Verteilung und Chancen



Im Jahre 2003, als die Agenda 2010 noch jung war, Wolfgang Clement Arbeits- und Wirtschaftsminister und Olaf Scholz SPD-Generalsekretär, gab es eine wichtige Debatte über das Verhältnis von Verteilungsgerechtigkeit und Chancengleichheit. Die Modernisierer in der Bundesregierung waren davon überzeugt, dass das traditionelle sozialdemokratische Ziel der Verteilungsgerechtigkeit überholt sei und in Zukunft Chancengleichheit seinen Platz einnehmen müsse. Zugang zu Bildung, Teilnahme am öffentlichen und kulturellen Leben sei für Kinder wichtig, damit sie ihre Fähigkeiten entfalten können. Die soziale Durchlässigkeit einer Gesellschaft werde weniger durch die möglichst gerechte Verteilung der Einkommen erreicht als durch gleiche Startbedingungen für alle. New Labour machte es vor: „Wir sind sehr entspannt in der Frage, wenn Leute unanständig reich werden“, sagte Peter Mandelson zum Thema Verteilungsgerechtigkeit.

Heute, nur fünf Jahre später, steht die Verteilungsgerechtigkeit weit oben auf der politischen Agenda. Fast alle industrialisierten Länder haben mit zunehmenden Schieflagen in der Einkommensverteilung zu kämpfen. In Deutschland alarmieren immer neue Berichte über den rasanten Zuwachs an armen Haushalten, die weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens beziehen. Neuere Daten der EU-Kommission zeigen, dass Deutschland inzwischen den höchsten Anteil von Beschäftigten in Armut in Europa aufweist. Wir sind mittlerweile Spitzenreiter bei den working poor.

Der Denkfehler in der Debatte um Verteilungsgerechtigkeit und Chancengleichheit liegt darin, dass beides eng miteinander verknüpft ist. Chancengleichheit setzt ein Mindesteinkommen und die Vermeidung von Armut voraus. Armut wiederum ist eng geknüpft an Verteilungsgerechtigkeit. Zunehmende Ungleichheit beschneidet Chancengleichheit.

Das zeigen die jüngsten Entwicklungen bei den Geringverdienern. Die steigende Zahl von Niedriglohnbeziehern ist nicht wirklich überraschend, da mit den Zuverdienstmöglichkeiten beim Arbeitslosengeld II eine Form des Kombilohns eingeführt wurde, ohne eine Mindestlohngrenze einzuziehen. Für viele Geringqualifizierte und ihre Arbeitgeber ergibt eine Kombination aus sehr niedrigen Löhnen, wenigen Arbeitsstunden und gleichzeitigem Transfereinkommen ein sinnvolles Paket. Auf diese Weise bringt man viele Menschen in Arbeit – wenn auch zum Preis der Subventionierung durch den Steuerzahler.

Gefangen in der Niedriglohnfalle

Das eigentliche Problem dieser Konstruktion ist jedoch, dass nur wenige Betroffene die Chance haben, aus der Niedriglohnfalle herauszukommen. Denn in Deutschland liegt die Abgabenquote für Geringverdiener in Vollzeitbeschäftigung bei 36 Prozent –der mit Abstand höchste Wert innerhalb der OECD-Staaten. Genau deshalb ist es für viele Geringqualifizierte nahezu unmöglich, von einem Kombi-Einkommen mit hohem Transferbezug zu einem ausreichenden Nettoeinkommen ohne Transfer zu wechseln. Hinzu kommt: Solange jemand Transferleistungen bezieht, hat er kaum legale Möglichkeiten, ein eigenes Vermögen aufzubauen.

In der Folge verfestigen sich Transferbezugskarrieren – wie früher bei den berühmten Sozialhilfebeziehern in der dritten Generation. Doch im Unterschied zu damals gibt es heute viel mehr Betroffene. Für deren Kinder sieht es mit der Chancengleichheit schlecht aus. Kinder armer Familien sind von der Armut geprägt, selbst wenn sich die schulische und frühkindliche Betreuung und Versorgung deutlich verbessern.

Weniger Armut bedeutet mehr Chancengleichheit. Das eine gegen das andere auszuspielen ist falsch – damals wie heute.

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