Warum Verbraucher Schutz brauchen

Bis in die siebziger Jahre war Verbraucherpolitik eine Domäne der SPD, danach überließ die Partei dieses wichtige Politikfeld allzu oft ihren Koalitionspartnern. Das war nicht sehr klug, denn ohne Verbraucherschutz kein sozialer Fortschritt

Verbraucherpolitik ist sozialdemokratisch. Mit ihr setzen wir an den Alltagsproblemen der Verbraucherinnen und Verbraucher an. Ohne sie sind „gutes Leben“ und sozialer Fortschritt nicht denkbar. Eine gute Verbraucherpolitik hat sich immer den aktuellen Herausforderungen zu stellen. Mit den Konsumgenossenschaften wurden faire Preise für die Arbeiterschaft ermöglicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten Sozialdemokraten in Parlamenten und Vereinigungen Regeln durch, um die Verbraucher vor unfairen Vertragsbedingungen zu schützen und Kartelle zu vermeiden. Die institutionelle Unterstützung durch die Verbraucherzentralen stärkte die Zivilgesellschaft. Heute braucht die Verbraucherpolitik neue Antworten – auf global agierende Konzerne, deregulierte Märkte und zunehmende Digitalisierung.

In den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren wurde Verbraucherpolitik mit der SPD identifiziert. Ab den neunziger Jahren haben wir uns dieses Themenfeld dann aus der Hand nehmen lassen. In Koalitionen überließ die SPD die Verbraucherpolitik oft dem Koalitionspartner. Parteitaktisch war diese Entscheidung schlimm genug, inhaltlich kam eine Akzentverschiebung zustande: FDP und Grüne orientierten sich mehr an den spezifischen Verbraucherschutzbedürfnissen ihrer – besser verdienenden – Klientel, der Schutz der Allgemeinheit wurde vernachlässigt. Hinzu kam, dass auch die SPD bei Regelungen für die Finanzmärkte, den Offenlegungsregeln für Unternehmen oder auch dem Datenschutz zu oft auf die Wünsche der Wirtschaftsverbände hörte.

Aber derzeit erlebt die Verbraucherpolitik in der SPD eine Renaissance. In immer mehr Landesregierungen leiten Sozialdemokraten die entsprechenden Ministerien. Mit den neuen verbraucherpolitischen Richtlinien der SPD-Bundestagsfraktion besitzen wir nach Ansicht der Verbraucherschutzverbände die modernste verbraucherpolitische Konzeption. Und mit der Entscheidung, das erste Themenforum der SPD nach dem neuen Organisationsstatut zu Verbraucherpolitik einzurichten, setzte der SPD-Bundesvorstand ein deutliches Zeichen.

Zu den Inhalten: Ich kann das Mantra vom „mündigen Verbraucher“ nicht mehr hören, der auf der Basis ausreichender Informationen die optimale Kaufentscheidung trifft. Gute Verbraucherpolitik berücksichtigt, dass die Verbraucher in ihrem Alltag häufig überfordert werden. Unser Ziel ist ein selbstbestimmter, verantwortungsvoller und mündiger Konsum. Aber nicht jeder kann immer Experte sein. Nicht alle haben immer die Zeit und die notwendigen Informationen parat. Nicht jeder hat das nötige Kleingeld, um frei wählen zu können. Viele Verbraucher lassen sich von Freunden beeinflussen, verwenden Daumenregeln oder orientieren sich am Status quo. Kurzum: Verbraucher benötigen Unterstützung, Sicherheitsnetze, Schutzregelungen.

Was „Marktwächter“ leisten könnten

Heutzutage müsste man Experte für Zusatzstoffe sein und einen Taschenrechner im Kopf haben, um die Angaben bei den Lebensmitteln zu verstehen. Zur Wahrnehmung von Garantie, Gewährleistung und Widerspruchsrecht sollte man zumindest das erste juristische Staatsexamen abgelegt haben. Um unsachgemäßen vorzeitigen Produktverschleiß zu identifizieren, müsste man viele andere Nutzer persönlich kennen. Von Provisionen abhängige Finanzberater haben viele Bürger bei der Anlage ihrer Altersrücklagen falsch beraten.

So klar die Grenzen für den Einzelnen sind, seine Verbraucherrechte auch in der Praxis durchzusetzen, so groß sind die Möglichkeiten für die Zivilgesellschaft, wenn der Staat ihr den Raum dafür gibt. Organisationen wie die Verbraucherzentralen und die Stiftung Warentest unterstützen die Verbraucher schon lange. Wir Sozialdemokraten wollen sie zu noch mächtigeren Verbündeten der Verbraucher machen.

Dazu haben wir den Vorschlag der „Marktwächter“ erarbeitet: In den großen, deregulierten Märkten (Finanzen, Gesundheit, Lebensmittel, IT und Telekommunikation, Verkehr, Energie) beauftragt und finanziert der Staat Nichtregierungsorganisationen als „Marktwächter“ in Ergänzung seiner eigenen verbraucherpolitischen Aufgaben. Die „Marktwächter“ beobachten den Markt, machen verdeckte Erhebungen und vergleichen Angebote. Sie warnen vor schlechten Angeboten (was der Staat nicht darf) und beraten Verbraucher. Und schließlich gehen die „Marktwächter“ juristisch gegen unlautere Werbung, schlechte Vertragsbedingungen und illegale Methoden vor. Dazu sollten wir auch Möglichkeiten kollektiver Rechtsdurchsetzung wie Sammel- und Musterklagen stärken, ohne dabei amerikanische Verhältnisse zu schaffen. Doch würden Telekommunikationsunternehmen weiterhin Urteile des Bundesgerichtshofes ignorieren, wenn „Marktwächter“ mit Sammelklagen drohen könnten?

In der Verbraucherpolitik die Zivilgesellschaft zu stärken bedeutet keineswegs, dass sich der Staat zurückziehen kann. Im Gegenteil, bestehende Institutionen des staatlichen Verbraucherschutzes müssen gestärkt werden. Das Bundesamt für Verbraucherschutz braucht mehr Kompetenzen, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht muss ihre Erkenntnisse auch in Bezug auf den Verbraucherschutz einsetzen können. Und Einrichtungen wie die Bundesnetzagentur oder das Eisenbahnbundesamt sollten mehr Möglichkeiten erhalten, zugunsten der Verbraucher einzugreifen.

Jede Entscheidung des Gesetzgebers verändert die Bedingungen für Verbraucher und Unternehmen. Deswegen brauchen wir einen „Verbrauchercheck“ für Verordnungen, Gesetze und Richtlinien auf Länder-, Bundes- und europäischer Ebene. Geprüft werden sollten deren realen Auswirkungen. Ich wette: Die Regelungen des Finanzmarktes, das Verbraucherinformationsgesetz oder die Regelungen im Mahnwesen sähen anders aus, wäre geprüft worden, welche Auswirkungen sie auf Nichtexperten haben.

Gutes Leben durch gleiche Augenhöhe

Nur eine wiederbelebte Verbraucherpolitik, die gleiche Augenhöhe zwischen Verbrauchern und global agierenden Konzernen schafft, ermöglicht auch ein gutes Leben. Und da wir Verbraucher mit unserem Konsum auch gesellschaftspolitische Entscheidungen treffen – ob bewusst oder unbewusst –, hilft Verbraucherpolitik auch im Kampf gegen Kinderarbeit, Armutslöhne oder den Klimawandel. Indem wir uns für oder gegen bestimmte Produkte und Dienstleistungen entscheiden, entscheiden wir zugleich über die Akzeptanz oder Ablehnung bestimmter Standards der betreffenden Unternehmen.

Nicht zuletzt ist Verbraucherpolitik Wirtschaftspolitik. Können Verbraucher der Qualität von Produkten und der Seriosität von Dienstleistungen vertrauen, sind sie zu höheren Ausgaben bereit, solange ihr Geldbeutel es ihnen erlaubt. Mehr Verbraucherschutz ist gut für nachhaltige Geschäftsmodelle und damit für Arbeitsplätze. Daher sollten auch die deutschen Wirtschaftsverbände endlich mithelfen, den wenigen schwarzen Schafe unter ihren Mitgliedern die Grenzen aufzuzeigen und damit die seriöse Mehrheit der Unternehmen zu unterstützen.

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