Warnschüsse aus der Mitte
Nicht dass, sondern wie wir über „den Islam“ debattieren, ist entscheidend: Wir diskutieren das Thema entlang der Agenda und unter Rückgriff auf die Semantiken, die die Herausforderer der Parteiendemokratie uns diktiert haben. Stets schwingt der Verdacht des Islamismus mit. Jeder Moscheebau bringt die kritische Frage mit sich, was dort wohl gepredigt werde. Und jeden „Ehrenmord“ greift der Boulevard als weiteres Indiz dafür auf, dass „der Islam“ nicht zu Deutschland (oder zu Österreich oder der Schweiz) passe. Damit haben die Rechtspopulisten schon einen Erfolg erzielt.
In ihrer ideologischen Gesinnung und ihrem öffentlichen Auftreten unterscheiden sich die heutigen Rechtspopulisten von den Rassisten der neunziger Jahre. Der Franzose Jean-Marie Le Pen etwa darf als Vertreter jener „alten“ Generation gelten. Seine Tochter Marine führt die Partei Front National derzeit ein gutes Stück weg vom Antisemitismus und macht ihn damit vor allem für enttäuschte Sarkozy-Anhänger attraktiver. Der Holländer Geert Wilders setzt das Erfolgsmodell des ermordeten Pim Fortuyn fort und spielt die populistische Karte, ohne explizit Rassismen zu bedienen. Und die „Wahren Finnen“ spielen die Klaviatur aus Euro-Skepsis und Anti-Einwanderer-Positionen so erfolgreich, dass sie bei den Parlamentswahlen im April auf 19,1 Prozent kamen. Sie tun dies unter einem konservativen, nicht aber extremistischen, gar systemfeindlichen Label. Der zeitgenössische Populismus verortet sich selbst in der „Mitte der Gesellschaft“ und sucht die Errungenschaften der liberalen Demokratie gegen die vermeintliche Bedrohung durch den Islam und das (europäische) Establishment zu verteidigen.
Sarrazin ist ein Krisensymptom
Jener Populismus der Mitte findet in Deutschland Nachahmer. Noch sind rechtspopulistische Parteien auf Bundesebene erfolglos. Die von dem ehemaligen Berliner CDU-Abgeordneten René Stadtkewitz gegründete Partei „Die Freiheit“ hat bislang nicht für größeres Aufsehen sorgen können. Die aus der Partei „Pro Köln“ hervorgegangene „Pro-Bewegung“ hat sich zwar in der Rheinmetropole bei rund vier Prozent etablieren können, schaffte aber noch nicht einmal in Nordrhein-Westfalen den Sprung ins Parlament. Von den „Bürgern in Wut“, die bei der letzten Wahl in Bremen mehr Stimmen erhielten als die FDP, dürfte ebenfalls kein bundespolitischer Impuls ausgehen. Auch die rechtsextremistischen DVU und NPD bekommen, von ihrer ostdeutschen Enklave abgesehen, bundesweit bislang keinen Fuß in die Tür. Das mag mit dem spezifisch deutschen Diskurs zusammenhängen; rechtsextremistischen Gruppen wird hierzulande selten eine mediale Bühne geboten. Dennoch zeigen aktuelle Studien, dass die „Nachfrage“ nach Populismus und der Abgrenzung vom „Fremden“ existiert – und zwar quer durch die Lager der alten Volksparteien.
Uns begegnet eine Spielart des Populismus ohne Parteiorganisationen beziehungsweise quer durch diese hindurch – eng verwoben mit einer sehr erfolgreichen medialen Darstellung der Protagonisten. Der populistische Diskurs erstreckt sich von der Hartz-IV-Schelte Guido Westerwelles über die „Kritik der nehmenden Hand“ Peter Sloterdijks bis zu der wissenschaftlich verbrämten Demagogie Thilo Sarrazins. Die Selbstverortung in der vermeintlichen „Mitte“ – in Wirklichkeit eher taktische Behauptung als sozioökonomische Realität – ist ein entscheidendes Merkmal der neuen Populisten. Sie stoßen nicht von rechts in das politische System, sondern gerieren sich als Exponenten der bürgerlichen Mitte, als Verteidiger der liberalen Demokratie und als Sprachpfleger, die artikulieren, was sich sonst niemand zu sagen traue. Gegen den „Multikulti-Mainstream“ führen sie ein adornitisches Entfremdungsargument ins Feld. Andere Parteien denunzieren sie als verweichlichte Außenseiter, die es nicht wagten, die wahren Probleme zu benennen.
Thilo Sarrazins Anti-Islam-Agenda mag durch eine (vermeintlich) wissenschaftliche Sprache verklärt sein; die Ressentiments, die er bedient, sind dieselben, die Geert Wilders oder dem Österreicher HC Strache Wahlerfolge bescheren. Verstehen wir Populismus von der gesellschaftlichen Nachfrageseite aus, sind Sarrazin wie Wilders Ausdruck vergleichbarer gesellschaftlicher Krisensymptome, die sich als kultureller Chauvinismus und soziale Abstiegsangst Bahn brechen. Dennoch hinkt eine Gleichsetzung Thilo Sarrazins mit Geert Wilders. Ein bedeutender Unterschied besteht darin, dass Wilders den Islam aus kulturellen Gründen ablehnt und sich als Hüter der liberalen europäischen Demokratie stilisiert. Er beerbt darin den offen homosexuellen Pim Fortuyn, der den Islam von einer libertären Position aus angriff. Sarrazins Kritik hingegen basiert auf einer biologistischen Argumentation. Seine Gegner sind weniger die islamische Religionspraxis und deren gesellschaftliche Implikationen, sondern der Islam als vermeintlich genetisch manifeste Kultur. Wo Wilders argumentiert, seine Gegner seien „nicht die Muslime, sondern der Islam“, wo Wilders den Propheten Mohammed schrill kritisiert, pflegt Sarrazin den nüchternen Gestus der Wissenschaftlichkeit – und umgeht damit die antifaschistischen Barrieren, die den öffentlichen Diskurs in der Bundesrepublik aus gutem Grund prägen. Gleichzeitig erinnert seine Wortwahl – hier sei nur auf die „Produktion von Kopftuchmädchen“ verwiesen, vor der er warnte – an die verdinglichte Sprache, der sich die Rassentheoretiker und Eugeniker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bedienten.
Dass Sarrazin Mitglied der SPD ist, dürfte sein Schutzschild nur noch verstärkt haben. Bei den Demonstrationen, die seine öffentlichen Auftritte anfangs begleiteten, waren die üblichen Abwehrmuster „gegen rechts“ zu beobachten. Dies musste zwangsläufig in Leere laufen. Ob Sarrazin ein Rassist ist oder nicht, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass er nicht wie einer wirkt. Das macht ihn bei all jenen anschlussfähig, die über die ausländerfeindlichen Parolen der Rechtsextremisten die Nase rümpfen – und offenbart das eigentliche chauvinistische Potenzial in der Bevölkerung.
Die Angst der Mittelschicht vor den „Verlierern“
Im deutschen populistischen Diskurs kommt nicht nur eine ablehnende Haltung gegenüber dem Islam zum Ausdruck, sondern auch die Angst der Mittelschicht vor den „Verlierern“ der Gesellschaft. Sowohl Thilo Sarrazin als auch Peter Sloterdijk warnen davor, dass die Gruppe der Empfänger staatlicher Leistungen anwachsen werde. Während Sarrazin – für einen Sozialdemokraten eigentlich untragbar – vor der „Verdummung“ Deutschlands durch die Unterschichten warnte, sprach Sloterdijk vom „Bürgerkrieg“ zwischen den „Leistungsträgern“ und dem Steuerstaat als „nehmender Hand“, übrigens nicht ohne sich in der Diskussion um die „Kopftuchmädchen“ auf Sarazzins Seite zu schlagen. Diese Argumente werden mit dem Gestus vorgetragen, es dürfe keine Sprechverbote geben. Widerspruch wird als „Multikulti-Gefasel“ oder überflüssige politische Korrektheit abgewehrt.
Als der Soziologe Armin Nassehi im Herbst 2010 im Münchner Literaturhaus mit Sarrazin diskutierte, wurde er vom bürgerlichen Publikum bezeichnenderweise als „Oberlehrer“ beschimpft und ausgebuht. In seiner Reflexion über den Abend beschreibt Nassehi in der Zeit, weshalb weder seine noch die Argumente von Handelsblatt-Chefredakteur Gabor Steingart Wirkung entfalteten: „Das Publikum träumte lieber Kleinbürgers Traum, eine schwierige Welt einfach erklären zu können. Dass selbst die wohlsituierte ‚Mitte der Gesellschaft‘ so leicht affizierbar ist, ist die eigentlich besorgniserregende Botschaft dieses Abends. Das Publikum brachte ein sacrificium intellectus, ein Opfer des Intellekts, um den Traum einer reinen Ordnung träumen zu können.“
Populisten sind nicht nur deshalb erfolgreich, weil sie bestimmte Themen aufgreifen, die von den anderen ausgespart werden. Die Anziehungskraft ihrer Argumente liegt vor allem auch in der brachialen Rhetorik, mit der sie vorgetragen werden. So werden die Populisten zu vermeintlichen „Tabubrechern“, die aussprechen, „was das Volk denkt“. Bislang haben die gemäßigten Parteien hilflos auf die Herausforderer reagiert. Sie verhielten sich im Fall Sarrazin geradezu kopflos – allen voran die SPD. Dass die Sozialdemokraten nicht wissen, wie sie mit einem Populisten in ihren eigenen Reihen umzugehen haben, und dass dieser aus weiten Teilen der Parteibasis offensichtlich Unterstützung erfuhr, mag nicht zuletzt der programmatischen Unbestimmtheit geschuldet sein, unter der die Sozialdemokratie – übrigens europaweit – seit dem Ende des Ost-West-Konflikts leidet.
Eine jüngst erschienene Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gibt Hinweise darauf, dass sich feindliche Einstellungen gegenüber Minderheiten in den europäischen Gesellschaften weiter verfestigen. Die Abwesenheit einer etablierten (rechts-)populistischen Partei macht Deutschland derzeit noch zu einer Insel im europäischen Meer. Doch der Politikwissenschaftler Thorsten Faas errechnete im vergangenen Herbst ein Wählerpotenzial von etwa 25 Prozent für eine mögliche Sarrazin-Partei. Diese Zahl ist hypothetisch und sagt wenig über die Erfolgsaussichten real existierender politischer Gruppierungen aus. Gleichwohl ist sie eine Kennziffer für die politische Stimmung. Wann der Rechtspopulismus auch in das deutsche Parteiensystem eindringen wird, bleibt ungewiss – auszuschließen ist es nicht. «