Was der Staat in der erneuerten Sozialen Marktwirtschaft leisten muss



Einer der zentralen Ansprüche an ein neues Grundsatzprogramm der SPD ist es, den Rahmen zu setzen für die Erneuerung unseres ordnungspolitischen Erfolgsmodells – der Sozialen Marktwirtschaft. Sie hat uns sozialen Frieden, wirtschaftliche Stärke und erheblichen Wohlstand gebracht. Wichtigste Aufgabe für uns Sozialdemokraten muss es sein, mittels Reformen sicherzustellen, dass diese Erfolgsgeschichte auch unter den veränderten Bedingungen des 21. Jahrhunderts fortdauert, denn das Menschenbild der Sozialen Marktwirtschaft stimmt überein mit den Grundwerten der sozialen Demokratie: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Bei der Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft sind neue Wirtschaftskraft, sozialer Ausgleich und gesellschaftliche Investitionen in die Fähigkeiten der Menschen wichtiger denn je.

Dabei sollte uns vor allem die Frage leiten: Wie können wir das sozialdemokratische Ideal einer gerechten Gesellschaft mit vielfältigen Aufstiegschancen und hoher Durchlässigkeit unter den neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen organisieren?

Eine Diskussion über die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft erfordert von uns zwangsläufig eine Auseinandersetzung darüber, welche Aufgaben der Staat im 21. Jahrhundert zu erfüllen hat. Dies ergibt sich allein schon aus seiner charakteristischen Funktion im Ordnungsmodell der Sozialen Marktwirtschaft: Der Staat definiert die Regeln für ökonomisches Handeln auf den Märkten und setzt diese Regeln durch. Aber genauso zwingen uns Einflussfaktoren wie Demografie, Globalisierung, unzureichende Wachstumsdynamik und – nicht zuletzt – die überspannte Lage der öffentlichen Haushalte, einen neuen gesellschaftlichen Konsens über die künftigen Aufgaben des Staates herzustellen.

Den Menschen Lebenschancen eröffnen

Wir brauchen diesen neuen Konsens über die Rolle des Staates, weil wir uns dem sozialdemokratischen Ideal von individueller Freiheit – nämlich der Freiheit des Einzelnen zu einem selbst bestimmten Leben und zur Teilhabe und Teilnahme in materieller, kultureller und demokratischer Hinsicht – nur durch staatliches Handeln, durch eine aktive Gesellschaftspolitik werden annähern können. Weder ein marktliberales Wirtschaftsmodell noch ein durch überzogenen Individualismus gekennzeichnetes Gesellschaftsmodell, in denen der Staat um jeden Preis zurückgedrängt und seine gesellschaftspolitische Steuerungsfunktion offen in Frage gestellt wird, ist mit den Grundwerten der Sozialdemokratie vereinbar. Vielmehr geht es uns darum, Menschen Lebenschancen zu eröffnen, die sie sich aus eigener Kraft nicht erarbeiten könnten.

Den schwachen Staat wollen wir nicht

Dabei ist der Richtungsstreit um die künftige Rolle des Staates in vollem Gang, auch wenn uns das nicht immer bewusst ist: Hinter der Auseinandersetzung um die Höhe und Struktur öffentlicher Ausgaben sowie Forderungen nach rigorosen Ausgabekürzungen in öffentlichen Haushalten steckt nichts anderes als der Ruf nach einem anderen, schwachen Staat, den wir nicht wollen.

Wenn wir die künftige Rolle des Staates definieren wollen, müssen wir eine Schlüsselfrage beantworten: Welchen Staat wollen wir? Die Frage ist deshalb entscheidend, weil Art und Umfang der Aufgaben, die wir dem Staat übertragen, unmittelbar die Höhe der Steuern und Abgaben der Bürgerinnen und Bürger bestimmen. Wir müssen auf die folgenden Fragen konkrete Antworten geben:

  • Was sind die Kernaufgaben des Staates? Was überlassen wir anderen Regelmechanismen?
  • Welche neuen Aufgaben muss der Staat angesichts gesellschaftlicher und ökonomischer Wandlungsprozesse bewältigen?
  • Was muss der Staat leisten, um sozialen Zusammenhalt zu sichern und Chancengerechtigkeit zu gewährleisten?
  • Wie kann der Staat seine Bürger darin unterstützen, ein selbst verantwortetes Leben zu führen?
  • Wie müssen die sozialen Sicherungssysteme reformiert werden, um zukunftsfest zu werden.

Ohne bereits über konkrete Antworten zu verfügen, sehe ich drei Grundsätze, an denen sich eine Neuausrichtung der Rolle des Staates aus sozialdemokratischer Sicht orientieren muss:

Erstens muss der Staat sich auf seine Kern- und Zukunftsaufgaben konzentrieren, um leistungsfähig zu bleiben und effizienter zu werden. Diese Konzentration auf Kernaufgaben bedeutet für den Bereich des Sozialen, dass wir nicht mehr jeden Anspruch erfüllen können. Nur so nämlich kann der Staat den tatsächlich der Hilfe bedürftigen und Not leidenden Menschen auch in Zukunft noch zuverlässig zur Seite stehen. Bereits Willy Brandt hat gemahnt: „Der Staat kann und soll nicht alles machen und regeln wollen ... Wir tun gut daran, gegenüber allen Tendenzen wachsam zu bleiben, die die individuelle Freiheit unnötig einengen.“

Für eine verlässliche Grundsicherung

So gern wir es tun würden: Wir können keinen bestimmten sozialen oder materiellen Status gewährleisten, aber wir können und müssen jedem Menschen eine Grundsicherung garantieren. Das ist nach meinem Verständnis nicht nur der Kern des Sozialstaats, sondern auch elementare Voraussetzung dafür, dass die Menschen ihre Potenziale tatsächlich nutzen. Wir können die Menschen nur dann für Neues und für Veränderungen gewinnen und sie zu Eigeninitiative anregen, wenn sie sich auf eine verlässliche Grundabsicherung bei den großen Lebensrisiken verlassen können. Es wird eine der zentralen Zukunftsaufgaben der Sozialdemokratie sein, die großen Lebensrisiken unmissverständlich zu definieren und für eine verlässliche und dauerhafte Grundsicherung für alle zu sorgen.

In Zukunftsfähigkeit investieren

Mit der Konzentration auf Zukunftsaufgaben ist gemeint, dass wir neu gewonnene finanzielle Mittel, die wir durch eine maßvolle Verringerung der Transfers und aus einem möglichen Wirtschaftswachstum gewinnen, in die Zukunftsfähigkeit der Menschen und damit in die Zukunft unseres Landes investieren. Dazu gehört auch, eine kluge sozialdemokratische Wirtschaftspolitik zu etablieren, die zu mehr wirtschaftlichen Zuwächsen beiträgt. Dabei stehen Bildung und Integration ganz oben. Ebenso geht es um Forschung und Technologie, um Infrastruktur und Mittelstandsförderung, um Ausbildung und Qualifikation sowie nicht zuletzt um eine wirksame Familienpolitik.

Zweitens müssen wir staatliche Ausgaben strikt an ihre Wirkung binden. Soziale Gerechtigkeit wird in Deutschland immer noch an der Höhe der Sozialtransfers gemessen. Sozialtransfers allein schaffen aber keine soziale Gerechtigkeit. Die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates, noch weniger die soziale Gerechtigkeit, lassen sich nicht in erster Linie an den Ausgaben des Staates ablesen. So liegt Deutschland bei den Sozialausgaben an der Spitze, aber mit den Ausgaben, die Chancengerechtigkeit fördern, sind wir nicht erfolgreich. Wir geben ziemlich viel Geld aus, rund 70 Cent jedes eingenommenen Steuer-Euros werden für Soziales ausgegeben; wir erzielen damit aber eine viel zu geringe Wirkung – die realen Aufstiegschancen und die Durchlässigkeit unserer Gesellschaft sind bestürzend schlecht. Dadurch vergrößert sich die Ungleichheit.

Chancengerechtigkeit verlangt den gleichen Zugang aller zu den Leistungsangeboten des Staates. Um Armut und daraus resultierende soziale Kosten zu vermeiden, muss das Vorsorgeprinzip stärker zur Geltung gebracht werden. Moderne vorsorgende Sozialpolitik hilft den Menschen bevor sie ihren Job verlieren, bevor sie in der Schule scheitern und bevor sie ihren Ausbildungsplatz verlieren. Wie frei ist ein Jugendlicher, der mit 16 Jahren die Hauptschule ohne Abschluss verlässt? Was hält eine Selbständige von der Solidarität unserer Gesellschaft, die für sich und zwei weitere Menschen Arbeitsplätze geschaffen hat und Steuern und Abgaben zahlt, aber selbst vor Alter und Krankheit nicht abgesichert ist, weil dazu das Geld nicht mehr reicht? Das sind die Fragen, auf die wir Antworten geben müssen.

Die Fliehkräfte der Gesellschaft bändigen

Das System der sozialen, bedarfsgerechten Grundsicherung muss wirksam vor Armut schützen, gleichzeitig aber deutliche Anreize dafür bieten, neue Arbeit zu suchen, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Die Gesellschaft hat ein Recht darauf, dass jeder das in seinen Kräften Stehende tut, um auf Leistungen der Allgemeinheit nicht angewiesen zu sein. Chancengerechtigkeit sollte Grundprinzip eines modernen Sozialstaates sein, während wir Ergebnisgleichheit nicht garantieren können und sollten. Ganz im Sinne von Amartya Sen brauchen wir mehr reale Freiheiten und Verwirklichungschancen, um die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft zu bändigen – zwischen armen und reichen Stadtteilen, zwischen Alten und Jungen, zwischen Familien mit Kindern und Kinderlosen, zwischen Einheimischen und Zugewanderten, zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Schichten. Ignorieren wir heute diese Fliehkräfte, werden wir morgen hohe soziale Kosten tragen müssen. Weder die „Kräfte des Marktes“ noch „Deregulierung“ dämmen diese Fliehkräfte präventiv ein. Das schafft allein ein handlungsfähiger Staat. Ziel ist also kein fetter oder erdrückender, sondern ein leistungsfähigerer Staat – und der hat seinen Preis.

Drittens brauchen wir eine produktive Aufgabenteilung zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft. Wie gesagt, diese drei Handlungsebenen sind für uns nicht beliebig austauschbar, dem Staat kommt weiterhin eine herausragende Funktion zu. Nichts spricht jedoch dagegen, sich immer wieder zu fragen, wer welche Aufgaben am besten lösen kann. So kann der Staat zusätzlichen Spielraum für Zukunftsinvestitionen erhalten, wenn er bestimmte Aufgaben an andere Akteure überträgt. Und die Zivilgesellschaft müssen wir so stärken, dass sie mehr Aufgaben des Gemeinwohls und der nachbarschaftlichen Fürsorge wahrnimmt und die Menschen mehr Bürgersinn entwickeln.

Aufstieg und Durchlässigkeit

Mit einer konsequenten Neuausrichtung der Rolle des Staates entlang dieser Grundsätze können wir die Ziele sozialdemokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik auch in Zukunft erreichen: die ausreichende Erwirtschaftung und die gerechte Verteilung von Wohlstand, die Gewährleistung gleicher Lebenschancen, eine solidarische Grundsicherung und den sozialen Ausgleich zwischen Leistungsfähigen und Leistungsschwachen. Damit können wir dem sozialdemokratischen Ideal einer gerechten Gesellschaft mit vielfältigen Aufstiegschancen und hoher Durchlässigkeit wieder näher kommen.

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