutschland eine Regierung ohne jede Vision ganz unbekümmert dem Machtpoker hin. Die Eurokrise machte deutlich, wie sehr selbst Amerika von progressiver Politik in Deutschland und Europa abhängt, und doch schien die schwarz-gelbe Regierung im Zuge des Niedergangs von Westerwelle, Guttenberg, Wulff, Rösler und zuletzt Röttgen stets voll beschäftigt mit ihrem eigenen Machterhalt. Sozial-ökologische Reformpolitik, die richtigen wirtschaftlichen Lehren aus der Finanzkrise und neue Ideen für ein solidarisches Europa müssen, so finden wir, von einer rot-grünen Regierung ausgehen. In Deutschland gibt es eine gesellschaftliche Mehrheit der linken Mitte – und 2013 wieder eine echte Chance auf eine rot-grüne Regierung.

Auf dieser These aufbauend, widmeten wir uns an der Harvard Kennedy School der Frage, mit welcher Wahlkampfstrategie dieses gemeinsame Ziel am ehesten zu erreichen ist. Über das vergangene Jahr verstreut nahmen sich etwa 40 Entscheidungsträger von Rot und Grün Zeit für Hintergrundgespräche mit zwei jungen Parteimitgliedern. Unser Eindruck aus diesen Gesprächen war, dass es neben großen inhaltlichen und kulturellen Schnittmengen zwischen den beiden Parteiführungen auch Missverständnisse und strategische Leerstellen gibt.

Die Ergebnisse unserer Studie betreffen vier Aspekte: erstens, die Notwendigkeit einer geschickten Arbeitsteilung zwischen Rot und Grün im Hinblick auf die Wählerschaft; zweitens, die Balance zwischen verbindenden Wertebotschaften und eigenen Schwerpunkten in den Wahlkampf-Narrativen; drittens, die Wichtigkeit von Austausch und einem Minimum an strategischen Absprachen im Umgang miteinander; und viertens die Forderung nach einem klaren Bekenntnis zu Rot-Grün in den Koalitionsaussagen.

Unter der Überschrift „Zielgruppen“ lautet unsere Ausgangshypothese, dass Rot und Grün über ihre Kerngruppen im wirtschaftlich-linken und sozial-liberalen Spektrum hinausgreifen müssen, um eine parlamentarische Mehrheit zu erreichen. Diese Auffassung teilen die meisten polit-demografischen Studien. Unser Zielgruppen-Modell beruht auf einem vereinfachten politischen Doppelspektrum zwischen wirtschaftspolitischem Links versus Rechts und gesellschaftspolitischem Liberal versus Autoritär-Konservativ, in dem eine progressive Mehrheit auch Stimmengewinne in links-autoritären wie in Markt- und sozial-liberalen Gruppen erfordert.

Interessant wird es, wenn wir diese Ausgangshypothese der Wahrnehmung gegenüberstellen, mit der die Führungsriegen von SPD und Grünen ihre eigene und die jeweils andere Partei in Bezug auf die Wählerschaft sehen. Rote wie grüne Spitzenleute meinen, ihre Partei greife weiter in die Gesellschaft aus, als es ihnen die jeweils andere Seite zutraut. Für sozialdemokratische Entscheidungsträger ist die SPD voll und ganz Volkspartei der linken Mitte, während die Grünen sie eher in staatsgläubigen, konservativeren Schichten verankert sehen und ihr weniger Attraktivität im liberalen, besser gebildeten und jungen Spektrum zuschreiben. Die Grünen hingegen verortet man in der SPD klar in der gut gebildeten, gut verdienenden links-liberalen Bürgerschaft. Die grünen Spitzenleute selbst trauen ihrer Partei aber zu, sowohl ins wirtschafts- und sozial-liberale Gebiet als auch in die eher wertkonservative Mitte hinein auszugreifen (siehe Abbildungen).

Diese Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung birgt die Gefahr von „offenen Flanken“ in der Wählerschaft. Die Tendenz bei den Grünen, das angestammte Milieu in Richtung der wertkonservativen Mitte zu erweitern – angespornt durch den Erfolg in Baden-Württemberg – birgt das Risiko, liberal orientierte Wähler an die Piratenpartei zu verlieren. Denn wenn die so schwer durchschaubare Gruppe der Piraten-Wähler eines eint, so ist es der libertäre „Anti-Establishment“-Gedanke, den die Grünen traditionell verkörperten. Und die SPD läuft Gefahr, große und wichtige Wählergruppen in eher stabilitätsorientierten Schichten zu verlieren, wenn sie sich zu sehr auf den im Wesentlichen Rot-Grün-internen Wettbewerb um das links-liberale Spektrum konzentriert.

Wir empfehlen daher eine Arbeitsteilung, bei der sich die Grünen auf ihre freiheitlichen und grassroots-inspirierten Kernwerte konzentrieren, während die SPD stärker stabilitätsorientierte Wählergruppen anspricht. Die Sozialdemokraten haben im Jahr 2013 endlich wieder die Gelegenheit, in der traditionellen Arbeiterschaft zu punkten. Am linken Ende dieses Spektrums ist die Linkspartei schwach und zerstritten. Am konservativen Ende des Spektrums hat die SPD die historische Chance, Unionswähler für sich zu gewinnen. Denn jene Wähler, die vor allem Stabilität und Verlässlichkeit suchen, sind von der schwarz-gelben Regierung zweifelsohne frustriert.

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Ein Schwerpunkt dieser Arbeitsteilung muss es sein, Nichtwähler anzusprechen. Eine Erhöhung der Wahlbeteiligung setzt einen Wahlkampf voraus, bei dem es „um etwas geht“. Zum einen muss dafür die rot-grüne Machtperspektive klar sein, und zum anderen muss diese Alternative als wertemäßiges und programmatisches Gegenstück zur Regierung empfunden werden. Ein Vorteil dieser Form von Arbeitsteilung lautet, dass sie gezielte Ansprache erlaubt. In allen von uns identifizierten drei Wählergruppen ging 2009 die Wahlbeteiligung zurück. Eine Re-Aktivierung erfordert daher auch drei unterschiedliche Ansprachen und Botschaften.

Ein schöner Nebeneffekt unserer rot-grünen Zusammenarbeit war, dass wir einander zu Parteiveranstaltungen mitnahmen und so ein wenig die Alltagsatmosphäre der jeweils anderen Partei kennenlernten. Diese Begegnungen machten Spaß, denn es wurde deutlich, wie groß das gemeinsame Fundament ist, programmatisch wie kulturell, ganz gleich ob bei den einen mehr Bionade und bei den anderen mehr Ruhrpott-Pils getrunken wird. Dieses gemeinsame Fundament müssen die beiden Parteien deutlich in die Öffentlichkeit tragen. Natürlich erfordert die erfolgreiche Arbeitsteilung in Bezug auf die Zielgruppen unterschiedliche Schwerpunkte und Botschaften. Doch diese Unterschiede müssen von einem Bogen gemeinsamer Werte überspannt werden. Politik darf kein Pizzaservice sein! Nur die Einzelinteressen von Wählergruppen zu bedienen, hieße, die Zerfaserung der Gesellschaft zu fördern statt zu überwinden. Die Überwindung der Spaltung muss die übergreifende Botschaft von SPD und Grünen sein. Gerechtigkeit, Zusammenhalt und Fortschritt sind die Werte, die die beiden Parteien verbinden, mit denen sie in Zeiten massiver gesellschaftlicher Fliehkräfte eine progressive Mehrheit zusammenführen können.

Die gemeinsamen Werte haben auch strategische Vorteile. Sie schaffen eine klare solidarische Kontrastfolie zu Schwarz-Gelb. Sie führen zu mehr Mobilisierung unter Nichtwählern, denn sie untermauern die Notwendigkeit zum vollständigen – und nicht zum halben – Regierungswechsel. Sie bieten echtes Abgrenzungspotenzial zu Angela Merkel. Denn bei allem Ansehen, das die Bundeskanzlerin weiterhin genießt, ist ethisch-programmatische Orientierung sicher nicht ihr Aushängeschild. Im Gegenteil, ihre einzigen Klare-Kante-Entscheidungen in dieser Legislaturperiode, die Atom-Kehrtwende und der Röttgen-Rausschmiss, belegen das glatte Gegenteil von programmatischer und ethischer Überzeugung.

Mit unseren rot-grünen Gesprächspartnern diskutierten wir das „Policy“-Narrativ (Wohin wollen Rot und Grün eigentlich mit Deutschland?) und das „Politics“-Narrativ (Welche Politikkultur will eine rot-grüne Regierung verkörpern?). Auf der Policy-Ebene kristallisierten sich Gerechtigkeit und Fortschritt als Leitideen heraus. Aber grüne Gesprächspartner tendierten eher zu anspruchsvollen, wechselorientierten Narrativen, während Sozialdemokraten Stabilität und Vernunft in den Vordergrund stellten. Diese unterschiedliche Gewichtung ist sinnvoll. Die SPD muss mit der Doppelbotschaft von „Solidität und Solidarität“ auch jene abholen, bei denen Verunsicherung herrscht und denen Wandel nicht als Segensversprechen erscheint. Die Grünen können mit ambitionierteren Botschaften Wähler aktivieren, für die Mobilität, Internationalisierung, moderne Kommunikation und neue Arbeitsverhältnisse selbstverständlich geworden sind.

Eine ähnliche zielgruppenspezifische Differenzierung zeigte sich auf der Ebene des Politics-Narrativs. Grüne Gesprächspartner betonten die Glaubwürdigkeit ihrer Partei bei den Themen Transparenz, Bürgernähe und Basisdemokratie – entsprechend dem oft höheren Bildungsniveau und Sozialengagement der Wählergruppen. Die SPD muss in den Augen ihrer Entscheidungsträger vor allem Erwartungen von handwerklicher Kompetenz und programmatisch-ethischer Orientierung erfüllen. Wichtig sei eine Führung, die „einen Plan hat“.

Eine gemeinsame rot-grüne Strategie muss sein

Wie gehen die beiden Parteien miteinander um? Die Mehrheit der Interviewten betrachtet die jeweils andere Partei als Konkurrentin, aber als präferierten Koalitionspartner. Deshalb regen wir zusätzlich eine stärkere strategische Kooperation an. Die Herausforderung liegt darin, Trennendes und Gemeinsames kommunikativ auszutarieren, also ein freundschaftliches Konkurrenzverhältnis zu, moderieren mit dem Ziel des gemeinsamen Regierens. Um eine rot-grüne Mehrheit zu erreichen, müssen beide Parteien ein Minimum an gemeinsamer Strategie an den Tag legen. Sie müssen auf Stimmenmaximierung durch Differenzierung setzen, aktiv von Rot-Grün sprechen und die Konstellation thematisch erden, im Hintergrund eine strategische und taktische Koordinierung betreiben, und fair miteinander umgehen, statt in alte Reflexe zu verfallen.

Viele Kritiker eines zu sehr gemeinsamen rot-grünen Wahlkampfes wenden zu recht ein, dieser hindere SPD und Grüne möglicherweise daran, ihre individuellen Stärken herauszustellen. Indem Unterschiede verwischten, würden die Chancen auf eine rot-grüne Mehrheit sogar minimiert. Wir teilen diese Sorge, sehen aber auch das umgekehrte Risiko: Selbstverständlich führen SPD und Grüne eigenständige Wahlkämpfe. Sie dürfen nicht verwechselbar sein. Jedoch darf beim Versuch der Abgrenzung nicht die isolierte Stimmenmaximierung im Vordergrund stehen, sondern die Frage, wie SPD und Grüne gemeinsam die Mobilisierung progressiver Wähler erhöhen. Es geht also um produktiven Wettbewerb und nicht um ein race to the bottom.

Für die Wähler muss erkennbar sein, dass eine rot-grüne Bundesregierung mit einem Politikwechsel und konkreten progressiven Projekten verbunden ist. So wird das Farbenspiel zu einer echten Richtungsauseinandersetzung. Für die Koordinierung im Hintergrund schlagen wir vor, gemeinsame Schlüsselprojekte auszuloten und zu propagieren, Wahlkreisabsprachen zu treffen, gemeinsame Auftritte der Spitzenkandidaten in der Endphase des Wahlkampfs zu planen und Fairnessregeln im medialen Umgang miteinander zu verabreden. Nach dem Vorbild von Hannelore Kraft und Sylvia Löhrmann in Nordrhein-Westfalen können SPD und Grüne eine moderne rot-grüne Partnerschaft auf Augenhöhe eingehen. Alte Streitereien zwischen den Parteien auf der politischen Linken nützen am Ende weder Rot noch Grün, sondern nur der anderen Seite.

Auffällig war, dass sich sozialdemokratische Gesprächspartner eine stärkere Festlegung auf Rot-Grün wünschen, bei den Grünen ist diese Vorliebe geringer ausgeprägt. Dies ist umso bemerkenswerter, da die Grünen im politischen Narrativ ihres Wahlkampfes ambitionierter als die SPD sind. Zugespitzt: Die Grünen gehen bei ihren inhaltlichen Forderungen über die SPD hinaus, aber ein relevanter Teil der Partei hält es für prinzipiell denkbar, diese ambitionierte sozial-ökologische Reformprogrammatik auch mit der Union in die Tat umzusetzen. Bei der SPD wiederum ist die Große Koalition äußerst unbeliebt, obwohl es ihre etwas „mittigere“ Position eher zulassen würden, erneut mit Angela Merkel zu koalieren. Diese Widersprüche sollten SPD und Grüne korrigieren, indem sie eindeutige, glaubwürdige Koalitionsaussagen zugunsten von Rot-Grün treffen.

Das Parteiensystem ist mit dem Aufkommen der Piratenpartei noch unübersichtlicher geworden. Jedoch zeigen die immensen Schwankungen in Umfragen und bei Landtagswahlen auch den großen Gestaltungspielraum für mutige Wahlkämpfer: Anstatt Programmatik und Koalitionsaussagen ständig wechselnden Umfragen anzupassen, sollten SPD und Grüne aus Überzeugung für ihr gemeinsames Projekt, für Gerechtigkeit und Zusammenhalt in der Krise werben. So werden Linkspartei, Piraten und FDP in die inhaltliche Auseinandersetzung um den sozial-ökologischen Wandel gezwungen. Das Beispiel Nordrhein-Westfalen belegt, dass sich Klarheit, Entschlossenheit und Glaubwürdigkeit auszahlen.

SPD und Grüne müssen 2013 den ganzen und nicht nur den halben Regierungswechsel anstreben. Rot-grüne Entschlossenheit entblößt Angela Merkels fehlende Machtoption. Diese Entschlossenheit und Perspektive aus parteitaktischem Egoismus zu verwischen, hilft am Ende nur der Bundeskanzlerin, die dann den nächsten Koalitionspartner verfrühstücken kann. Denn wenn SPD und Grüne fest entschlossen sind, miteinander zu koalieren, und wenn die schwarz-gelbe Mehrheit mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit weg ist: Wer soll dann Angela Merkel zur Kanzlerin wählen? Wo ist ihre Machtoption? Je nachdem, ob es Linkspartei, FDP und Piratenpartei über die Fünf-Prozent-Hürde schaffen, könnten bereits 45 Prozent der Zweitstimmen für eine rot-grüne Mehrheit im Bundestag reichen. Das ist machbar und sehr viel realistischer als eine Neuauflage von Schwarz-Gelb. SPD und Grüne müssen Vertrauen in sich selbst und Vertrauen in die Wähler haben, dann können sie es gemeinsam schaffen. Es ist Zeit für den Wechsel in Deutschland.

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