Verfassungsreform auf Abwegen
Erstens soll durch die größere Mobilisierungswirkung der nationalen Parlamentswahl, die die Bürger als wesentlich wichtiger empfinden, die notorisch niedrige Wahlbeteiligung bei Europawahlen erhöht und somit für eine bessere Legitimation der europäischen Politik gesorgt werden.
Zweitens würde die Notwendigkeit, die Wahlen vorzuziehen, laut Reiche eine willkommene Gelegenheit für die Einführung eines Selbstauflösungsrechts des Bundestages bieten – als Alternative beziehungsweise Ergänzung zum problematischen Verfahren der „unechten“ Vertrauensfrage gemäß Artikel 68 Grundgesetz, das die Auflösung nur im Falle einer Regierungskrise gestattet.
Und drittens könnte mit dem Selbstauflösungsrecht zugleich eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre beschlossen werden, damit die Politiker – anstatt ständig Wahlkämpfe führen zu müssen – wieder mehr Zeit zum Regieren hätten.
Reiches Hoffnung muss enttäuscht werden
So plausibel die Vorschläge auf den ersten Blick auch anmuten, bei näherem Hinsehen sind sie wenig überzeugend. Reiches Hoffnung, die Politikwissenschaft werde ihn in seinen Ideen bestärken, muss daher enttäuscht werden. Nehmen wir zunächst den Vorschlag, die Europawahl mit der Bundestagswahl zusammenzulegen. Dass die Europawahlen in ihrer Bedeutung für die Bundesbürger weit hinter den Bundestagswahlen und sogar noch hinter den Landtagswahlen rangieren, liegt zum einen daran, dass es in den Europawahlkämpfen kaum um europäische Themen geht. Und zum anderen fehlt den Europawahlen der Charakter einer Regierungswahl, in der über das Regierungspersonal und die Grundrichtung der Regierungspolitik befunden wird.
Das Selbstauflösungsrecht ist keine Lösung
Beide Defizite würden durch die Zusammenlegung von Europa- und Bundestagswahl nicht behoben. Im Gegenteil: Die Europawahl geriete noch stärker in den Sog der nationalen Politik und würde an eigenständiger Legitimationskraft sogar verlieren – trotz künstlich nach oben getriebener Wahlbeteiligung. Außerdem wäre der Vorschlag nicht zielführend, wenn er auf Deutschland beschränkt bliebe; eine verfassungspolitische Gleichschaltung der Wahltermine und -perioden aller 27 EU-Mitgliedsstaaten wäre aber weder machbar noch wünschenswert. Gelöst werden kann das Problem deshalb nur, wenn man es an der Wurzel packt: durch eine demokratische Weiterentwicklung des europäischen Institutionensystems. Es ist merkwürdig, dass dies von Reiche nicht gesehen oder für erwähnenswert erachtet wird.
Dem zweiten Vorschlag, ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages mit qualifizierter Mehrheit einzuführen, lässt sich da schon mehr abgewinnen. Der für sich genommen zutreffende Hinweis auf die positiven Erfahrungen, die man mit diesem Instrument in den Bundesländern gemacht hat, darf aber einen wichtigen Unterschied zwischen Bundes- und Landesebene nicht übersehen: Würde man das Selbstauflösungsrecht auch im Grundgesetz einführen, dann wäre der Bundespräsident um eine der wenigen exekutiven Reservebefugnisse ärmer, die ihm laut Verfassung noch zustehen. Nicht von ungefähr ist das Selbstauflösungsrecht auf der nationalen Ebene kaum verbreitet (in Europa existiert es zum Beispiel nur in Litauen, Österreich, Polen und Ungarn), zumal ihm auch andere Gesichtspunkte entgegenstehen: Einerseits könnte eine an sich notwendige Auflösung an der Höhe des Quorums scheitern, andererseits eine vermeidbare Auflösung dennoch betrieben werden, weil sich das Parlament für den bequemeren Weg entscheidet. In der Summe sprechen insofern mehr Argumente gegen als für einen solchen Schritt.
Während das Selbstauflösungsrecht zumindest diskutabel ist, muss Steffen Reiches drittem Vorschlag – die Legislaturperiode im Bund um ein Jahr zu verlängern – entschieden widersprochen werden. Auch hier sind die vom Autor gezogenen Parallelen nur zu einem Teil zutreffend. So bleiben die Staaten mit einer fünfjährigen Periode auf der nationalen Ebene europaweit nach wie vor deutlich in der Minderheit. Bei den meisten von diesen Staaten handelt es sich überdies um so genannte semi-präsidentielle Systeme, in denen neben dem Parlament auch das Staatsoberhaupt direkt gewählt wird und als Teil der Exekutive über handfeste politische Kompetenzen verfügt (etwa in Polen oder Frankreich).
Effizienz durch längere Legislaturperioden?
Steffen Reiches Hinweis auf die angeblich guten Erfahrungen, die man mit der Verlängerung der Legislaturperiode in den Bundesländern gemacht hat, geht ebenfalls an der Sache vorbei. In den Ländern hatte ja keineswegs das Ziel einer verbesserten Regierungseffizienz Pate gestanden. Die Verlängerung der Legislaturperiode war im Gegenteil die resignative Konsequenz aus der Tatsache, dass die Landespolitik mangels relevanter gesetzgeberischer Kompetenzen eher zu wenig ausgelastet war und gerade nicht unter hohem Handlungsdruck litt.
Darüber hinaus muss die Reform im Zusammenhang mit der etwa zeitgleich erfolgten Einführung und Ausweitung plebiszitärer Beteiligungsformen in den Ländern gesehen werden. In Reiches Vorschlag ist ein solcher Ausgleich für die entdemokratisierend wirkende verlängerte Wahlperiode bezeichnenderweise nicht enthalten. Dies ist umso bedauerlicher, als direktdemokratische Elemente auch unter Regierungsgesichtspunkten ein durchaus geeignetes Mittel sein könnten, um die Bürger wieder näher an die repräsentativen Institutionen heranzuführen.
Unausgegorene Konzepte allenthalben
Steffen Reiches untaugliche Vorschläge fügen sich ein in eine lange Reihe ähnlich unausgegorener Reformkonzepte, die der interessierten Öffentlichkeit seit einigen Jahren namentlich von der journalistischen Zunft unterbreitet werden. Gemeinsamer Kern dieser Vorschläge ist die Forderung nach Verbesserung oder Wiederherstellung der politischen Entscheidungseffizienz, die durch den überbordenden Konsensualismus im deutschen Regierungssystem angeblich gefährdet werde. In den Kreis der Vetospieler wird dabei ausdrücklich auch das Wahlvolk einbezogen, das zur Besitzstandswahrung neige und notwendige Veränderungen blockiere.
Die Forderung nach „Entkomplizierung“, die dieser Diagnose zugrunde liegt, ist vor dem Hintergrund der unüberschaubar gewordenen Regierungsverhältnisse gewiss nachvollziehbar, hilft aber zur Lösung unserer schwierigen Probleme nicht weiter. Bei aller Notwendigkeit institutioneller Fantasie sollten sich deshalb gerade Sozialdemokraten hüten, mit leichtfertig dahin geworfenen Reformideen Erwartungen zu wecken, die der Verfassungswirklichkeit in keiner Weise entsprechen.