Vom Modell Deutschland zum politischen Raum Europa



Die Arbeit der SPD an einem neuen Grundsatzprogramm ist unverzichtbar. Wer die gesellschaftlichen Umbrüche in Deutschland, Europa und im globalen Rahmen begleiten und mitgestalten will, muss sie in zeitgemäße Begriffe fassen. Eine zeitgemäße Bestimmung der Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität könnte die gemeinsamen Wurzeln von Sozialdemokratie und Gewerkschaften stärken.

Wir befinden uns auf dem Weg in eine Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, die auf dem Fundament einer starken und innovativen Industrie stehen wird. Damit verbunden sind neue Herausforderungen, die wir nicht mehr mit den Mitteln der Industriegesellschaft angehen können. Doch nicht alles muss über Bord geworfen werden. Für den Übergang in die industrielle Wissensgesellschaft sollten wir das Gestaltungspotenzial und die Erfahrungen von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Betriebsräten in Deutschland nutzen, um Wohlstand, Beschäftigung und soziale Gerechtigkeit zu erhalten.

Die soziale Marktwirtschaft als ein zentrales Element des Modells Deutschland muss das Ziel haben, den Wohlstand zu sichern und eine wachsende Zahl von Menschen daran zu beteiligen. Günter Verheugen hat völlig Recht: „Die Schlüsselfrage für die Zukunft unserer Industrien ist die Fähigkeit zur Innovation.“ Ins Zentrum der Wirtschaftspolitik gehören deshalb Innovationen in der Industrie und im Dienstleistungssektor.

Viele innovative Produkte und Dienstleistungen können das Leben einfacher und angenehmer machen. Innovationen brauchen aber eine gegenüber Neuerungen aufgeschlossene Gesellschaft. Wir könnten im Bereich Bio- und Gentechnologie weltweit Schrittmacher sein. Unser Gentechnikgesetz wird jedoch bis heute dem Anspruch nicht gerecht, Innovationen zu fördern. Obwohl Ver-braucher neueren Umfragen zufolge gentechnisch veränderte Lebensmittel nicht mehr grundsätzlich ablehnen.

Unterstützung für die grüne Gentechnik

Gewiss, über die Skepsis der Bürger kann man sich nicht einfach hinwegsetzen. Aber widerspruchslos sollten wir die Vorbehalte gegen basistechnologische Entwicklungen nicht hinnehmen. Wenn wir verantwortungsvoll handeln, können wir die Chancen der Bio- und Gentechnologie nutzen. Die jetzige Bundesregierung, aber auch jede weitere, muss die grüne Gentechnik stärker unterstützen.

In der industriellen Wissensgesellschaft werden Bildung und Qualifikationen wichtiger. Eine Politik der Innovationen muss von angemessenen Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur begleitet werden, doch davon sind wir gegenwärtig noch ein gutes Stück entfernt. Wir brauchen eine Offensive für Bildung auf der Grundlage eines umfassenden Bildungsverständnisses.

Die Menschen sollen nicht nur die grundlegenden Kulturtechniken beherrschen, sondern auch selbständig mit kritischen Situationen umgehen können. Das wäre ein Schritt zu mehr Freiheit. Zu den Kernkompetenzen zählt zudem, zum gemeinsamen Handeln fähig zu sein. Damit Freiheit und Solidarität nicht zu einem Privileg werden, muss es sozial gerechte Bildungszugänge geben.

Kein Fortschritt ohne Stromversorgung

Selbstverständlich muss diese Bildungsoffensive finanzierbar sein. Deshalb müssen wir über eine neue „Finanzarchitektur des Sozialstaates“ nachdenken. Möglich wäre es zudem, den Bürgerstatus gegenüber dem Erwerbsstatus aufzuwerten. Dieser Gedanke muss durch überzeugende operative Lösungen noch an Überzeugungskraft gewinnen.

Die Grundlage des gesellschaftlichen Fortschritts in unserem Land ist eine sichere Stromversorgung. Besonders die geopolitische Dimension der Energiepolitik wurde lange unterschätzt. Die deutsche Gesellschaft muss sich über die Sicherung ihrer Energiegrundlagen mehr Klarheit verschaffen.

Die Versorgungssicherheit muss der Staat gewährleisten, wir dürfen diese Aufgabe nicht den Märkten überlassen. Weil für die SPD der Ausstieg aus der Atomkraft derzeit unverzichtbar ist, denkt sie über einen „neuen Energiemix“ aus Energieeinsparung, Energieeffizienz, der intelligenten Nutzung von Kohle und Gas und Erneuerbaren Energien nach. Jedoch hat der G8-Gipfel in Sankt Petersburg gezeigt, dass ein internationaler Konsens für einen Ausstieg in Frage gestellt ist. Deshalb wäre es klug, sich die Option für eine Fortentwicklung der Kernkrafttechnologie offen zu halten.

Soziale Sicherheit zu garantieren ist zu einer wachsenden politischen Herausforderung geworden. Wirtschaftliches Wachstum führt nicht mehr automatisch zu einem hohen Beschäftigungsstand und zu Beschäftigungssicherheit. Auch der Staat kann keine absoluten Sicherheiten bieten. Die Gewerkschaften können einen Beitrag dazu leisten, wenn sie mit Hilfe einer modernen Tarifpolitik Standorte sicherer machen und durch die betriebliche Weiterbildung Arbeitnehmer in die Lage versetzen, wachsende Arbeitsanforderungen besser zu erfüllen.

Deshalb ist es durchaus diskussionswürdig, wenn ein „vorsorgender Sozialstaat“ stärker als bisher soziale Risiken wie Arbeitslosigkeit, Bildungsmängel und Krankheiten schon in ihrer Entstehung vereiteln will, indem er die Handlungsmöglichkeiten der Menschen stärkt und ihre Mithilfe fördert.

Flexibilität braucht Sicherheit

Dabei müssen mehrere Klippen umschifft werden. So dürfen die Risiken nicht einseitig zu Lasten der Arbeitnehmer gehen. Wer mehr Flexibilität verlangt, muss neue Sicherheiten bieten. Ein Aufweichen des Kündigungsschutzes steht allerdings im krassen Widerspruch zu diesem Ansatz. Zudem müssen wir weiterhin schnelle, effektive Hilfe in Notlagen ermöglichen. Menschen werden immer in kritische Situationen geraten, die sich durch Prävention nicht vermeiden lassen.

Die Vorsorge und die Unterstützung in Notlagen müssen einander ergänzen. Dabei verlangt das Vorsorgeprinzip in der Praxis klare Verhaltensnormen. Wer beispielsweise das lebenslange Lernen propagiert, weckt damit Erwartungen an eine dauerhafte Weiterqualifizierung für alle. Solche Maßnahmen dürfen aber nicht zu einem sozialen Abstieg derjenigen führen, die zu den Risikogruppen auf dem Arbeitsmarkt gehören.

Wir müssen Europa zu einem politischen Raum ausgestalten. Die anhaltende Stagnation im europäischen Verfassungsprozess zeigt allerdings, dass es hier viele Hürden gibt. Einige Erfahrungen könnten weiterhelfen, die nicht aus dem Bereich der Europapolitik im engeren Sinne stammen. So haben die Tarifparteien eine Europäische Bildungspolitik auf den Weg gebracht: Die Europäische Föderation der Bergbau-, Chemie- und Energiegewerkschaften (EMCEF) hat sich im Jahr 2004 mit dem Chemiearbeitgeberverband (ECEG) auf eine gemeinsame Initiative für Bildung, berufliche Ausbildung und lebenslanges Lernen verständigt.

Europäische Projekte mit klarem Nutzen

Ein weiteres MBeispiel ist die nationale Task Force „Pharma“. Sie hat beschrieben, warum eine Strukturreform im Gesundheitswesen und der Ausbau der medizinischen und pharmakologischen Spitzenforschung notwendig sind. Diese Initiative könnte zum Ausgangspunkt einer europäischen Pharmapolitik werden – mit dem Ziel, die europäische Pharmaindustrie im Wettbewerb mit der leistungsstarken amerikanischen Pharmaindustrie zu unterstützen.

Die Europäisierung braucht solche Projekte, die einen klaren politischen Nutzen haben. Industriepolitik muss national fundiert sein und dann europäisch erweitert werden. Dies kann übrigens auch dazu beitragen, Europaskeptiker vom Gegenteil zu überzeugen.

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