Verständnis oder Entfremdung
In der Politik müssen schwierige ethische Abwägungen getroffen werden, bei denen religiöse Überzeugungen und Prägungen eine wichtige Rolle spielen. So wird das transatlantische Verhältnis zwar auch in Zukunft von außen- und sicherheitspolitischen Gemeinsamkeiten abhängen. Doch ebenso wichtig wird es sein, wie wir mit der großen transatlantischen Kluft in religiösen und moralischen Fragen umgehen, die bereits eine einzige kleine Statistik deutlich macht: 66 Prozent aller Amerikaner zweifeln nicht an der Existenz Gottes; nur 5 Prozent bezeichnen sich als Atheisten; jeder zweite zählt sich zu den „wiedergeborenen Christen; und fast 60 Prozent glauben an den Zusammenhang zwischen Apokalypse und Apotheose, wie er in der Offenbarung des Johannes-Evangeliums beschrieben wird. Das sind Zahlen, über die Europäer nur staunen können.
Leider fehlen auf beiden Seiten des Atlantiks häufig das Wissen und die Bereitschaft, sich in die Denkmuster der jeweils anderen Seite einzufühlen. Die kulturellen und religiösen Differenzen drohen daher zu einer Entfremdung zu führen. Nur wenn wir uns um Verständnis bemühen – was keineswegs Einverständnis bedeutet –, erhalten wir uns eine gemeinsame Diskussionsgrundlage.
Viele europäische Intellektuelle tun die religiösen Überzeugungen der Amerikaner herablassend als Überreste vorwissenschaftlichen Denkens ab. Sie gehen davon aus, dass zwischen Modernisierung und Säkularisierung ein unauflösbarer Zusammenhang besteht – eine These, die global gesehen aber nicht haltbar ist. Auch unterschätzen die Europäer eine wichtige Komponente der amerikanischen Gesellschaft, nämlich den Einfluss der evangelikalen Rechten, deren Anhänger die Bibel beim Wort nehmen und die Erkenntnisse der historisch-kritischen Wissenschaften weitgehend ignorieren. Die Religiös-Konservativen finden vor allem im Süden der Vereinigten Staaten große Unterstützung und sind ein wichtiger politischer Faktor geworden. Laut einer Studie des Pew-Instituts ist der Anteil der Evangelikalen an den Wählerstimmen von rund 19 Prozent im Jahr 1987 auf 24 Prozent im Jahr 2006 angestiegen, wobei von ihnen 75 Prozent die Republikaner wählten, ebenso wie 52 Prozent der Katholiken und 64 Prozent derjenigen Wähler, die wöchentlich einen Gottesdienst besuchen.
Is God dead in Europe?
Viele Amerikaner sind besorgt über den moralischen Zerfall ihrer Gesellschaft und empfinden den Einfluss von Religion daher als positiv. Religiosität, so glauben sie, bewege Menschen dazu, ein besseres Leben zu führen, Ehrenämter zu übernehmen, Wohltätigkeitsarbeit zu leisten, bessere Eltern zu werden, weniger kriminell und materialistisch zu sein. Dazu passt, dass ein Autor der USA Today Anfang 2006 unter der Überschrift „Is God dead in Europe?“ den angeblichen Abstieg Europas, den dortigen moralischen Verfall und die sinkenden europäischen Geburtenraten unmittelbar mit der abnehmenden Religiosität der Europäer in Verbindung brachte. Es irren also beide Seiten: Die Europäer, die Modernisierung nur zusammen mit Säkularisierung denken, und die Amerikaner, die einen direkten Zusammenhang zwischen Religiosität und moralischem Verhalten unterstellen.
Der Einfluss der religiösen Rechten in den Vereinigten Staaten erklärt, warum Präsident Bush in Politik und Rhetorik die Erwartungen der Evangelikalen nicht enttäuschen will. Als „wiedergeborener Christ“ führt er Themen wie das Sexualverhalten von Jugendlichen und Erwachsenen in die politische Debatte ein und unterscheidet in seinen Reden zwischen den klaren Alternativen „Gut“ und „Böse“. Dass Politiker sich auf religiöse Überzeugungen berufen, befremdet viele Europäer. Die meisten Amerikaner empfinden das als völlig normal. Sie haben jedoch Vorbehalte, wenn sich Kirchen zu politischen Fragen äußern – was wiederum für mehr als die Hälfte aller Deutschen vollkommen akzeptabel ist.
Anders als in Amerika existiert in Deutschland keine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat. Schon die Präambel des deutschen Grundgesetzes enthält einen Gottesbezug. Die Religionsgemeinschaften sind Körperschaften des öffentlichen Rechts, dürfen laut Verfassung Steuern erheben und haben einen Rechtsanspruch auf Sendezeiten im öffentlichen Rundfunk und Fernsehen. Der Staat finanziert die Militärseelsorge. All dies wäre in den Vereinigten Staaten undenkbar.
Religion an öffentlichen Schulen
Diese unterschiedlichen Traditionen werden auch beim Thema Religionsunterricht in Schulen deutlich. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten ist Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Deutschland weit verbreitet. Wir sehen darin keine Verletzung der Neutralität des Staates gegenüber den unterschiedlichen Religionen, wie sie das Grundgesetz gebietet. Konsequenterweise bieten öffentliche Schulen deshalb zunehmend islamischen Religionsunterricht an. Das Land Niedersachsen bildet heute bereits Lehrer aus, die später an staatlichen Schulen Islamunterricht auf Deutsch erteilen sollen.
Als die rot-rote Landesregierung in Berlin entschied, einen verbindlichen Ethikunterricht an den Schulen einzuführen und den Religionsunterricht auf freiwillige Basis zu stellen, protestierten nicht nur die Berliner Oppositionsparteien, sondern auch führende SPD-Politiker. Ebenso wie 56 Prozent der Berliner sprachen sie sich für die freie Wahlmöglichkeit zwischen den Pflichtfächern Ethik und Religion aus. In den Vereinigten Staaten dagegen fordert nur eine religiöse Minderheit den Religionsunterricht an staatlichen Schulen. Die Mehrheit der Amerikaner sieht darin einen Verstoß gegen die Trennung von Staat und Kirche.
Auch deshalb werden kirchliche Bildungseinrichtungen in den Vereinigten Staaten kaum staatlich unterstützt. Anders in Deutschland: In Berlin zum Beispiel werden 90 Prozent der Kosten der katholischen, evangelischen und jüdischen Schulen aus Steuermitteln getragen, sofern sie gewisse Landesvorschriften erfüllen. Die Zahl dieser religiösen Schulen nimmt sogar zu. Zudem hat Berlin im vergangenen Jahr etliche Kindergärten privatisiert und an religiöse Organisationen übertragen.
Kurzum: Obwohl Religiösität in Deutschland keine große gesellschaftliche Rolle spielt, geht die bundesdeutsche Wirklichkeit beim Verhältnis zwischen Religion und Staat weit über das hinaus, was Teile der religiösen Rechten in den Vereinigten Staaten vom Staat an Unterstützung fordern.
Doch die religiösen Landschaften auf beiden Seiten des Atlantiks wandeln sich. In den meisten europäischen Ländern nimmt die Bindung an christliche Kirchen und Glaubensinhalte ab, was sich auch in der sinkenden Zahl der Gottesdienstbesucher widerspiegelt. Dieser Prozess der Entkirchlichung ist regional allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt. Während im Westen rund 76 Prozent der Bürger einer der beiden christlichen Kirchen angehören, sind es auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nur noch rund 28 Prozent.
Die meisten Amerikaner beten täglich
Neuere Daten deuten zudem darauf hin, dass die Entkirchlichung in Deutschland abklingt. Eine Umkehr dieses Trends ist nicht ausgeschlossen. Der Anteil der Deutschen, die ihre religiöse Überzeugung für sehr wesentlich halten, ist seit 1986 von 22 auf 27 Prozent gestiegen, in Ostdeutschland stieg er seit 1993 sogar von 14 auf 23 Prozent. Und laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach aus dem Jahr 2006 ist ein Viertel aller Eltern der Meinung, ihre Kinder sollten im Elternhaus eine feste religiöse Bindung erwerben. Im Jahr 1991 waren erst 13 Prozent dieser Meinung.
Die Vereinigten Staaten sind im Vergleich dazu ein Land der Gläubigen. Rund 43 Prozent aller Amerikaner besuchen wöchentlich eine Kirche, Synagoge oder Moschee. Die Mehrheit der Amerikaner betet täglich, weniger als 5 Prozent beten nie. Mehr als jeder dritte Amerikaner ist Kreationist, glaubt also an die Erschaffung der Welt in nur sieben Tagen, so wie sie in der biblischen Schöpfungsgeschichte beschrieben wird. In Europa hingegen dominiert eine Theologie, die sich als Schwester der Philosophie versteht und den Glauben nicht in Widerspruch zur Aufklärung und zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen sieht.
Der Markt der Religionen ist in Bewegung
Doch auch in den Vereinigten Staaten ist die religiöse Landschaft in Bewegung. Der amerikanische Markt der Religionen trägt fast marktwirtschaftliche Züge, wobei gerade fundamentalistische Gemeinden den größten Zulauf haben. Immer mehr Amerikaner sind bereit, ihre religiöse Zugehörigkeit zu wechseln. Konnten sich dem Meinungsforschungsinstitut Gallup zufolge im Jahr 1955 nur 4 Prozent der Amerikaner vorstellen, die religiöse Ausrichtung ihrer Kindheit zu ändern, war bereits in den achtziger Jahren ein Drittel aller Amerikaner zu anderen Kirchen und Gemeinden übergetreten. Zudem gehört etwa ein Drittel der ursprünglich katholischen Hispanics heute protestantischen Gemeinden an. Überproportional viele sind evangelikalen Gruppen beigetreten.
Ferner stellt die Einwanderung aus islamischen Ländern die Vereinigten Staaten und Europa vor neue Herausforderungen. Dabei ist offen, wie stark sich die Gesellschaften auf beiden Seiten des Atlantiks verändern werden und wie sie auf die Herausforderung am besten reagieren sollen. Wie kontrovers dieses Thema ist, zeigt allein die Tatsache, dass die deutschen Bundesländer beim Thema islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen vollkommen unterschiedliche Wege gehen. Aufgrund verschiedener Traditionen werden sich die Antworten auf beiden Seiten des Atlantiks unterscheiden. Trotzdem sollten wir mehr als bisher bereit sein, in religiös-kulturellen Fragen von den Erfahrungen der jeweils anderen Seite zu lernen.
Dies gilt umso mehr, als religiöse Fragen auch außenpolitisch an Bedeutung gewinnen werden. Die weite Verbreitung antiwestlicher und anti-amerikanischer Stimmungen in zahlreichen muslimischen Ländern beunruhigt Europäer und Amerikaner gleichermaßen. Diese Tendenzen sind keinesweg nur ein irrationaler Ausdruck öko- nomischer Probleme in der islamischen Welt, sondern kulturell stark aufgeladen. Nicht von ungefähr berufen sich zahlreiche terroristische Gruppen auf den Islam, um ihre Gewalt ideologisch zu legitimieren.
Unterschiedliche Sichtweisen und Methoden
Weltweit treten Amerikaner und Europäer gemeinsam für mehr Demokratie, mehr Rechtsstaatlichkeit und einen besseren Schutz der Menschenrechte ein. Im Nahen und Mittleren Osten arbeiten sie im Rahmen verschiedener Initiativen zusammen. Trotz gemeinsamer Ziele unterscheiden sie sich in ihren Sichtweisen und Methoden. Historisch haben die Amerikaner nie die Erfahrung gemacht, dass religiöse Überzeugungen und Gruppierungen eine Gefahr für ihre Demokratie darstellen könnten. Deshalb neigen sie dazu, ihre positiven Erfahrungen auf die islamische Welt zu projezieren. Eine Gefahr für die Demokratie sehen sie nicht in religiösen Traditionen, sondern in Tyranneien, autoritären politischen Führungen und undemokratischen Institutionen, die sich mit militärischer Gewalt relativ schnell beseitigen lassen. Zudem gehen viele Amerikaner davon aus, dass in der Natur des Menschen ein Streben nach Freiheit und Demokratie angelegt ist.
Europas skeptische Sicht auf den Menschen
Europäer neigen zu einer skeptischeren Sicht auf das Wesen des Menschen, weil sie andere Erfahrungen gemacht haben. Auch in Europa lebten zahlreiche Christen und Juden, die sich aktiv gegen Diktatur und für Demokratie und Menschenrechte einsetzten. In zahlreichen europäischen Ländern aber stellten die dominierenden religiösen Traditionen und Institutionen lange Zeit ein Hindernis für die Demokratisierung dar. Es bedurfte einer Neudefinition der politischen Kultur durch die Kirchen selbst, bevor sie verlässliche und aktive Stützen einer demokratischen Entwicklung wurden. In einigen europäischen Staaten dauerte dieser Prozess bis in das 20. Jahrhundert hinein an. Eine solche positive Neudefinition der religiösen Traditionen hat sich noch lange nicht in allen islamischen Gesellschaften durchgesetzt. Sie braucht Zeit. Die meisten Europäer glauben nicht, dass sich dieser geistige und religiöse Reformprozess in der islamischen Welt mit militärischer Gewalt beschleunigen lässt.
Spätestens der 11. September 2001 hat deutlich gemacht, dass wir gute und stabile transatlantische Beziehungen nicht einfach als gegeben hinnehmen dürfen. Auf beiden Seiten des Atlantiks dominieren gemeinsame Interessen, Werte, politische und religiöse Traditionen. Zugleich bestehen Unterschiede, über die wir uns im Klaren sein müssen. Denn angesichts sich verändernder Gesellschaftsstrukturen und neuer außenpolitischer Herausforderungen ist es unverzichtbar, weiterhin Verständnis füreinander aufzubringen sowie Vorurteilen und Stereotypen entgegenzuwirken. Dies gilt nicht nur, aber besonders im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Religion und Politik.