Was von den Christsozialen übrig blieb

Die einstmals stolze bayerische Hegemonialpartei CSU ist nach ihren vielen Wahlniederlagen noch immer vor allem mit sich selbst beschäftigt. Dabei müsste die Partei gerade jetzt die Weichen für ihre inhaltliche Erneuerung stellen. Tut sie es nicht, riskiert sie weiteren Niedergang. Denn in Bayern gehen die Uhren nicht mehr so wie früher

Vor eineinhalb Jahren geschah das Unvorstellbare: Bei den bayerischen Landtagswahlen fuhr die CSU nur noch 42,3 Prozent der abgegebenen Stimmen ein – und lag damit deutlich unter den traditionell angestrebten „50 plus X“.  Seitdem koaliert sie mit der FDP, und die plakative Formel „Landespolitik ist CSU-Politik“ greift nicht mehr. Es folgten zwei weitere Abstimmungen, bei denen sich die Christsozialen auf dem mittlerweile hart umkämpften bayerischen Wählermarkt weiter verschlechterten. Bei der Europawahl im Juni 2009 erzielten sie zwar 48,1 Prozent der abgegebenen Stimmen, aufgrund der niedrigen Wahlbeteiligung von 42,3 Prozent bedeutete dies jedoch in absoluten Zahlen einen erneuten Tiefpunkt. Und bei der Bundestagswahl im September 2009 vermeldeten die Statistiker mit 42,5 Prozent der Zweitstimmen die Fortsetzung der elektoralen Stagnation. Angesichts solcher Zahlen verwundert es nicht, dass viele Beobachter der weiß-blauen Volkspartei düstere Aussichten prophezeien.

In Wirklichkeit ist diese Situation keineswegs neu, sondern erinnert an die fünfziger Jahre. Ähnlich wie heute musste sich die CSU damals einigen potenten Gegnern im bürgerlichen Lager stellen. Mit seinen starken Freien Wählern, die eine Art Revival der konservativ-katholischen und zutiefst ländlich verankerten Bayernpartei darstellen, sowie der erstarkten neuliberalen, jungen, urbanen FDP erinnert das bayerische Parteiensystem des Jahres 2010 wenigstens entfernt an vergangene Zeiten.

Die CSU hatte seit den fünfziger Jahren und besonders nach ihrer ersten Oppositionserfahrung während der so genannten Viererkoalition von 1954 bis 1957 unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner einen Modernisierungskurs eingeschlagen, der die fundamentalistisch-katholischen Kräfte in der Partei zunehmend marginalisierte. Unter Führung von Alfons Goppel als Ministerpräsident und Franz Josef Strauß als Parteivorsitzender brauchte die CSU ein weiteres Jahrzehnt, um ihre eigentümliche Erfolgsformel – von Edmund Stoiber später einmal „Laptop und Lederhose“ genannt – in der Mitte der Gesellschaft dauerhaft zu verankern. Die Landesregierung forcierte die Ansiedlung großer Unternehmen der Luftfahrt-, Rüstungs- und Autoindustrie und bereitete so das Fundament für den wirtschaftlichen Aufstieg des einstigen Agrarlandes Bayern. Die Bevölkerung erlebte unter CSU-Führung den kollektiven Aufschwung des Landes und die Verbesserung der Lebensverhältnisse seiner Bürger. Das ermöglichte die fortschreitende Identifikation der Bayern mit der regierenden Partei.

Ihre zunehmend hegemoniale Stellung erreichte die CSU auch dadurch, dass sie in den einzelnen Politikfeldern stets flexibel genug war, sich auf Neuerungen einzulassen und die Bedürfnisse sehr unterschiedlicher Gruppen von Wählern und Mitgliedern zu befriedigen. Der Einfluss von Lobbyisten war bei den Christsozialen immer außerordentlich stark, was die Treue der Stammwähler weiter stärkte. Vor allem Wirtschafts- und Bauernverbände, die Landsmannschaften der Vertriebenen und die zahlreichen Brauchtumsorganisationen scharten die Christsozialen um sich wie eine Großfamilie. Auf diesem Weg verankerte die CSU ihre Position dauerhaft in allen Regionen und es entstand der für eine freiheitliche Demokratie unübliche Eindruck, dass Partei und Staat eine Symbiose eingingen.

Die Blindheit der professionellen Beobachter

Dass nicht nur Journalisten sondern sogar Soziologen und Politikwissenschaftler bis zu den Wahlniederlagen ab 2008 diese Interpretation vertreten, zeigt vor allem, wie blind einige professionelle Beobachter in den vergangenen beiden Jahrzehnten waren. Denn schließlich ist Bayern keine Insel der Seligen. Seit langem sind die grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzungen erkennbar, die dort stattfinden und auch an der bayerischen Hegemonialpartei nicht spurlos vorbeigehen. Kein Bundesland weist in seinen prosperierenden Wirtschaftsregionen so viele gut ausgebildete und junge Zuwanderer aus anderen Teilen der Republik auf wie Bayern. Der Freistaat hat zahlreiche ökonomisch erfolgreiche Individualisten angezogen, die nicht im konservativen Milieu sozialisiert wurden. Diese „betriebsamen Bürger“, wie sie der niederländische Soziologe Gabriël van den Brink einmal treffend charakterisiert hat (die Milieustudie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2006 nennt sie etwas technokratischer „Leistungsindividualisten“), sind auch in ihrem Wahlverhalten äußerst beweglich. Zwar belohnten sie mit ihren Stimmen mehrfach die vermeintliche Wirtschaftskompetenz der Stoiber-CSU, entzogen dem tapsigen Duo Huber-Beckstein dann aber ihr Vertrauen, zumal die Bankenkrise die ersten Schatten warf. Zuletzt profitierte von diesen neuen Mittelschichten die FDP: Sie erreichte ihre besten Resultate in den wohlhabenden oberbayerischen Orten rund um München.

Die Milchviehhalter sagen leise servus


Am anderen Ende der politischen Werteskala positionieren sich erfolgreich die Freien Wähler, die nicht in der „neuen Mitte“ der Gesellschaft, sondern in der ländlichen Stammkundschaft der CSU wildern. Bei den Landtagswahlen im Jahr 2003 hatten noch mehr als 90 Prozent der bayerischen Landwirte der CSU ihre Stimme gegeben. Im Jahr 2008 wanderte beinahe jeder Zweite von ihnen zu den Parteifreien ab, deren Spitzenkandidat Hubert Aiwanger, ein niederbayerischer Landwirt, glaubwürdig die Interessen des ländlichen Raumes vertrat. Die Berufsgruppe der Landwirte umfasst in Bayern zwar kaum mehr als 100.000 Personen, ist aber in den kleinen Gemeinden auf dem Land nach wie vor stilbildend und einflussreich. Die 40 Prozentpunkte, die bei den Bauern verloren gingen, haben große Ausstrahlungskraft auf die dörflichen Gemeinschaften. Auch der bayerische Bauernverband, dessen hauptamtliche Funktionäre nicht selten Kreistags- oder Landtagsmandate für die CSU besitzen, hat kein Monopol mehr auf die Vertretung seiner Berufsgruppe. Der Bund deutscher Milchviehhalter, der die Agrarpolitik der CSU ablehnt, bekommt immer mehr Zulauf.

Die gesellschaftlichen Veränderungen in „alter“ und „neuer“ Mitte hatte die Regierung Stoiber längst nicht mehr im Blick. Soiber führte sein Amt zuletzt so autoritär, wie es selbst Franz Josef Strauß nicht getan hatte. Beamte aus dem Dunstkreis von Stoibers Staatskanzlei bestimmten Partei- und Staatspolitik. Regierungsmannschaft, Landtagsfraktion und Landesgruppe im Bundestag wurden zu Befehlsempfängern degradiert. Radikale Kürzungen im öffentlichen Dienst, eine brachial gegen Lehrer- und Elternverbände durchgesetzte Schulreform nach dem Vorbild der übrigen konservativ geführten Bundesländer und nicht zuletzt die Vernachlässigung der bislang besonders treuen bäuerlichen Klientel waren die zentralen politischen Irrwege des letzten Stoiberkabinetts. Es herrschte völlige Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung und der eigenen Anhänger. Die Förderung teurer Prestigeprojekte wie der Magnetschwebebahn Transrapid schwächten die Glaubwürdigkeit der CSU-Regierung zusätzlich, schließlich war es Stoiber, der immer wieder das Ziel der Haushaltskonsolidierung gepredigt hatte. Der in langen Jahrzehnten aufgebaute Kitt, der die Volkspartei CSU immer zusammengehalten hatte, begann angesichts der Hauruck-Politik der Ära Stoiber zu bröseln. Der Kern der Partei ist nachhaltig beschädigt, denn es sind die treuesten Anhänger, die derzeit an ihrer politischen Heimat zweifeln und daraus ihre Konsequenzen ziehen. Nicht zuletzt stellen die nach und nach bekannt werdenden skandalösen Fehlspekulationen der Regierung Stoiber die einst unbestrittene Wirtschaftskompetenz der CSU infrage. FDP und Parteifreie können sich weiterhin freuen: Keiner ihrer Protagonisten hat etwas mit dem Versagen der Bayern LB oder der Hypo Alpe Adria zu tun. Dies sind allesamt Hypotheken der Ära Stoiber.

Die Reaktionen und die Versuche, neue politische Strategien für die CSU zu etablieren, sind bislang nicht koordiniert. Die CSU vermittelt medial ein uneiniges Bild. Gerade erst erhoben sich in der CSU-Landesgruppe im Bundestag laute Stimmen der Empörung, als Horst Seehofer und sein Gesundheitsminister Markus Söder die Pläne für eine Kopfpauschale ablehnten. Söder hatte ein Gegenkonzept zu Philipp Röslers Plänen vorgestellt, und wurde nun von seinen Berliner Parteifreunden abgekanzelt. Sie unterstellten ihm, eine One-Man-Show aufzuführen. Seit seinem Eintritt in die Münchner Staatsregierung sorgt Söder mit seinen Positionen immer wieder für mediale Unruhe. Beispielsweise äußerte er sich skeptisch zum Bau von Staustufen im Main-Donau-Kanal sowie zur Zulassung gentechnisch veränderter Pflanzen. Dies lief der Verbraucherschutzpolitik der Bundesregierung zuwider, obwohl das entsprechende Ressort bekanntlich in CSU-Hand ist.

Von Seehofer zu Guttenberg

Solche Konflikte und öffentlichen Inszenierungen sind für die CSU nichts wirklich Neues, denn in den verschiedenen Machtzentren der Partei ist es mitunter schwierig, sich ausreichend zu profilieren und Einfluss auf den Kurs der Gesamtpartei aufrechtzuerhalten. Markus Söder versucht nichts anderes, als seine Position gegenüber Karl-Theodor zu Guttenberg zu verteidigen, seinem größten Rivalen um den Posten des Parteikronprinzen.

Die legendäre Geschlossenheit der CSU scheint unter dem inhaltlich allzu wendigen Horst Seehofer ohnehin der Vergangenheit anzugehören. Genau deshalb wird zu Guttenberg als Hoffnungsträger der Partei gefeiert. Zu Guttenberg, der erst gegen Ende seines dritten Lebensjahrzehnts in die CSU eintrat, gelang eine Blitzkarriere, die ihn innerhalb von eineinhalb Jahren vom Amt des CSU-Generalsekretärs in sein mittlerweile zweites Ministerressort geführt hat. Sein ungewöhnlicher Habitus – eine Mischung aus Elitismus und Bodenständigkeit – beschert dem zuvor unbekannten Juristen bundesweit enorme Beliebtheitswerte.

Offene Debatten statt „Mir san mir“

Zwar erhielt der mediale Hype um seine Person einen ersten größeren Knick, als er im neuen Amt des Verteidigungsministers in der Kunduz-Affäre ungeschickt und vorschnell agierte. Dennoch könnte zu Guttenberg nach Franz Josef Strauß und Edmund Stoiber der nächste CSU-Politiker sein, der höhere Ambitionen entwickelt. Der karriereorientierte Freiherr scheint sich ebenso schnell von seinem einstigen Mentor Horst Seehofer zu lösen wie von seiner Partei. Bei innerparteilich umstrittenen inhaltlichen Fragen hält er sich, ganz anders als Söder, geschickt heraus. Zu Guttenberg wird das Ende der bislang erfolglosen Seehofer-Zeit abwarten. Schon jetzt hat der Ministerpräsident und Parteivorsitzende auch intern die Fäden nicht mehr in der Hand. Unlängst musste er seinen Büroleiter feuern – wegen einer Spitzelaffäre, die offenbarte, dass das bereits unter Stoiber eingesetzte misstrauische Belauern auch in der zweiten Reihe stattfindet und man eher gegeneinander kämpft als miteinander.

Vor diesem Panorama erscheint für die CSU eine absolute Mehrheit künftig kaum noch möglich. Wahrscheinlicher ist, dass die Partei auch in Zukunft koalitionsfähig bleiben muss. Allerdings werden sich die Christsozialen inhaltlich markant positionieren müssen, um auch nur ihre derzeitige Position verteidigen zu können. Daher braucht die Partei unbedingt eine breit geführte Debatte, sei sie von persönlichen Profilierungsversuchen begleitet oder nicht. Die CSU muss endlich offene Diskussionen auch über Kinderbetreuung und Vätermonate, Kopfpauschale und Genkartoffeln führen. Dabei wird sie sich von alten Zöpfen verabschieden und den veränderten Lebensrealitäten in Bayern anpassen müssen. Die neue Diskussionskultur, die die Parteiführung etablieren möchte, darf allerdings nicht zum bloßen PR-Gag verkommen. Wenn die CSU die vielfältigen Belange der „neuen“ und „alten“ Mitte der Gesellschaft weiterhin unter einen Hut bringen will, muss sie die alte Strategie des „Mir san mir“ endgültig aufgeben. «

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