Welche Bedrohung, welche Interessen?

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts haben die Streitkräfte der Bundeswehr ihre alten Aufgaben verloren. Eine neue sicherheitspolitische Gesamtstrategie steht noch immer aus. Ihre Formulierung setzt die klare Definiton eigener Interessen voraus

Die Bundeswehr wird nicht reformiert, sie wird neu aufgestellt. Die von Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan veröffentlichten konzeptionellen Vorstellungen zum Umbau der Streitkräfte lassen es an Deutlichkeit und Tragweite nicht mangeln. Kernstück der lange diskutierten Umorganisation der Armee ist die Dreiteilung in "Eingreifkräfte" für den Interventionskrieg im Rahmen internationaler Operationen, "Stabilisierungskräfte" für Friedensmissionen und "Unterstützungskräfte", die für logistische Fragen zuständig sind.

Mit diesem Umbau der Streitkräfte zieht der Verteidigungsminister die Konsequenz aus den Veränderungen im Sicherheitsumfeld der Bundesrepublik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Das Sicherheitsumfeld des Kalten Krieges machte es erforderlich, dass die Bundeswehr sich auf einen konventionellen Angriff des Warschauer Pakts auf deutsches Territorium vorbereitete. Hierbei lag der zentrale Beitrag der Bundeswehr in ihrer Fähigkeit zur konventionellen Abschreckung, und, wenn nötig, zur offensiven Territorialverteidigung gegen einen solchen Angriff. Zentrales Mittel war hierbei die Wehrpflicht, die es der Bundeswehr ermöglichte, ein großes Kontingent an Reservisten auszubilden, das im Bedarfsfall zur Landes- und Bündnisverteidigung im Rahmen der Nato herangezogen werden konnte. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts änderten sich die Erfordernisse der Landes- und Bündnisverteidigung, und die Wehrpflicht verlor ihre vormals zentrale Bedeutung der Ausbildung von Reservisten zur Territorialverteidigung.

Hierauf hat der Verteidigungsminister reagiert, indem er den Schritt von einer "Ausbildungsarmee" hin zu einer "Armee im Einsatz" organisatorisch vollzogen hat. Mit den jetzt vorgestellten Umbauplänen hat er nicht etwa die Landesverteidigung aus dem Aufgabenkatalog der Bundeswehr gestrichen; vielmehr hat er akzeptiert, dass die Befähigung der Bundeswehr zur Landesverteidigung heute anders gewährleistet wird als zu Zeiten des Ost-West-Konflikts.Geblieben ist die zentrale Rolle der Atlantischen Allianz in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Hinzugekommen ist die Rolle der Europäischen Union als Bündnis zur Verteidigung des europäischen Kontinents und zur Gewährleistung regionaler Sicherheit. Landesverteidigung bleibt Bündnisverteidigung, und der Bündnisfall bleibt der Verteidigungsfall. Somit wird der Auftrag der Bundeswehr zur Landesverteidigung nach wie vor primär durch Deutschlands sicherheitspolitisches Engagement in internationalen Institutionen erfüllt, denn sie gewährleisten Deutschlands Sicherheit.

Armee im Einsatz zu sein ist noch ungewohnt

Verändert haben sich allerdings die Anforderungen zur Erfüllung der Bündnisverpflichtungen der Bundeswehr in einem veränderten Sicherheitsumfeld. Der Schritt weg von der Ausbildungsarmee hin zur Armee im Einsatz ist notwendig, da die Bundeswehr in ihrer bisherigen Struktur den Bündnisverpflichtungen nur noch unzureichend nachkommen kann. Ein Beispiel: Symptomatisch für die Veränderungen im deutschen Sicherheitsumfeld ist die noch 1990 der Nato gegebene Zusage, im Bündnisfall für die Dauer eines Jahres eine schwere Division mit zwei Panzerbrigaden für einen Kampfeinsatz außerhalb Deutschlands zur Verfügung zu stellen.

Sollte heute jedoch der Bündnisfall eintreten, wird die Nato ihre Erwartungen gegenüber Deutschland auf völlig anders zusammengestellte Bundeswehrverbände richten. Konkret wird die Nato von Deutschland die Bereitstellung schnell verlegbarer Verbände erwarten. Diese müssen auf hohem technologischen Niveau ausgerüstet sein und in multinationalen Operationen mitwirken können. Tritt der Bündnisfall ein, muss die Bundeswehr uneingeschränkt zu gemeinsamen militärischen Operationen mit Partnerländern und zur verbundenen Luft- und Seekriegführung befähigt sein. Ist sie das nicht, kommt Deutschland seinen Bündnisverpflichtungen nicht nach und gefährdet damit indirekt auch die Sicherheit der Bundesrepublik, weil diese immer noch von der sicherheitspolitischen Durchsetzungsfähigkeit der Nato abhängt.

Die Bündnisverpflichtung der Bundesrepublik kann somit nur noch durch das Zusammenwirken aller drei Teilstreitkräfte im Rahmen von Bündnisoperationen erfüllt werden. Sie definiert sich über die Fähigkeit, substantielle Beiträge zu luft- und seegestützten Militäroperationen der Nato leisten zu können.

Es fehlen die politischen Kriterien

Als Folge wird die Bundeswehr global handlungsfähig. Das Ziel dabei definiert sich über Deutschlands sicherheitspolitische Interessen. Es geht nicht darum, ein Akteur der Weltpolitik zu werden, sondern darum, die Bundeswehr so zu organisieren, dass sie ihren Aufgaben in der Nato, in den Vereinten Nationen und in der EU nachkommen kann. Ist sie dazu fähig, kommt sie automatisch auch ihrem Auftrag zur Landesverteidigung nach und sichert Deutschlands Einfluss auf den sicherheitspolitischen Kurs von Nato und EU. Deutschlands Sicherheit hängt auch nach der Wiedervereinigung von der Fähigkeit der deutschen Politik ab, den sicherheitspolitischen Diskurs in Nato und EU mitzubestimmen.

Dem großen sicherheitspolitischen Engagement Deutschlands steht aber bisher eine weniger detailliert ausgearbeitete Aufbereitung der Bedrohungsszenarien gegenüber. Es fehlen ausreichende politische Kriterien für das Ausmaß der Beteiligung der Bundeswehr an der internationalen Friedenssicherung. Deshalb nimmt die Gefahr der Selbstüberforderung zu. Sicherheitspolitische Interessen müssen definiert werden, und zwar auf der nationalen, europäischen und der transatlantischen Ebene. Grundlegendes Interesse der deutschen Sicherheitspolitik ist die Stabilität der internationalen Ordnung. Um der bereits erwähnten Gefahr der deutschen Selbstüberforderung entgegenzuwirken, empfiehlt sich eine Konzentration auf bestimmte Aspekte internationaler Ordnungspolitik. Anderenfalls droht ein Zerfasern von Prozessen und Anstrengungen.

Prävention und Verrechtlichung

Deutschland braucht eine Gesamtstrategie. Allerdings ist ein derartig weit reichendes Ziel nur schrittweise definierbar. Auf dem Weg zu dieser Gesamtstrategie sollten die tragenden Prinzipien der deutschen Sicherheitspolitik der Grundgedanke der Prävention und das Ziel der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen sein. Für sich genommen stellen Prävention und Verrechtlichung nicht mehr als Richtlinien der Sicherheitspolitik dar. Es bedarf nun konkreter Ziele. Bei der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen wäre die Weiterentwicklung der bestehenden internationalen Rechtsordnung zur Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen ein entsprechendes Ziel. Im Bereich der Prävention kann dies etwa durch intensives deutsches Engagement bei der zivil-militärischen Kooperation geleistet werden. Die Weiterentwicklung des bestehenden Rüstungskontrollregimes und die Stärkung von Fähigkeiten zu effektiver zivil-militärischer Zusammenarbeit könnten also Ziele auf dem Weg zu einer Gesamtstrategie sein.

Das bestehende Rüstungskontrollregime basiert auf der Ordnung des Kalten Krieges. Es resultiert ursprünglich aus einer Reihe bilateraler Abkommen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten als erstem Eckpfeiler. Kernziel war die Verhinderung eines nuklearen Krieges aufgrund von Fehlkalkulationen. Das rechtlich basierte ABC-Nichtverbreitungsregime ist der zweite Eckpfeiler. Seine Schwäche besteht allerdings in den mangelhaften Durchsetzungsmechanismen. Die existierenden Grenzen des Nichtverbreitungsregimes haben die Bundesregierung bereits dazu veranlasst, der Proliferation Security Initiative (PSI) beizutreten. Es bedarf indes weiterer Schritte, um die Verrechtlichung der Internationalen Beziehungen zu stärken. Der Schwerpunkt muss hierbei auf der Durchsetzung des Rechts liegen. Das Ziel muss eine völkerrechtlich legitmierte Gegenproliferation mittels militärischer Kräfte zur rechtzeitigen Verhinderung eines Einsatzes atomarer, biologischer und chemischer Massenvernichtungsmittel sein. Hier gilt es zu fragen, ob nicht die Nato in der Entwicklung eines durchsetzungsfähigeren Nichtverbreitungsregimes eine wichtige Rolle spielen könnte. Dies wäre auch ein Beitrag zur Debatte um die künftige Rolle der Nato in der internationalen Ordnungspolitik.

Beiträge zum Aufbau von Zivilgesellschaften

Der zweite Aufgabenkomplex auf dem Weg zu einer Gesamtstrategie könnte beispielsweise die zivil-militärische Zusammenarbeit (CIMIC) sein. Diese und die Provincial Reconstruction Teams (PRT) dienen der Prävention, indem sie nach Konflikten wichtige Beiträge zum Aufbau von Zivilgesellschaft leisten. Das Ziel von CIMIC und PRT ist die Unterstützung militärischer Operationen, indem im Einsatzland bestmögliche Beziehungen und Bedingungen geschaffen werden. Beispiel CIMIC: Mit dem Einsatz militärischer Kräfte und Mittel auf dem Balkan haben Unterstützungsleistungen für das zivile Umfeld, die Nutzbarmachung lokaler Ressourcen sowie Maßnahmen unmittelbarer Hilfeleistungen erheblich das Spektrum erweitert. Dennoch verfügt die Bundeswehr derzeit nicht über hauptamtliche CIMIC- oder PRT-Kräfte; die benötigten Soldaten werden derzeit noch aus ihrer bisherigen Verwendung herausgelöst und durchlaufen eine vorbereitende Einsatzausbildung. Die Bundeswehr braucht auf diesem Gebiet aber eine stark ausgebaute Kernfähigkeit, die für die Fälle vorgehalten werden muss, in denen die Stabilisierungskräfte der Bundeswehr zum Einsatz kommen.

Bundeswehr und innere Sicherheit

CIMIC/PRT-Kräfte haben den Vorteil, dass sie neben normalen Ordnungs- und Schutzaufgaben auch polizeiliche Aufgaben übernehmen können. Banden- und Clanwirtschaft, persönliche Racheakte, Flüchtlingsströme, Massenmigration sowie Waffen- und Menschenschmuggel wirken sich negativ auf die innere Sicherheit eines Einsatzlandes aus. Die Grenzen zwischen Befreiungsbewegungen und grenzüberschreitender organisierter Kriminalität sind fließend. Immer häufiger sind Streitkräfte genötigt, "innere Sicherheit" im Einsatzgebiet herzustellen. Das Kosovo ist hierfür das jüngste Beispiel, hier übernahmen Nato-Einheiten nicht nur ihre eigentlichen Aufträge, sondern organisieren und garantieren auch die innere Ordnung. Es muss überlegt werden, ob nicht ständige polizeilich-militärische Verbände nach dem Vorbild der italienischen Carabinieri für zivil-militärische Aufgaben besonders geeignet wären.

Die Frage nach dem Ziel der deutschen Sicherheitspolitik lässt sich zum einen beantworten durch die Konzentration auf konkrete Elemente einer Prävention im Rahmen von zivil-militärischer Zusammenarbeit und zum anderen durch die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen mit der Konzentration auf die Weiterentwicklung und Stärkung des ABC-Nichtverbreitungsregimes. Die Weiterentwicklung und Stärkung der internationalen Rechtsordnung und die Förderung von Zivilgesellschaft sind Ziele, denen man sich mittels konkretisierter Aufgabenstellungen annähern muss. Dies könnten deutsche Beiträge zu einer im Rahmen von Nato und EU zu entwickelnden Sicherheitspolitik sein. Das wären Beiträge, die der Stabilität internationaler Ordnung dienen würden.

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