Wachstumswahn und Wachstumswahrheit

Je mehr die Basisbedürfnisse einer Gesellschaft erfüllt sind, desto mehr definiert sich Wachstum als Verbesserung der Lebensqualität. Das einzig relevante Maß, an dem wir unser wirtschaftschaftliches Tun messen sollten, ist das Wohlergehen des Individuums, der Gruppe und der gesamten Gesellschaft

Wirtschaftswachstum ist eine Frage der Chancen, die Lebensqualität zu verbessern. Anders als viele Leute glauben, äußert es sich nicht im Ansammeln von immer mehr Gütern. Vielmehr vergrößert es, richtig verstanden, die Wahlmöglichkeiten, die Bürger und Konsumenten besitzen: Wachstum verbessert Technologien und bringt Innovationen hervor. Das ist zwar keine wirklich neue Idee; Ökonomen haben Wirtschaftswachstum schon immer so interpretiert. Jedoch haben sie und die amtlichen Wirtschaftsstatistiker oft den Eindruck erweckt, als wäre ein größeres Sozialprodukt allein bereits Ausweis von Fortschritt und Erfolg.

In Westeuropa konsumieren wir schon lange nicht mehr einfach nur „mehr“. Es geht uns nicht darum, einen Fernseher zu haben (oder zwei oder drei), sondern einen 26-Zoll-Flachbildschirm. Wir wollen nicht einfach Tomaten kaufen, sondern sonnengereifte Biotomaten vom lokalen Ökobauern. Wir tragen lieber Kaschmir als Acryl und fahren lieber ein deutsches Markenauto mit vielen Airbags als einen indischen Kleinwagen. Kurz: Je mehr die Basisbedürfnisse einer Gesellschaft bereits erfüllt sind, desto mehr definiert sich Wirtschaftswachstum als Verbesserung der Lebensqualität. In diesem Sinne ist eine Debatte über die Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums überflüssig. Warum sollte es eine – natürliche oder künstliche – Grenze für Lebensqualität geben? Und wo sollte sie liegen?

Wer in jüngerer Zeit in Großbritannien war, wird festgestellt haben, dass man dort inzwischen ganz gut essen kann. Und das nicht nur in den vom Guide Michelin  ausgezeichneten Restaurants. Der Wandel der Ernährungsgewohnheiten zeigt, worum es beim Wachstum geht: In Großbritannien sind die realen Ausgaben für Nahrung in den vergangenen drei Jahrzehnten um ein Viertel gestiegen. Von der geschmacklichen Verbesserung der britischen Küche einmal abgesehen, ist über die gleiche Zeitspanne der Kaloriengehalt des Essens um rund 20 Prozent gesunken. Vor 100 Jahren wäre es unvorstellbar gewesen: Übergewicht ist heute eine „Krankheit“ der Armen, nicht der Reichen.


Ähnliche Beobachtungen können bei anderen Konsumgütern gemacht werden – Kleidung, Immobilien, Autos. Im Laufe unserer wirtschaftlichen Entwicklung konsumieren wir „besser“, nicht „mehr“. Interessante Unterschiede bestehen dabei zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. In den USA ist man weiterhin eher bereit, Wirtschaftswachstum in mehr Konsum umzusetzen. Wenn sie zum Beispiel ein Auto kaufen, ziehen Amerikaner die in den USA (oder Mexiko) gefertigte Spritschleuder noch immer dem japanischen oder europäischen Wagen vor. Erst seit etwa zehn Jahren lässt sich ein Trend hin zu kleineren, effizienteren Autos erkennen.

Wie können wir Lebensqualität messen?

Sicher, Wohlergehen zu messen ist eine Herausforderung. Wir wissen zwar, dass Lebensqualität nicht mit dem Bruttosozialprodukt gleichzusetzen ist. Doch während das Sozialprodukt eben recht exakt messbar ist, entzieht sich die Lebensqualität dieser praktischen Arithmetik. Aber schon alltägliche Erfahrungen legen den Schluss nahe, dass Lebensqualität keine Funktion allein materiellen Reichtums ist. Das beweisen zum Beispiel unsere Einstellungen zur Umwelt, und zwar nicht nur zu Klimaschutz und Recycling. Denken wir nur an die visuelle und soziale Umwelt, in der wir uns jeden Tag aufhalten: Eine plakatfreie Straße, ein von Starkstrommasten ungestörter Horizont, öffentliche Gebäude, die uns nicht in Depressionen versinken lassen und eine Gemeinschaft, in der Bildung und Kunst um ihrer selbst Willen und nicht wegen ihres Beitrags zum Bruttosozialprodukt anerkannt werden – all das sind Dinge, die wir schätzen und für die wir gewillt sind zu arbeiten.

Lebensqualität dem Materialismus vorzuziehen, heißt auch zu erkennen, dass „Wirtschaften“ nicht gleich oder hauptsächlich „Geld machen“ bedeutet. Unternehmen existieren, um Güter und Dienste zur Verfügung zu stellen, die Menschen begehren und brauchen. Verfolgen Unternehmen andere Ziele, haben sie keine Existenzgrundlage. Gute Unternehmen zeichnen sich durch ein gutes Arbeitsumfeld aus und fördern Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit ihrer Mitarbeiter, Zulieferer und Kunden.

Außerdem gehört zum Prinzip „Lebensqualität statt Materialismus“ die Erkenntnis, dass ein zunehmender Teil des Wirtschaftswachstums aus Freizeit besteht. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden weltweit, und speziell in Europa und den Vereinigten Staaten, kontinuierlich gesunken. Und während die Westeuropäer im Jahr 1970 durchschnittlich noch längere Arbeitszeiten hatten als die Amerikaner – die Westdeutschen knapp 50 Stunden mehr im Jahr, die Franzosen gut 180 Stunden mehr –, leisten sie heute 15 Prozent weniger Arbeitsstunden als die Amerikaner. Die Arbeitswoche ist kürzer geworden und der Urlaub länger. Die Menschen gehen früher in Rente und der Anteil älterer Arbeitnehmer in Vollzeitjobs hat in den vergangenen vier Jahrzehnten stetig abgenommen.

Diese Entwicklungen werden oft als Probleme gesehen. Aus welchen Gründen ist nicht ganz geklärt. Wie gesagt: Im wohlverstandenen Sinne vergrößert Wirtschaftswachstum die Wahlmöglichkeiten, die Menschen haben. Deshalb ist es in Ordnung, wenn wir uns für mehr Freizeit entscheiden – vorausgesetzt, die Entscheidung ist freiwillig zustande gekommen. Sichergestellt werden muss nur, dass jeder wirklich die Wahl hat und sich über deren Konsequenzen im Klaren ist. Wer arbeiten will, soll arbeiten können. Menschen im arbeitsfähigen Alter müssen Jobs finden können. Niemand sollte verrentet werden, nur weil er oder sie ein gewisses Alter erreicht hat. Doch ob wir es wollen oder nicht: Ein erklecklicher Anteil des europäischen Wirtschaftswachstums der kommenden Jahrzehnte wird dazu dienen, Menschen zu ermöglichen, weniger zu arbeiten – und sei es nur in der letzten Phase des Lebens.

Wirtschaftswachstum – also Lebensqualität – bezieht sich nicht zuletzt auf die Wertschätzung physischer und wirtschaftlicher Sicherheit. Die Expansion des Finanzsektors der vergangenen Jahre wurde gerne mit der Entwicklung ausgeklügelter Systeme der Risikominderung gerechtfertigt. Aber sind die täglichen Risiken des Normalbürgers wirklich reduziert worden? Schließlich sind die wichtigsten aller wirtschaftlichen Risiken unfreiwilliger Arbeitsverlust, der Zusammenbruch von Beziehungen, Krankheit und Alter. Risiken, die zu recht über soziale Institutionen abgedeckt werden und nicht durch Finanzderivate, die aus Geld Geld machen sollen. Über dem Börsenparkett von Bear Stearns in New York hing einmal ein Schild mit der Aufschrift „Let’s make nothing but money“. Hier ist eine klare Wahl getroffen worden. Die derzeitigen Entwicklungen in Deutschland und Frankreich sprechen dafür, dass dies nicht der Weg ist, den die meisten Europäer gehen wollen. Sicherheit setzt vor allem Solidarität voraus, nicht Eigennutz.

Wir müssen uns von der Idee verabschieden, dass es „da draußen“ ein Monster namens Wirtschaft gibt, das wir nicht nur besänftigen, sondern auch füttern müssen. Die Wirtschaft sind wir. Das Maß, das einzig relevante Maß, an dem wir unser wirtschaftliches Tun messen sollten, ist das Wohlergehen des Individuums, der Gruppe und der gesamten Gesellschaft. Zwischen dem Erfolg des Einzelnen und dem Gedeih oder Verderb der Wirtschaft gibt es keine Spannungen. Beides ist das Gleiche. «

zurück zur Ausgabe