Welche Farben hat die Ampel im Norden?
Auf der Suche nach parlamentarischen Mehrheiten müssen die deutschen Parteien altes Lagerdenken überwinden und neue Wege gehen – dieser strategische Imperativ wird angesichts der zunehmend fragmentierten Parteienlandschaft häufig formuliert. In Schleswig-Holstein wird nun ein ganz neues Kapitel im Handbuch der politischen Farbenlehre geschrieben: Die Landtagswahl am 6. Mai bescherte der SPD mit den Grünen und dem Südschleswigschen Wählerverband (SSW) eine hauchdünne Mehrheit, mit der die drei Parteien gerade so eben eine Regierung bilden können. Zwar ist der von der Fünf-Prozent-Klausel ausgenommene SSW im politischen System des nördlichsten Bundeslandes eine feste Größe, aber eine Regierungsbeteiligung hatte er bislang immer abgelehnt.
Wer eigentlich bestimmt in der Nord-SPD den Kurs?
Wie ungewöhnlich das neue Koalitionsmodell ist, lässt sich schon daran ablesen, dass sich dafür bislang keine griffige Bezeichnung durchgesetzt hat. Um den Namen für die Dreier-Koalition ist in der politischen Öffentlichkeit Schleswig-Holsteins sogar eine Kontroverse entbrannt. Während die CDU im Wahlkampf vor den vermeintlichen Gefahren einer „Dänen-Ampel“ warnte und damit implizit die Legitimität einer Regierungsbeteiligung des SSW in Zweifel zog, versuchte es die SPD mit der freundlicheren Bezeichnung „Schleswig-Holstein-Ampel“, die freilich neben rot und grün nicht gelb, sondern blau leuchtet. Und in den Zeitungen ist von der „Küsten-Ampel“ die Rede.
Die vorletzte Landtagswahl in Schleswig-Holstein fand am 27. September 2009 statt, am Tag der Bundestagswahl. Dem Urnengang war ein spektakulär inszeniertes Ende der Großen Koalition im Land vorausgegangen, das Ministerpräsident Peter Harry Carstensen für einen vorgezogenen Wahltermin nutzte. Aber sein Kalkül ging nur zum Teil auf: Dass die CDU trotz starker eigener Verluste mit der FDP eine Regierungsmehrheit stellen konnte, hatte vor allem mit der Auslegung des Wahlrechts durch die Landeswahlleiterin zu tun. Die beiden Parteien hatten die Mehrheit der Stimmen verfehlt, erhielten jedoch aufgrund mehrerer – durch den Sitzausgleich nicht gedeckter – Überhangmandate der CDU eine Mehrheit im Landtag. Zu Unrecht, stellte das Landesverfassungsgericht am 30. August 2010 fest und ordnete Neuwahlen an.
Die Aufstellung der Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 2012 verlief in beiden großen Parteien turbulent. In der SPD setzte sich der Kieler Oberbürgermeister Torsten Albig in einem Mitgliederentscheid mit klarer Mehrheit gegen den Partei- und Landesvorsitzenden Ralf Stegner durch, der bei der Landtagswahl 2009 einen Verlust von fast neun Prozentpunkten und das schlechteste SPD-Ergebnis der Nachkriegszeit zu verantworten hatte. Dass Albig seinen Kontrahenten nur wenige Stunden nach der Bekanntgabe seines Sieges zur Wiederwahl als Landeschef vorschlug, hatte zwar innerparteilich eine befriedende Wirkung. Der Winkelzug trug aber auch dazu bei, dass den gesamten Wahlkampf über die Frage virulent blieb, wer eigentlich in der Nord-SPD den Kurs bestimme – der moderat auftretende Albig oder der programmatisch zuspitzende Stegner.
Matte Kampagne ohne Zuspitzung
Die CDU hatte im Mai 2011 den Landes- und Fraktionsvorsitzenden Christian von Boetticher zum „Kronprinzen“ des scheidenden Ministerpräsidenten gewählt, bevor von Boetticher über eine Affäre mit einer Minderjährigen stürzte. Rasch wählte die Partei Jost de Jager zum Ersatzkandidaten. Allerdings war der damalige Minister für Wirtschaft, Wissenschaft und Verkehr noch vergleichsweise unbekannt.
Von einem unterstützenden Berliner Rückenwind konnte im Wahlkampf – mit Ausnahme der Piraten – eigentlich keine Partei profitieren. Die Grünen waren nach ihrem historischen Umfragenhoch im Sommer 2011 wieder in gewohnten Gefilden angekommen und präsentierten mit Robert Habeck erstmals überhaupt einen Spitzenkandidaten. Die FDP versuchte, sich vom desolaten Zustand der Bundespartei abzukoppeln, indem sie ihre Kampagne auf den Spitzenkandidaten Wolfgang Kubicki und sein Verständnis liberaler Politik zuspitzte.
Aufgrund der Meinungsumfragen konnten alle Beteiligten davon ausgehen, dass es für eine Neuauflage der schwarz-gelben Koalition nicht reichen würde. Welche Konstellation am Wahltag für einen Regierungswechsel in Frage kommen würde, war allerdings offener als noch zu Jahresbeginn 2012 erwartet – vor allem, seitdem die Umfragewerte der Piratenpartei im Sog der Saarland-Wahl deutlich anzogen. Auf konstant gute Persönlichkeitswerte gestützt, führte die SPD den betulichen Wahlkampf einer Landesvaterpartei. Als wüssten die Wähler ohnehin längst, woran sie bei Torsten Albig und seiner Partei sind, vermieden die Sozialdemokraten die Abgrenzung zu den anderen Parteien und wurden nur an wenigen Stellen konkret. Die Frage nach der Finanzierung der Wahlversprechen – kostenloses Kindergartenjahr oder Rücknahme von Kürzungsbeschlüssen in den Schulen und im kommunalen Finanzausgleich – beantwortete die SPD stets mit vagen Hinweisen auf „kluges Sparen“ und „dialogorientierte Entscheidungsprozesse“. Das blasse inhaltliche Profil der Partei wurde – wohl unbeabsichtigt – noch unterstrichen durch das Leitmotiv der Kampagne „Mein Lieblingsland“, die offenbar die hohe Identifikation der Schleswig-Holsteiner mit ihrer Heimat in Wählerstimmen ummünzen sollte.
Für die Regierungsbildung favorisierte die SPD eine Koalition mit den Grünen, die aber bereits im Wahlkampf Zweifel an der Vereinbarung sozialdemokratischer Pläne mit den Vorgaben der Schuldenbremse äußerten. Je stärker die Piraten wurden, und je fraglicher deshalb eine rot-grüne Mehrheit, desto stärker rückte der SSW als mögliches Zünglein an der Waage in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. CDU-Kandidat de Jager wiederum musste auf ein gutes Ergebnis der Piraten hoffen. Nur so konnte er eine Große Koalition unter Führung der CDU erreichen. Alle anderen Optionen setzten eine Koalition mit den Grünen voraus, doch die Grünen hatten dieser Variante nach einem Streit im Landtag über die künftige Finanzpolitik eine klare Absage erteilt. Haushaltskonsolidierung und weitere Einsparungen – das waren die zentralen Themen der CDU, mit denen de Jager auch die Glaubwürdigkeit der Finanzpolitik von Torsten Albig zu erschüttern beabsichtigte.
Die stärkste Kraft in Schleswig-Holstein wurde die Partei der Nichtwähler: Die Wahlbeteiligung lag bei nur 60,2 Prozent. CDU und SPD erreichten mit jeweils rund 18 Prozent der Wahlberechtigten nicht einmal mehr gemeinsam die Zahl derjenigen, die der Wahlurne fernblieben. Bezogen auf die Zahl der abgegebenen Stimmen behauptete die CDU bei erneuten Verlusten mit 30,8 Prozent knapp ihre Position als stärkste Partei. Die SPD blieb mit 30, 4 Prozent der Stimmen deutlich hinter ihrem zuvor gesteckten Ziel von 40 Prozent zurück. Zwar konnte sie rund fünf Prozentpunkte gegenüber dem fatalen Wahlergebnis von 2009 gutmachen, erreichte aber bei weitem nicht die Werte von 2005 (38,7 Prozent) oder gar 2000 (43,1 Prozent). Somit kommen die beiden „Volksparteien“ zusammen auf nur wenig mehr als 60 Prozent und sind kaum noch stärker als viele herkömmliche Zweierbündnisse. Auch verfügen sie zusammen über keine verfassungsändernde Mehrheit.
Schleswig-Holsteins SPD kränkelt weiter
Immerhin gelang es den Sozialdemokraten, wieder verstärkt als Partei der sozialen Gerechtigkeit wahrgenommen zu werden. Doch die von den Meinungsforschern gemessenen Kompetenzwerte der SPD schlugen sich nur begrenzt in Stimmenzuwächsen nieder – ebenso wie das Ansehen ihres Spitzenkandidaten, der von deutlich mehr Wählern als Ministerpräsident gewünscht wurde als sein Gegenspieler de Jager. Insofern ist die krachende Niederlage des Jahres 2009 noch längst nicht überwunden. Das Wahlergebnis und die Befunde der Meinungsforschung belegen allenfalls eine gewisse Erholung der SPD; gemessen an ihren früheren Erfolgen kränkelt die Partei weiter. Ein Blick nach Nordrhein-Westfalen, wo eine Woche später gewählt wurde, zeigt überdies, dass nicht allein der Bundestrend für die relative Schwäche verantwortlich sein kann.
Dennoch besaß die SPD nach der Wahl eine realistische Machtperspektive. Denn zum einen erzielten die Grünen mit 13,2 Prozent ihr bisher bestes Ergebnis, zum anderen zog der SSW mit 4,6 Prozent in den Landtag ein. Zugleich musste die Linkspartei den Landtag wieder verlassen; offenbar hat sich die Welle des Hartz-IV-Protests totgelaufen. Zudem bot sich mit der Piratenpartei, die auf 8,2 Prozent kam, ein neues Angebot für die wachsende Gruppe der Unzufriedenen. Trotz der größten Stimmverluste war die eigentliche Wahlgewinnerin die FDP. Auch sie erreichte 8,2 Prozent, was umso bemerkenswerter ist, als sie keine realistische Aussicht auf Regierungsbeteiligung besaß.
Die knappe Mehrheit mag die Koalitionäre von SPD, Grünen und SSW disziplinieren, außerdem handelt es sich beim Kieler Modell im Unterschied zu anderen Dreier-Bündnissen nicht um eine „Koalition der Unwilligen“, die nur durch das Wahlergebnis erzwungen worden wäre. Vielmehr haben alle Parteien bereits im Wahlkampf ihre inhaltlichen Schnittmengen herausgestellt –von der Bildungspolitik über die Energiewende bis zur Rücknahme der Kürzungen für dänische Schulen und Kultureinrichtungen. Dennoch bleiben erhebliche inhaltliche Unterschiede, etwa in Bezug auf Infrastrukturprojekte wie die feste Fehmarnbeltquerung oder die Frage, welche finanziellen Spielräume bestehen. Angesichts der Schuldenbremse und eines Schuldenstandes von mehr als 27 Milliarden Euro wird die Koalition um strukturelle Eingriffe in den Haushalt nicht umhin kommen.
Auf die Koalitionspartner warten mithin schwere Brocken. Trotzdem könnte die Kieler Ampel in zweierlei Hinsicht über den Landesrahmen hinausweisen: Erstens könnte sie den Beweis antreten, dass Koalitionen mit drei Partnern tatsächlich über eine ganze Legislaturperiode halten können. Gelingt in Kiel, was bislang nirgendwo geschafft wurde, so dürfte dies die Fantasie für neue Dreierkoalitionen beflügeln. Und zweitens könnten von Kiel Signale für den künftigen Umgang mit den Piraten ausgehen. Im Unterschied zum Jahr 2005, als die Wahl der von SPD und Grünen gestützten und vom SSW tolerierten Ministerpräsidentin Heide Simonis scheiterte, steht der neuen Koalition kein gleich starkes bürgerliches Lager gegenüber. Vielmehr bilden die Abgeordneten der Piratenpartei einen „Puffer“ zu CDU und FDP; in schwierigen Situationen dürfte die Regierungskoalition auf die Piraten angewiesen sein. Es ist wohl kein Zufall, dass Torsten Albig schon kurz nach der Wahl ankündigte, das Gespräch mit den Piraten suchen zu wollen.