Was wir Briten aus der Krise lernen müssen

Die neuen Wachstumsskeptiker irren sich: Wachstum ist sehr wohl mit Nachhaltigkeit, kultivierter Gesellschaft und sozialem Zusammenhalt vereinbar. Es ist zwar das gute Recht der Wohlhabenden, sich wegen ihres Reichtums schuldig zu fühlen - aber damit ist den Benachteiligten noch nicht geholfen

Bevor im Jahr 2008 die Investmentbank Lehman Brothers zusammenbrach, hatte die Labour Party (oder zumindest die Labour-Regierung) einen faustischen Pakt mit den Kapitalinteressen der Londoner City geschlossen. Es handelte sich um ein sehr simples Geschäft: Der City wurde zugesagt, nur sehr dezent reguliert zu werden, wofür sie im Gegenzug der Regierung beträchtliche Steuereinnahmen bescheren sollte, die dann in öffentliche Dienstleistungen investiert werden konnten – vor allem in Bildung und Gesundheit. Während des größten Teils der Labour-Regierungszeit war das eine unglaublich erfolgreiche politische Strategie. Sie verhalf Tony Blair zu drei überzeugenden Wahlsiegen und erlaubte es seiner Regierung, den ruinierten öffentlichen Sektor wieder aufzubauen.  

Natürlich hatte der Triumph der City weitergehende, sehr schädliche Konsequenzen. Seit der Rezession in den frühen achtziger Jahren befand sich die produzierende Industrie in Großbritannien im Niedergang. Die Arbeitsplätze in diesem Sektor gingen verloren, während die meisten neuen Jobs auf dem Gebiet der privaten Dienstleistungen entstanden. In der gesamten politischen Klasse breitete sich der Glaube aus, dieser Trend sei unumkehrbar und wahrscheinlich ungefährlich. Die Stärke der Finanzdienstleistungen würde die Schwäche der Industrieproduktion kompensieren.

Als die Gesetze der Ökonomie überwunden waren

Schließlich war die Arbeitslosigkeit niedrig, die Erwerbsquote stieg, die Briten wurden wohlhabender (wobei es den sehr Reichen allerdings viel besser erging als allen anderen). Kurz, Unternehmen ebenso wie Konsumenten profitierten von den Vorzügen der Globalisierung. Es überrascht kaum, dass politische Entscheidungsträger in dieser Phase des Booms zu der Auffassung gelangten, diese Hochkonjunktur sei völlig anders, nämlich nachhaltiger als frühere Aufschwünge (eine Einschätzung, die die Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff in ihrem Buch This Time is Different demontieren). Doch die Vertreter der offiziellen Ideologie duldeten keinen Widerspruch. Gordon Brown und Alan Greenspan waren sich vollkommen einig: Die herkömmlichen Gesetze der Ökonomie seien überwunden; die Welt bewege sich auf ein neues Paradigma zu; mittels neu entwickelter Finanzderivate würden Risiken weit gestreut und die Märkte stets effizient funktionieren. Aus dieser Sicht war es keine Hybris, sondern schlicht eine Tatsachenfeststellung, als Politiker das „Ende von boom and bust “ ausriefen.

Aber wie Alan Greenspan jetzt selbst bemerkt hat, ist dieses Gedankengebäude in sich zusammengefallen und das dazugehörige Wirtschaftsmodell gehörig in Verruf geraten. Marktfundamentalisten sollten wenigstens ansatzweise ein schlechtes Gewissen haben. Entgegen der vorherrschenden Ideologie der vergangenen 30 Jahre wurde schnell klar, dass nur die Regierungen die Banken mit Kapital ausstatten und konjunkturelle Impulse setzen konnten, um die schwindenden privaten Investitionen und den schrumpfenden Konsum aufzufangen. Zumindest im Prinzip ist der Staat als ernsthafter wirtschaftspolitischer Akteur auf die Bühne zurückgekehrt.

Auf der politischen Linken meinen nun einige, wir könnten die marktradikale Wende, die sich in den angelsächsischen Ländern seit den siebziger Jahren vollzogen hat, einfach ignorieren. Sie sehen die politische Aufgabe vor allem darin, eine frühere und authentischere Version von Sozialdemokratie wieder zum Leben zu erwecken. Viel zu viel habe man in der Vergangenheit geopfert, nur um wählbar zu werden. Aus dieser Perspektive waren Tony Blairs „Dritter Weg“ und Gerhard Schröders „Neue Mitte“ Zugeständnisse an den marktorientierten Status quo, geboren aus Mangel an intellektuellem Selbstbewusstsein. Nun müssten Sozialdemokraten ganz einfach ihre Geschichte und ihre Werte wiederentdecken. Die effektivste Wahlkampfstrategie sei daher, den Bürgern wieder eine klare Wahl zwischen Rechts und Links zu geben. Das politische Transvestitentum müsse ein Ende haben.


Der Standpunkt hat seinen Reiz, denn es ist nichts Schlechtes dabei, ab und zu in wehmütige Nostalgie zu verfallen. Aber progressive Politik muss die Zukunft in den Blick nehmen. In unserer politischen Programmatik sollten wir uns mit der heutigen Wirklichkeit auseinandersetzen – mit der Welt, wie sie ist, und nicht, wie wir sie uns wünschen. Die Bürger dürften es gründlich missbilligen, wenn eine Partei eine politische Grundsatzerklärung aus den frühen siebziger Jahren ausgräbt und behauptet, dies sei die Lösung für unsere heutigen wirtschaftlichen Probleme.

Dinge herstellen, die Menschen kaufen wollen

Zukunftsorientierung hilft auch zu erklären, warum die Rückkehr der britischen Industriepolitik eher einen neuen Aufbruch bedeutet als die Wiederauferstehung alter Ideen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Überzeugung der britischen Regierung, dass die Ökonomie in ein neues Gleichgewicht gebracht werden muss. Die übermäßige Abhängigkeit von den Finanzdienstleistungen hat die Rezession verschärft und – aufgrund der katastrophalen Steuereinbrüche in der City – das Staatsdefizit sowie die Nettoneuverschuldung nach oben getrieben. Künftig muss sich Großbritannien auch auf anderen Gebieten behaupten, etwa in der industriellen Biotechnologie, den höheren Biowissenschaften, der klimafreundlichen Mobilität und der modernen Industrieproduktion. Großbritannien mag seinen Status als Werkbank der Welt bereits im späten 19. Jahrhundert verloren haben. In Zukunft aber wird der Wohlstand der Briten wieder verstärkt davon abhängen, ob sie Dinge herstellen, die andere Menschen kaufen wollen.

Es kommt nicht darauf an, dass der Staat schrumpfende Industriezweige stützt oder auf ausgewählte Zukunftsbranchen setzt. Vielmehr konzentriert sich die „neue“ Industriepolitik darauf, Rahmenbedingungen zu setzen, die Möglichkeiten eröffnen. Beispielsweise hat Gordon Brown Anfang des Jahres in seiner Rede „Going for Growth“ betont, wie wichtig es sei, Unternehmergeist, Wissen, Humankapital, Marktwettbewerb in den Mittelpunkt zu stellen und die existierenden Stärken zu stärken. Die Aufgabe des Staates sei es, Marktversagen zu korrigieren (etwa indem er Kapital für schnell wachsende kleine und mittlere Unternehmen bereitstellt). Auch müsse ein stabiler regulatorischer Rahmen entwickelt werden, damit Firmen langfristige Investitionsentscheidungen treffen könnten (auf den Gebieten Energiepolitik, Verkehrsinfrastruktur und Telekommunikation). Ferner sollte die wissenschaftliche Basis an den Universitäten gestärkt und ein effektives System für die Verwandlung von Ideen in reale Produkte und Dienstleistungen eingerichtet werden. Und es müsse dafür gesorgt werden, dass Unternehmen auf passgenau qualifizierte Arbeitnehmer zurückgreifen können. Schließlich sollten mit öffentlichen Geldern große Infrastrukturprojekte (etwa Hochgeschwindigkeitszüge) vorangetrieben werden. Es mag den deutschen Leser erstaunen, aber die britische Regierung interessiert sich neuerdings für die Rolle der Fraunhofer Institute. Die Wirtschaft in ein neues Gleichgewicht zu bringen, setzt offensichtlich systematische Anstrengungen voraus, effektive Institutionen für Technologietransfer und Informationsaustausch zu schaffen. Gelegentlich sind staatliche Eingriffe notwendig, um eine wirksame Koordinierung von Marktaktivitäten sicherzustellen.

Vielleicht haben wir es hier mit einem weiteren Beispiel für angelsächsischen exceptionalism zu tun, denn all diese Maßnahmen sind in den koordinierten Marktwirtschaften Nordeuropas (einschließlich Deutschlands) seit vielen Jahren selbstverständliche Normalität. Man könnte sagen, die Briten haben erst mit Verspätung bemerkt, dass ökonomische Enttäuschung geradezu programmiert ist, wenn ein Land alle seine Anstrengungen darauf ausrichtet, Märkte effizient zu machen. Sicher sind nach Wettbewerbskriterien organisierte Märkte wichtig, aber sie sind nicht alles. Aus progressiver Sicht wäre viel gewonnen, wenn wir am Ende der Krise einerseits größere Klarheit über die positive Rolle des Staates gewonnen hätten und andererseits die Stärken, Grenzen und Verrücktheiten des Marktes mit mehr gesundem Menschenverstand beurteilen würden.

Der Trugschluss der Wachstumsgegner

Die hier vertretene Kernthese lautet, dass das Hauptanliegen der Politik Wirtschaftswachstum sein sollte. Dieser Standpunkt, der seit 1945 ein Allgemeinplatz war, wird nun allerdings von Konservativen sowie von linken Umweltschützern infrage gestellt. Die konservativen Kritiker sorgen sich teilweise um Nachhaltigkeit, viele finden aber auch, dass Konsum (welcher das Wachstum antreibt) oberflächlich, trügerisch und spirituell unbefriedigend sei. Einfach ausgedrückt argumentieren sie, der Sinn des Lebens sei im Gemeinschaftsleben zu finden, in starken persönlichen Beziehungen, in Kunst, Kultur und sinnstiftender Handwerklichkeit.

Das sind keine neuen Ideen. Im 19. Jahrhundert wurden sie mit dem linken und dem rechten politischen Spektrum gleichermaßen assoziiert – der utopische Sozialist William Morris aus Großbritannien ist ein prominentes Beispiel. Später, als Harold Macmillan in der Ära des Nachkriegswohlstands sein „You’ve never had it so good“ verkündete, wurde die Auffassung vertreten, Großbritannien sei eine stagnierende Gesellschaft geworden, der es an Dynamik, Antrieb und Charakterstärke fehle. Das Argument lautete, die Briten hätten sich in den fünfziger Jahren zu schnell den privaten, materiellen Genüssen hingegeben und darüber vernachlässigt, Solidarität zu üben und sich umeinander zu kümmern. Erst vor kurzem haben die „Roten Tories“ um Philip Blond und seinen Think Tank Res Publica die Vorzüge kleinteiligen Wirtschaftens sowie der Prinzipien von Gegenseitigkeit und Kooperation als Alternativen zum Marktfundamentalismus herausgestellt.

Alle diese Argumente haben ihren romantischen Reiz, aber sie scheinen mir auf dem Trugschluss zu beruhen, dass Wachstum mit Nachhaltigkeit, mit einer kultivierten Gesellschaft und starkem Zusammenhalt unvereinbar sei. Ohne Wachstum werden es Länder wie Großbritannien, die Vereinigten Staaten und besonders Griechenland sehr schwer haben, aus der Finanzkrise herauszukommen. Es ist natürlich das gute Recht der Wohlhabenden, sich wegen ihres Reichtums schuldig und unwohl zu fühlen – aber das verbessert ja noch nicht die Lage der Benachteiligten.

Es geht um die Chance, das eigene Leben zu leben


Davon abgesehen werden grüne Jobs auf jeden Fall Bestandteil jedes künftigen Wachstums sein. In den vergangenen Wochen haben ausländische Firmen in Großbritannien zwei bedeutende Investitionsentscheidungen verkündet: Nissan will im Nordosten Englands die Herstellung von E-Autos für den Massenmarkt aufnehmen; Siemens wiederum plant, Großbritannien zu einem Produktionszentrum für Windenergie zu machen. Bei beiden Vorhaben geht es um Nachhaltigkeit, beide werden Arbeitsplätze schaffen und Wachstum generieren.

Die britische Industriepolitik entwickelt sich in Richtung eines neuen sozialdemokratischen Produktionsmodells. Zu diesem gehört die kraftvolle Kritik am Marktfundamentalismus sowie die klare Benennung der Rolle des Staates. Damit verbunden bleiben konventionelle verteilungspolitische Anliegen wie die Begrenzung von Einkommensungleichheit. Wachstum wird auch weiterhin ein zentraler Bestandteil des progressiven Projektes sein, und wir sollten dieses Terrain tatsächlich nicht unseren politischen Konkurrenten von Rechts und Links überlassen.

Sozialdemokraten müssen erklären können, warum die Welt so ist, wie sie ist, was an den gegenwärtigen Verhältnissen falsch ist, was jetzt getan werden muss und warum die Wähler den Parteien der linken Mitte zutrauen sollten, effektive Lösungen zu finden. Wir müssen in der Lage sein, überzeugend darzulegen, welche Form die zukünftige Wirtschaft haben wird, wo neue Arbeitsplätze entstehen können, wie Europa mit der wachsenden Herausforderung der globalen Märkte zurechtkommen kann und wie wir Arbeitnehmer im Strukturwandel unterstützen. Leser mit gutem Langzeitgedächtnis werden das alles nicht besonders überraschend finden. Denn die fundamentalen Herausforderungen sind stets dieselben: Wie stellen wir sicher, dass Märkte nicht unsere Herrscher sind, sondern unsere Diener? Wie bringen wir Unternehmen dazu, sich verantwortungsvoll zu verhalten? Und wie stellen wir sicher, dass Bürger echte Chancen, haben, genau das Leben zu leben, das sie leben wollen? «

Aus dem Englischen von Michael Miebach

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