Vereint gegen Europa
Die rechtspopulistischen und EU-skeptischen Parteien können bei den anstehenden Europawahlen mit einem kräftigen Stimmenzuwachs rechnen. Sie dürften die großen Wahlgewinner sein. Parteien des rechten und linken Rands haben auch bei vergangenen Europawahlen in der Regel besser abgeschnitten als bei den nationalen Wahlen in ihren Ländern. Der Grund dafür liegt im second order-Charakter der europäischen Wahlen: Zum einen werden sie von den Bürgern in ihrer Bedeutung als nachrangig betrachtet, zum anderen führen die Parteien den Wahlkampf primär unter nationalen Gesichtspunkten.
Beides zusammen verleitet einen Teil der Wähler dazu, mit ihrer Stimme leichtfertiger umzugehen als bei den nationalen Wahlen. Man glaubt, sich die Wahl solcher Außenseiterparteien gefahrlos leisten zu können, weil Europa für die eigene Lebenswirklichkeit als nicht so wichtig empfunden wird, weil dem Parlament innerhalb der EU wenig Gewicht beigemessen wird, und weil die Europawahlen keine direkten Auswirkungen auf den Bestand der nationalen Regierungen haben.
Gerade dies wird wohl auch diesmal zahlreiche Wähler motivieren, ihr Mütchen an den Parteien der jeweiligen nationalen Regierung zu kühlen. Wir kennen diesen Effekt auch von anderen „Zwischenwahlen“, seien es Landtagswahlen (wie in der Bundesrepublik), Nachwahlen (wie in Großbritannien) oder landesweite Kommunalwahlen (wie in Frankreich). Allerdings: Dank der Eurokrise stehen bei den Europawahlen diesmal zum ersten Mal tatsächlich überwiegend europäische Themen im Mittelpunkt, auch wenn diese weiterhin stark oder sogar ausschließlich durch die nationale Brille betrachtet werden. Hinzu kommt, dass die europäischen Parteien ebenfalls erstmals mit gemeinsamen Spitzenkandidaten antreten, was zu einer Aufwertung des Parlaments beiträgt. Beides könnte vielleicht eine Trendumkehr bei der Wahlbeteiligung bewirken, die zuletzt auf ein Rekordtief gefallen war.
Zu den Paradoxien der Europäisierung gehört, dass sie maßgeblich durch die so genannten euroskeptischen Parteien befördert wird. Diese wenden sich nicht nur gegen eine weitere Vergrößerung und Vertiefung der EU, sondern möchten sogar die bereits erreichte Integration am liebsten zurückdrehen. Das Paradoxe liegt auch darin, dass ihre antieuropäische Ausrichtung diese Parteien stärker miteinander verbindet, als es die proeuropäische Ausrichtung bei den etablierten Parteien tut. Ideologisch eint sie dagegen weniger. So ist nur ein Teil der EU-Skeptiker bereit, sich im Parlament zu einer gemeinsamen Fraktion zusammenzuschließen.
Früher fanden die Populisten Europa prima
Bei den etablierten Parteien ist es genau umgekehrt: Sie verbindet weltanschaulich mehr, als sie integrationspolitisch trennt, doch für eine echte Europäisierung der Wahlen war die gemeinsame inhaltliche Klammer in der Auseinandersetzung mit den anderen europäischen Parteienfamilien bisher stets zu schwach. Dies lag und liegt auch daran, dass es der EU gerade in denjenigen Bereichen an Zuständigkeiten fehlt, die sich für eine parteipolitische Abgrenzung eignen.
Euroskeptiker finden sich nicht nur innerhalb der rechtspopulistischen Parteien. Unter den Rechtspopulisten gehört die Euroskepsis heute allerdings zur programmatischen Grundausstattung. Doch das war nicht immer so. Als die neuen Rechtspopulisten in den achtziger Jahren die Bühne betraten, verfochten die meisten von ihnen zum Teil dezidiert proeuropäische Positionen. Dies hatte einerseits mit ihrer damals noch überwiegend wirtschaftsliberalen Ausrichtung zu tun (wie beim französischen Front National), zum anderen spiegelte sich darin die Anti-Haltung zur Regierungspolitik auf nationaler Ebene wider, gegenüber der die europäischen Institutionen als leuchtendes Vorbild erschienen (wie bei der italienischen Lega Nord).
Die Hinwendung zum Anti-Europäismus erfolgte erst, als sich in den neunziger Jahren die Schattenseiten der neoliberalen Modernisierung bemerkbar machten. Diese wurden nun verstärkt der europäischen Politik angelastet, die den finsteren Mächten der Globalisierung gleichsam ein konkretes Gesicht verlieh. Bei den Wahlen zahlte sich das zunächst kaum aus – zwischen 2000 und 2005 hatten die Rechtspopulisten sogar mit Verlusten zu kämpfen. Als jedoch die Finanz- und Eurokrise einsetzte, konnten sie ihre Anti-Haltung zur EU voll ausspielen und damit neue Rekorde der Wählerunterstützung verbuchen. Einige Parteien (wie die Wahren Finnen oder die Alternative für Deutschland) sind sogar erst in der Eurokrise entstanden.
Der Euroskeptizismus knüpft an die Gewinnerformel des Rechtspopulismus nahtlos an. In ökonomischer Hinsicht profitieren seine Vertreter von den Abstiegsängsten der Mittelschichten. In kultureller Hinsicht greifen sie die Sehnsucht nach Identität angesichts der mutmaßlichen Wertebeliebigkeit der multiethnischen Gesellschaften auf. Und in politischer Hinsicht thematisieren sie die wachsende Kluft zwischen Regierenden und Regierten, die das Vertrauen in das demokratische System untergrabe. Die EU bündelt diese Krisenphänomene wie unter einem Brennglas. Ökonomisch wird sie als Urheberin von Verteilungsungerechtigkeiten innerhalb der Gesellschaften sowie von Konflikten zwischen den auseinanderdriftenden Staaten der Währungsunion betrachtet. Kulturell nährt sie die Sorgen vor unkontrollierter Zuwanderung und dem Verlust nationaler Eigenständigkeit. Und politisch leidet sie unter einem angeborenen und von den Eliten bewusst in Kauf genommenen Demokratiedefizit.
Die Wirkungsmacht dieser Programmformel ergibt sich aus ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Kohärenz. Als Klammer fungiert die Kritik an den Eliten, die den eigentlichen Kern des Populismus ausmacht. In ihm spiegelt sich zugleich das Festhalten am Primat der Politik, also dem Anspruch, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Rahmen der demokratischen Herrschaftsordnung gestalten zu können. Ähnlich enge Querverbindungen bestehen zwischen den wirtschaftlichen und kulturellen Aspekten der Modernisierung.
Indem sie die gesellschaftlichen Folgen einer Wirtschaftspolitik anprangern, die einseitig auf Wachstum, Flexibilisierung und die Beseitigung von Marktbarrieren programmiert ist, bewegen sich die Rechtspopulisten in der Tradition der Kapitalismuskritik von rechts und links. Ökonomisch vertreten ihre Protagonisten heute hauptsächlich etatistisch-protektionistische Positionen, und in ihrer Gesellschaftspolitik sind sie national-konservativ. Diese anti-liberale Grundhaltung, die sich einerseits von der Marktgläubigkeit der christdemokratischen und konservativen Parteien, andererseits von der kulturellen Modernität der Sozialdemokraten abhebt, verleiht den rechtspopulistischen Botschaften ihre Überzeugungskraft. Die größte Resonanz entfalten sie weiterhin beim Thema Zuwanderung.
Die AfD hält zu den anderen Populisten Distanz
Der gemeinsame Nenner darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass innerhalb der rechtspopulistischen Parteienfamilie immense Unterschiede bestehen. Nur ein Teil von ihnen – der französische Front National, die italienische Lega Nord, der belgische Vlaams Belang, die niederländische Partij voor de Vrijheid und die österreichische FPÖ – hat sich vor der Wahl zu engerer Zusammenarbeit bereit erklärt. Diese Parteien weisen ideologisch die größten Schnittmengen auf und stimmen in ihren europapolitischen Positionen stark überein. Dies rührt auch daher, dass sie alle aus Ländern stammen, die der europäischen Integration bislang positiv gegenüberstanden.
In einem ganz anderen Umfeld agieren die skandinavischen und britischen Rechtspopulisten, die sich zudem bewusst vom bisweilen offenen Rassismus ihrer kontinentaleuropäischen „Schwesterparteien“ abgrenzen. Die deutsche AfD wiederum hält zu beiden Gruppen Abstand. Sie möchte weder als prinzipiell EU-feindlich gelten, noch mit Rechtspopulismus in Verbindung gebracht werden.
Den Etablierten fehlen heute Kraft und Wille
Auch wenn sie zahlenmäßig zulegen, werden die Rechtspopulisten im nächsten Europaparlament keinen nachhaltigen Einfluss ausüben. Zu einer abgestimmten Obstruktion sind sie schon aufgrund der immanent selbstzerstörerischen Tendenzen außerstande, die diese Parteien oftmals in ihrer eigenen Organisation entwickeln. Für die europäische Politik liegt darin jedoch kein wirklicher Trost. Sie braucht im Grunde einen neuen Aufbruch, der aus der Unzulänglichkeit des bisherigen Integrationsprojekts Konsequenzen zieht. Denn so wie eine Währungsunion ohne eine sie begleitende Fiskal-, Konjunktur- und Wachstumspolitik auf Sand gebaut ist, kann es nicht funktionieren, wenn die Bewältigung der sozialen, ökologischen und kulturellen Nebenwirkungen des Marktgeschehens in der EU weiter den Nationalstaaten aufgebürdet wird.
Den großen Parteien scheinen im Moment allerdings die Kraft und der Wille zu fehlen, einen offensiven Gegenentwurf für „Mehr Europa“ zu vertreten, der mit einem Bekenntnis zur Politischen Union und einer Absage an den heute vorherrschenden intergouvernementalen Integrationsmodus einhergeht. Stattdessen begeben sich viele von ihnen selbst auf das Terrain des Rechtspopulismus, indem sie in das bashing der Brüsseler Bürokratie einstimmen und sich mit Vorschlägen überbieten, welche Zuständigkeiten der Gemeinschaft am besten entzogen werden könnten. Unter diesen Bedingungen wäre es schon ein Erfolg, wenn der Weg des „Durchlavierens“, den die EU im Zuge der Eurokrise eingeschlagen hat, in den kommenden Jahren fortgesetzt wird und es im Integrationsprozess zu keinen größeren Rückschlägen kommt.