Was ist lebendig und was tot an der sozialen Demokratie?

Der hier veröffentlichte Text basiert auf einer Vorlesung, die der Autor Ende vorigen Jahres an der New York University hielt. Seitdem hat sich das leidenschaftliche Plädoyer des britischen, in den Vereinigten Staaten lehrenden Historikers für die Verteidigung der Fortschritte des 20. Jahrhunderts zu einem viel diskutierten Schlüsseltext in der internationalen Debatte um die Erneuerung der Sozialdemokratie entwickelt. In der »Berliner Republik« haben sich in Heft 1/2010 bereits Heiko Geue und Hubertus Heil mit Tony Judts stimulierenden Thesen auseinandergesetzt. Auch anhand des soeben erschienenen Buches »Ill Fares the Land«, in dem Judt seine Position weiter ausgearbeitet hat, werden wir die Diskussion fortführen. Dem schwer erkrankten Autor wünschen Redaktion und Herausgeber alles erdenklich Gute.

Wenn sich Menschen im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte fragten, ob ein Vorschlag oder eine Initiative ihre Zustimmung finden könne, dann lautete das Kriterium in den englischsprachigen Ländern der Welt (weniger dagegen in Kontinentaleuropa und anderen Regionen) nicht etwa: Ist die Idee gut oder schlecht? Vielmehr fragten wir uns: Ist das Vorgeschlagene effizient? Ist es produktiv? Wird es zum Wachstum beitragen? Diese Neigung, moralische Erwägungen zu vermeiden und sich ganz auf die Gesichtspunkte von Gewinn und Verlust zu beschränken, also auf ökonomische Fragen im engsten Sinne, ist kein instinktives menschliches Verhalten. Sie ist eine Vorliebe, die wir uns angeeignet haben.

Aber was hat dazu geführt, dass wir nur noch in ökonomischen Kategorien denken? Dass uns das ökonomische Vokabular in all seiner Beschränktheit so zu faszinieren vermag, ist schließlich nicht aus dem Nichts gekommen.

Im Gegenteil, wir leben im langen Schlagschatten einer Debatte, die den meisten Menschen allerdings vollständig unbekannt ist. Wenn gefragt wird, wer das ökonomische Denken der englischsprachigen Gesellschaften am stärksten beeinflusst hat, dann fallen einem fünf Denker ein, die allesamt nicht aus englischsprachigen Ländern stammen: Ludwig von Mises, Friedrich Hayek, Joseph Schumpeter, Karl Popper und Peter Drucker. Die beiden zuerst genannten waren die herausragenden „Großväter“ der marktliberalen Chicagoer Wirtschaftstheorie. Schumpeters Bekanntheit wiederum gründet vor allem darauf, dass er enthusiastisch die dem Kapitalismus innewohnenden Kräfte der „schöpferischen Zerstörung“ beschrieb. Poppers Bekanntheit beruht auf seiner Verteidigung der „offenen Gesellschaft“ und auf seiner Totalitarismustheorie. Und Drucker schließlich hat in den Jahrzehnten des Nachkriegswohlstands mit seinen Schriften zu Managementfragen einen enormen Einfluss auf Theorie und Praxis des Wirtschaftslebens ausgeübt.

Drei dieser fünf Männer wurden in Wien geboren, der vierte, von Mises, im seinerzeit zu Österreich-Ungarn gehörigen Lemberg (Lwiw), das heute in der Ukraine liegt. Und Schumpeter stammt aus Mähren, nur ein paar Dutzend Kilometer nördlich der Reichshauptstadt Wien. Alle fünf waren tief erschüttert über die Katastrophe, die ihrer österreichischen Heimat in der Zwischenkriegszeit widerfuhr. Nach dem Zusammenbruch am Ende des Ersten Weltkrieges und einem kurzlebigen kommunalsozialistischen Experiment in Wien erlebte das geschrumpfte Österreich 1934 einen reaktionären Putsch und fiel vier Jahre später dem Einmarsch der Wehrmacht und dem „Anschluss“ an Hitlers Nazireich zum Opfer.

Diese Ereignisse trieben alle fünf Männer in die Emigration. Fortan standen das Schreiben und die Lehre jedes einzelnen von ihnen – vor allem in Hayeks Fall – im Lichte der einen zentralen Frage ihrer Zeit: Warum war die freiheitliche Gesellschaft zusammengebrochen? Warum hatte sie – zumindest in Österreich – dem Faschismus das Feld räumen müssen? Ihre Antwort: Die erfolglosen Versuche der (marxistischen) Linken nach 1918, in Österreich staatliche Planung, kommunalen Sozialismus und die Kollektivierung des Wirtschaftslebens einzuführen, hatten sich nicht nur als irregeleitet erwiesen, sondern sie hatten obendrein auf direktem Wege eine Gegenreaktion ausgelöst.

Nach dieser Lesart war die anschließende europäische Tragödie auf das Scheitern der Linken zurückzuführen. Diese hatte es weder vermocht, ihre Ziele durchzusetzen, noch war sie im Stande gewesen, sich selbst und ihr freiheitliches Erbe gegen Angriffe zu verteidigen. Alle fünf Männer zogen – wenngleich auf je unterschiedliche Weise – denselben Schluss: Das beste Mittel, um für die Liberalität zu kämpfen, die beste Verteidigung der offenen Gesellschaft und ihrer Freiheiten bestand darin, den Staat möglichst umfassend aus dem wirtschaftlichen Leben herauszuhalten. Wenn nur die Regierung auf sicherem Abstand gehalten werde und die Politiker keine Möglichkeit besäßen, die Angelegenheiten ihrer Mitbürger zu planen, zu manipulieren und zu regeln, dann könnten die Extremisten von rechts und links gleichermaßen im Zaum gehalten werden.

Mit denselben Herausforderungen – zu begreifen, was eigentlich zwischen den Kriegen passiert war und eine Wiederholung dieses Geschehens zu verhindern – sah sich auch John Maynard Keynes konfrontiert. Der große englische Ökonom, wie Schumpeter im Jahr 1883 geboren, wuchs in einem stabilen, selbstbewussten, wohlhabenden und mächtigen Großbritannien auf. Doch als Beamter des Finanzministeriums und Teilnehmer der Friedensverhandlungen von Versailles gleichsam in der ersten Reihe sitzend, erlebte er dann, wie seine gesamte bisherige Welt zusammenbrach. Alle Gewissheiten seiner Kultur und seiner Klasse waren dahin. Deshalb beschäftigten Keynes dieselben Fragen, die sich Hayek und dessen österreichische Kollegen gestellt hatten. Aber er gab eine völlig andere Antwort.

Die Bedeutung des Faktors Ungewissheit

Ja, so räumte Keynes ein, der Untergang des spätviktorianischen Europa sei die entscheidende Erfahrung seines Lebens gewesen. Tatsächlich bestand der Kern der Beiträge Keynes’ zur ökonomischen Theorie darin, die Bedeutung des Faktors Ungewissheit hervorzuheben. In Abgrenzung zu den selbstbewusst feilgebotenen Heilmitteln der klassischen und neoklassischen Wirtschaftslehre bestand Keynes darauf, dass die menschlichen Angelegenheiten prinzipiell unvorhersehbar sind. Wenn es also eine Lehre gab, die sich aus Weltwirtschaftskrise, Faschismus und Krieg ziehen ließ, dann diese: Die zersetzende Macht, die die freiheitliche Welt bedroht hatte, sei eine zu kollektiver Verunsicherung und Angst gesteigerte Ungewissheit gewesen. Und solch eine Ungewissheit könne in Zukunft erneut gefährlich werden.

Deshalb strebte Keynes eine größere Rolle für den Sozialversicherungsstaat an. Dieser solle zu antizyklischen wirtschaftspolitischen Eingriffen fähig sein, dürfe aber nicht auf diese Maßnahmen beschränkt bleiben. Hayek schlug genau das Gegenteil vor. In seinem Klassiker Der Weg zur Knechtschaft schrieb er: „Keine allgemeine Darstellung kann angemessen beschreiben, wie sehr die gegenwärtige politische Literatur in England denjenigen Werken ähnelt, die in Deutschland den Glauben an die westliche Zivilisation zerstörten und die geistige Grundstimmung hervorgebracht haben, in welcher der Nazismus erfolgreich werden konnte.“

Mit anderen Worten: Hayek sagte ausdrücklich eine faschistische Wende in Großbritannien voraus, sollte die Labour Party an die Macht gelangen. Und Labour gewann tatsächlich die Wahlen. Doch die Partei entschied sich für eine Politik, die in vieler Hinsicht direkt auf Keynes zurückzuführen war. In den folgenden drei Jahrzehnten wurde Großbritannien (wie große Teile der westlichen Welt überhaupt) im Lichte der von Keynes entwickelten Auffassungen regiert.

Wie wir wissen, haben die Österreicher seitdem ihre Rache bekommen. Wie dies möglich wurde, ist eine interessante Frage, die bei anderer Gelegenheit diskutiert werden muss. Auf jeden Fall aber ist unsere heutige Zeit noch immer gekennzeichnet von dem verhallenden Echo einer Debatte, die vor siebzig Jahren unter Männern geführt wurde, die zumeist im späten 19. Jahrhundert auf die Welt gekommen waren. Gewiss, die ökonomischen Kategorien, in denen zu denken man uns anhält, werden üblicherweise nicht mit diesen weit zurückliegenden Disputen in Zusammenhang gebracht. Und dennoch: Wenn wir von jenen Konflikten nichts wissen, dann ist es so, als würden wir heute eine Sprache sprechen, die wir selbst nicht völlig verstehen.

Der Wohlfahrtsstaat hat bemerkenswerte Leistungen vollbracht. In einigen Ländern war er sozialdemokratisch ausgeprägt, gegründet auf ehrgeizigen Programmen sozialistischer Gesetzgebung. In anderen Ländern, zum Beispiel in Großbritannien, lief der Wohlfahrtsstaat auf eine Reihe pragmatischer Maßnahmen mit dem Ziel hinaus, Benachteiligungen auszugleichen und extreme Unterschiede von Reichtum und Armut zu begrenzen. Die gemeinsame Errungenschaft aller neo-keynesianischen Regierungen der Nachkriegsära bestand in den bemerkenswerten Erfolgen, die sie bei der Bekämpfung von Ungleichheit vorweisen konnten. In allen kontinentaleuropäischen Staaten, in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten schrumpfte die Lücke zwischen Armen und Reichen, ob gemessen an Einkommen oder Besitz, in der Generation nach 1945 dramatisch zusammen.

Mit der größeren Gleichheit gingen andere Vorteile einher. Im Laufe der Zeit schwand die Angst vor einer Wiederkehr extremistischer Politik. Die westlichen Industrienationen traten in eine friedvolle Ära des Wohlstands und der Sicherheit ein: eine Blase vielleicht, aber eine wohltuende Blase, in der es den meisten Menschen weitaus besser ging, als sie es in der Vergangenheit jemals hätten erwarten können. Sie hatten allen Grund, der Zukunft mit Zuversicht entgegenzusehen.

Das Paradoxon des Wohlfahrtsstaates, ja der sozialdemokratischen (und christdemokratischen) europäischen Staaten überhaupt, bestand allerdings ganz einfach darin, dass ihre Anziehungskraft im Laufe der Zeit durch den eigenen Erfolg untergraben wurde. Die Generation, die sich noch an die dreißiger Jahre erinnerte, legte verständlicherweise größten Wert darauf, die Institutionen und Systeme der Besteuerung, der sozialen Dienstleistungen und der Daseinsvorsorge zu erhalten, die aus ihrer Sicht Bollwerke gegen die Rückkehr vergangener Schrecken bildeten. Aber schon die folgende Generation – sogar in Schweden – begann zu vergessen, warum die Sicherheiten des Wohlfahrtsstaates einmal als so erstrebenswert gegolten hatten.

Es war die Sozialdemokratie, die im Gefolge des Zweiten Weltkrieges die Verbindung der Mittelschichten mit freiheitlichen Institutionen herstellte. Ihnen standen nun in vielen Fällen dieselben Unterstützungsleistungen und sozialen Dienste zu wie den Armen: gebührenfreie Bildung, kostengünstig oder sogar gratis zugängliche medizinische Versorgung, staatlich finanzierte Renten und ähnliches. Infolgedessen verfügten die Mittelschichten in Europa bereits in den sechziger Jahren über weit höhere Einkommen als jemals zuvor, während sie zugleich durch ihre Steuerzahlungen für viele Bedürfnisse vorsorgten. Eben deshalb waren genau jene ökonomischen Schichten, die in der Zwischenkriegszeit so sehr von Angst und Verunsicherung heimgesucht worden waren, nun aufs Engste in den demokratischen Konsens der Nachkriegsära eingewoben.

Soziale Demokratie – das ist in Europa in der einen oder anderen Form der prosaische Alltag der Gegenwartspolitik. Es gibt nur sehr wenige europäische Politiker (und noch weniger Politiker in einflussreichen Ämtern), die von diesem Kern sozialdemokratischer Annahmen hinsichtlich der Pflichten des Staates abweichen würden, auch wenn sie über den angemessenen Umfang dieser Pflichten unterschiedliche Meinungen vertreten. Folgerichtig haben Sozialdemokraten im heutigen Europa nichts Besonderes mehr anzubieten, das ihre Alleinstellung sichern könnte. In Frankreich zum Beispiel unterscheiden sie sich in der unreflektierten Befürwortung der Staatswirtschaft nicht einmal von ihren in Colbertscher Tradition stehenden Konkurrenten auf der gaullistischen Rechten. Die Sozialdemokratie muss also über ihre Ziele und Zwecke neu nachdenken.

Das Problem liegt nicht in der sozialdemokratischen Politik, sondern in der Sprache, in der diese Politik präsentiert wird. Seit die autoritäre Herausforderung von links nicht mehr existiert, ist die Betonung von „Demokratie“ mehr oder weniger überflüssig geworden. Heute sind wir alle Demokraten. Aber das Wort „sozial“ bedeutet etwas – und heute möglicherweise sogar mehr als vor einigen Jahrzehnten, als die Rolle des öffentlichen Sektors noch von allen Seiten ohne große Diskussion anerkannt wurde. Was also macht eigentlich das spezifisch „Soziale“ im sozialdemokratischen Politikansatz aus?

Man stelle sich einen Bahnhof vor. Einen richtigen Bahnhof, nicht etwa ein abgetakeltes Einkaufszentrum oberhalb eines Kohlekellers wie die New Yorker Pennsylvania Station. Ich meine so etwas wie die Waterloo Station in London, den hinreißenden Victoria-Terminus in Mumbai oder den prachtvollen neuen Hauptbahnhof von Berlin. In diesen eindrucksvollen Kathedralen des modernen Lebens funktioniert der private Sektor, dort wo er seinen Platz hat, völlig tadellos. Schließlich gibt es keinen Grund, weshalb der Staat Zeitungskioske oder Kaffeebars betreiben sollte. Wer alt genug ist, sich an die ausgetrockneten, in Plastikfolie verpackten Sandwiches aus den Cafés zu erinnern, die in Großbritannien einst die staatliche Eisenbahngesellschaft betrieb, der wird zugeben, dass der Wettbewerb auf diesem Gebiet jede Unterstützung verdient.

Aber man kann nach dem Prinzip des Wettbewerbs nicht Züge fahren lassen. Die Eisenbahn ist – wie Landwirtschaft oder die Post – zugleich eine wirtschaftliche Aktivität und ein grundlegendes soziales Gut. Abgesehen davon lässt sich ein Eisenbahnsystem nicht dadurch effizienter machen, dass man zwei Züge auf dasselbe Gleis setzt und dann beobachtet, welcher besser funktioniert: Eisenbahnen sind ein natürliches Monopol. Aus unerfindlichen Gründen haben die Briten trotzdem solch einen Wettbewerb unter verschiedenen Busunternehmen eingerichtet. Aber das grundlegende Paradoxon öffentlicher Verkehrssysteme besteht natürlich darin, dass sie desto weniger „effizient“ sein können, je besser sie ihrer Aufgabe gerecht werden.

Eisenbahnen sind zuallererst eine soziale Dienstleistung. Jeder Dummkopf könnte eine profitable Bahngesellschaft betreiben, wenn es nur darum ginge, Expresszüge von London nach Edinburgh, von Paris nach Marseille oder von Boston nach Washington fahren zu lassen. Aber wie ist es um Bahnen bestellt, die Gegenden anfahren, wo die Leute nur gelegentlich den Zug nehmen? Kein einzelner Mensch wird ausreichende Mittel aufbringen, um eine Bahnverbindung aufrechtzuerhalten, bloß weil er sie zu unregelmäßigen Gelegenheiten nutzt. Nur eine Gemeinschaft – der Staat, die Regierung, die kommunalen Behörden – kann dies tun.

Im Jahr 1996, kurz vor ihrer Privatisierung, wiesen die britischen Staatsbahnen die niedrigste Rate öffentlicher Subventionen in ganz Europa auf. Im selben Jahr planten die Franzosen eine Investitionsrate von 21 Pfund pro Kopf der Bevölkerung ein, die Italiener 33 Pfund, die Briten dagegen steckten nur 9 Pfund in ihre Eisenbahnen. Diese Unterschiede spiegelten sich in der Qualität der jeweiligen nationalen Schienensysteme exakt wider.

Die unterschiedlichen Investitionshöhen belegen meine Argumentation. Die Franzosen und die Italiener betrachten ihre Eisenbahnen seit langem als soziale Einrichtungen. Eine Zugverbindung in abgelegene Regionen aufrechtzuerhalten mag unter Kostengesichtspunkten ineffizient sein. Aber es trägt dazu bei, lokale Gemeinschaften zu stützen. Es vermindert Umweltschäden, indem es eine Alternative zum Straßenverkehr bietet. Bahnhöfe und Zugverbindungen sind also Symptome und Symbole einer Gesellschaft, die gemeinsame Ziele verfolgt.

Unter sozialen Gesichtspunkten ist es selbst dann sinnvoll, Bahnverbindungen in abgelegene Gegenden zu unterhalten, wenn dies wirtschaftlich „ineffizient“ sein sollte. So zu argumentieren heißt aber, eine wichtige Frage zu umschiffen. Sozialdemokraten werden nicht weit damit kommen, löbliche soziale Vorhaben zu verkünden, von denen sie selbst wissen, dass sie teurer sind als mögliche Alternativen. Am Ende würde dies nur darauf hinauslaufen, zum einen den Wert sozialer Dienstleistungen herauszukehren, zum anderen aber deren hohe Kosten zu bedauern – und am Ende tatenlos zu bleiben. Darum müssen wir neu über Methoden nachdenken, wie sich sämtliche Kosten gegeneinander abwägen lassen, die sozialen und die ökonomischen.  Ein Beispiel: Es ist billiger, mildtätige Gaben an die Armen zu verteilen, als diesen per Gesetz eine Fülle sozialer Dienstleistungen zu garantieren. Unter „Mildtätigkeit“ verstehe ich glaubensgestützte Nächstenliebe, private oder unabhängige Initiativen, einkommensabhängige Unterstützung in Form von Essenmarken, Wohngeld, Kleidungszuschüssen und ähnlichen Leistungen. Hilfen dieser Art sind gut gemeint, doch sie entgegenzunehmen bedeutet eine Demütigung.

Wie viel Geld ist uns eine gute Gesellschaft wert?

Demgegenüber ist es nicht demütigend, ein Recht geltend zu machen. Wenn man formal berechtigt ist, Leistungen wie Arbeitslosengeld, eine Rente, Krankengeld, eine Wohnung oder irgendeine andere öffentlich gewährte Unterstützung in Anspruch zu nehmen, ohne dass jemand zunächst untersucht, ob man bereits tief genug gesunken ist, überhaupt Hilfe „verdient“ zu haben – dann wird man nicht beschämt sein, solche Hilfe anzunehmen. Solche universellen Rechte und Ansprüche sind allerdings teuer.

Wie wäre es aber, wenn wir auch Demütigungen als Kosten für eine Gesellschaft begriffen? Wie wäre es, wenn wir den Schaden „quantifizieren“ würden, der entsteht, wenn Menschen von ihren Mitbürgern beschämt werden, bevor sie Zugang zu den Notwendigkeiten des Lebens erhalten? Was wäre also, wenn wir in unsere Berechnungen von Produktivität, Effizienz und Wohlbefinden auch den Unterschied zwischen einer demütigenden Gabe und einer rechtlich garantierten Beihilfe einbezögen? Wir könnten dann zu dem Ergebnis gelangen, dass die Gewährung universeller sozialer Dienstleistungen, öffentlicher Krankenversicherung oder subventionierter öffentlicher Verkehrsmittel in Wirklichkeit ein kosteneffektives Mittel zur Verwirklichung unserer gemeinsamen Ziele ist. Solch ein Vorgehen ist anfechtbar: Wie können wir „Demütigung“ quantifizieren? Wie lassen sich die Kosten bemessen, die den Bewohnern entlegener Regionen aufgrund ihrer Abschottung von großstädtischen Möglichkeiten entstehen? Wie viel Geld ist uns eine gute Gesellschaft wert? Die Antwort ist unklar. Aber wie können wir überhaupt Antworten finden, wenn wir solche Fragen gar nicht erst stellen?

Was meinen wir eigentlich, wenn wir von einer „guten Gesellschaft“ sprechen? Aus normativer Perspektive lässt sich eine Antwort finden, wenn wir ein sittliches „Narrativ“ formulieren, mit dem wir uns unsere eigenen kollektiven Prioritäten deutlich machen. Solch ein Narrativ würde dann die verengten ökonomischen Kategorien ersetzen, die unsere gegenwärtigen Debatten beschränken. Aber unsere allgemeinen Ziele auf diese Weise zu benennen, ist keine einfache Angelegenheit.


In der Vergangenheit beschäftigte sich die Sozialdemokratie ohne Wenn und Aber mit der Unterscheidung zwischen „richtig“ und „falsch“; dies umso mehr, als die Sozialdemokraten ein vormarxistisches ethisches Vokabular geerbt hatten, das geprägt war durch die christliche Abneigung gegen extremen Reichtum oder die Anbetung materiellen Besitzes. Aber solche Erwägungen wurden vielfach von ideologischen Fragen verdrängt: Ist der Kapitalismus zum Untergang verdammt? Wenn ja, könnte eine bestimmte Politik seinen erwarteten Ruin beschleunigen oder hinauszögern? Solche Fragen beschäftigen uns heute nicht mehr. Deshalb sind wir direkter als zuvor mit den ethischen Folgen unserer Prioritätensetzungen konfrontiert.

Was haben wir verloren?


Was genau finden wir am Finanzkapitalismus so abstoßend? Welche Mängel an unserer gegenwärtigen Ordnung fallen uns instinktiv auf? Und was können wir tun, um diese Mängel zu beheben? Was kommt uns unfair vor? Was genau ist es, das gegen unseren Sinn für Anstand verstößt, wenn wir den unbeschränkten Lobbyismus der Wohlhabenden zulasten aller anderen beobachten? Was haben wir verloren?

Die Antworten auf solche Fragen sollten in der Form einer moralischen Kritik an den Unzulänglichkeiten des unbegrenzten Marktes und des schwachen Staates gegeben werden. Wir müssen uns darüber klar werden, warum eigentlich diese Zustände unserem Sinn für Recht und Billigkeit widerstreben. Kurzum, wir müssen wieder in die Sphäre der Ziele und Zwecke eintreten. Hierbei ist die Sozialdemokratie nur begrenzt hilfreich, denn deren eigene Antwort auf die Dilemmata des Kapitalismus bestand lediglich im verspäteten Nachvollzug des sittlichen Diskurses der Aufklärung, angewandt auf die „soziale Frage“. Unsere Probleme liegen ganz woanders.

Wir treten derzeit, wie ich glaube, in ein neues Zeitalter der Unsicherheit ein. Die letzte Ära dieser Art –  denkwürdig analysiert von John Maynard Keynes in seinem Buch Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles (1919) – folgte Jahrzehnten des Wohlstands und Fortschritts sowie einer dramatischen Internationalisierung des Lebens. Keynes untersuchte die „Globalisierung“, bevor dieser Begriff erfunden wurde. Nach seiner Beschreibung hatte sich die kommerzielle Ökonomie um die gesamte Welt ausgebreitet. Handel und Kommunikation beschleunigten sich mit beispielloser Geschwindigkeit. Vor 1914 wurde weithin behauptet, die Logik des friedlichen wirtschaftlichen Austauschs werde über die des nationalen Eigeninteresses triumphieren. Niemand erwartete, dass dies alles abrupt zu Ende gehen könnte. Doch genau das geschah.

Auch wir haben ein Zeitalter der Stabilität, der Sicherheit und der Illusion unendlicher wirtschaftlicher Verbesserung erlebt. Aber diese Ära liegt nun hinter uns. Auf absehbare Zeit werden wir wirtschaftlich unsicher und kulturell verunsichert leben. Ohne Zweifel sind wir heute im Hinblick auf unsere gemeinsamen Ziele, unser ökologisches Wohlergehen oder unsere persönliche Sicherheit weniger zuversichtlich als jemals seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir haben keine Ahnung, was für eine Art von Welt unsere Kinder von uns erben werden – aber wir können uns jedenfalls nicht länger vormachen, diese Welt werde unserer eigenen noch auf beruhigende Weise ähnlich sein. Wir müssen uns damit beschäftigen, wie die Generation unserer Großeltern auf vergleichbare Herausforderungen und Bedrohungen reagierte. Die soziale Demokratie in Europa, Franklin D. Roosevelts New Deal und Lyndon B. Johnsons Great Society in den USA – das waren direkte Antworten auf die Unsicherheiten und Ungerechtigkeiten des Zeitalters. Nur wenige im Westen sind alt genug, um zu wissen, was genau es bedeutet, die gesamte bisherige Welt zusammenbrechen zu sehen. Wir können uns den kompletten Kollaps unserer freiheitlichen Institutionen und den völligen Zerfall des demokratischen Konsenses  kaum vorstellen. Aber genau so ein Kollaps war es, der die Debatte zwischen Keynes und Hayek hervorbrachte und aus dem der neue keynesianische Konsens und der sozialdemokratische Kompromiss geboren wurden – ein Konsens und ein Kompromiss, in denen wir aufwuchsen und deren Anziehungskraft ausgerechnet ihr Erfolg vernebelt hat.

Wenn die Sozialdemokratie eine Zukunft hat, dann als Sozialdemokratie der Angst. Statt den Versuch zu unternehmen, eine Sprache des optimistischen Fortschritts zu erneuern, sollten wir anfangen, uns wieder mit unserer jüngeren Geschichte vertraut zu machen. Die erste Aufgabe radikaler Dissidenten besteht heute darin, ihr Publikum an die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zu erinnern – und über die wahrscheinlichen Folgen des leichtfertigen Eifers zu reden, mit dem wir diese Errungenschaften zerlegen.

Die politische Linke hat, um es ganz deutlich zu sagen, etwas zu bewahren. Es ist die politische Rechte, die den ehrgeizigen modernen Drang geerbt hat, im Namen eines universellen Projekts zu zerstören und zu erneuern. Sozialdemokraten, typischerweise bescheiden hinsichtlich ihres Stils und ihrer Ambitionen, müssen entschiedener über die Fortschritte der Vergangenheit sprechen. Der Aufstieg eines Staates der sozialen Dienstleistungen, der ein Jahrhundert währende Aufbau eines öffentlichen Sektors, dessen Güter unsere kollektive Identität und unsere gemeinsamen Ziele zum Ausdruck bringen und prägen, die Durchsetzung der allgemeinen Wohlfahrt als ein Recht und ihre Gewährleistung als eine soziale Pflicht – das waren keine geringen Leistungen.

Dass diese Errungenschaften unvollständig blieben, sollte uns nicht beunruhigen. Wenn wir auch sonst nichts aus dem 20. Jahrhundert gelernt haben sollten, so müssten wir doch zumindest eines begriffen haben: Je perfekter die Lösung, desto schrecklicher ihre Folgen. Unvollkommene Verbesserungen als Antwort auf unbefriedigende Umstände – das ist das Beste, worauf wir hoffen können, und vermutlich sollten wir auch gar nicht mehr anstreben. Andere haben die vergangenen drei Jahrzehnte damit zugebracht, alle diese Verbesserungen systematisch wieder rückgängig zu machen und zu destabilisieren: Darüber sollten wir viel wütender sein, als wir es sind. Es sollte uns auch besorgt stimmen, und wenn auch nur aus Gründen ganz praktischer Vernunft: Warum sind wir in solch großer Eile gewesen, die Deiche niederzureißen, die unsere Vorgänger unter großen Mühen gebaut hatten? Sind wir so sicher, dass keine Fluten mehr kommen werden?

Für eine Sozialdemokratie der Angst lohnt es sich zu kämpfen. Die Anstrengungen eines ganzen Jahrhunderts aufzugeben, ist Verrat nicht nur an denen, die vor uns da waren, sondern auch an künftigen Generationen. Es wäre angenehm – aber irreführend – zu berichten, dass die Sozialdemokratie (oder etwas ihr ähnliches) für diejenige Zukunft steht, die wir uns in einer idealen Welt ausmalen würden. Sie steht nicht einmal für eine ideale Vergangenheit. Aber unter den Optionen, die wir gegenwärtig besitzen, ist sie besser als jede andere. In dem Buch Mein Katalonien über den spanischen Bürgerkrieg schrieb George Orwell angesichts seiner Erfahrungen im revolutionären Barcelona: „Es gab vieles, was ich nicht verstand. In gewisser Hinsicht gefiel es mir sogar nicht. Aber ich erkannte sofort, dass sich für diese Verhältnisse zu kämpfen lohnte.“ Ich glaube, für jeden einzelnen Bestandteil der sozialen Demokratie des 20. Jahrhunderts, den wir noch retten können, gilt dies ganz genauso. «

Aus dem Englischen von Tobias Dürr

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