Wenn’s klappt, war’s Strategie

Strategiebegeisterte Politologen geben gute Ratschläge für Machtwechsel und Machterhalt

Das politische Tagesgeschäft erfordert Konditionsstärke im Terminmarathon, Entscheidungsfreude ohne Zaudern und sendefähige Kurzstatements am laufenden Band. Kein Wunder, dass dem Personal auf der Bühne zuweilen Zweifel kommen, ob die Addition dieser kleinteiligen Einzelakte einer Strategie zugänglich ist. Also fährt man auf Sicht. Die strategische Grundausrichtung wird auf die nächste Jahresauftaktklausur vertagt. „Entscheidende Akteure glauben nicht an die Strategiefähigkeit politischen Handelns.“ So beschreibt der Thüringer Wirtschaftsminister Matthias Machnig (SPD) die Strategieskepsis der sozialdemokratischen Führung im aktuellen Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen (Heft 1/2010).

Auch in der Wissenschaft hat die „Nullhypothese der Strategiefähigkeit“ (Manfred G. Schmidt) ihre Anhänger: Beispielsweise verglich der neoklassische Ökonom Joseph Schumpeter den Regierungschef einer Demokratie mit einem Reiter, der durch den Versuch, sich selbst im Sattel zu halten, so völlig in Anspruch genommen werde, dass er keinen Plan für seinen Ritt aufzustellen vermöge. Die Strategieschwäche der Politik fand in der Strategievergessenheit der Wissenschaft lange ihre Entsprechung. Langsam gewinnt das Thema in der Politikwissenschaft jedoch an Boden. Einen wichtigen Impuls setzten Joachim Raschke und Ralf Tils vor drei Jahren. Mit ihrem 585 Seiten dicken Buch Politische Strategie: Eine Grundlegung leisteten die beiden sozialwissenschaftliche Pionierarbeit. Soeben ist nun ihr zweites gemeinsames Buch Strategie in der Politikwissenschaft erschienen. Die Herausgeber versammeln darin Beiträge von Elmar Wiesendahl, Herfried Münkler, Helmuth Wiesenthal, Manfred G. Schmidt, Thomas Saretzki, Wolfgang Merkel, Hans Keman, Karl-Rudolf Korte, Ludger Helms, Frank Nullmeier, Ulrich Sarcinelli, William Paterson und Reimut Zohlnhöfer.

Um es gleich vorweg zu sagen, Raschke und Tils räumen selbst ein, dass sich ihr Forschungsfeld noch am Anfang befindet: „Gehaltvolle Hypothesen auf einem breiteren empirischen Fundament sind erst noch zu erarbeiten.“ Der Band ringt denn auch um die „Konturen eines neuen Forschungsfeldes“, die der Untertitel verspricht. Die Terminologie einiger Aufsätze bleibt hölzern. Der Stil ist streckenweise recht professoral. Einige Beiträge leisten sich dabei auch eine gewisse Weitschweifigkeit. Dennoch kann man das Buch mit großem Gewinn lesen. Man muss nur geduldig nach den machtdienlichen Einsichten suchen.

Ganz wichtig: Auf dem Teppich bleiben!

Wer den Willen zur Strategie besitzt, muss sich daher hüten, die eigenen Möglichkeiten zu überschätzen. Es gilt, auf dem Teppich zu bleiben und die Rationalitätsgrenzen politischer Strategie in Rechnung zu stellen. Es gibt nämlich keine Strategieentwicklung, die nicht unter den Bedingungen von Unsicherheit, Komplexität und Eigendynamik stattfände. Während die Außendarstellung auf die Anmutung von Zukunftskompetenz getrimmt wird, liegt die Entscheidungspolitik unter einem „Schleier des Nichtwissens“.

„Sichere“ Strategien taugen gar nichts

Seit Helmuth Graf von Moltke wissen wir, dass alles Planen und Sinnen spätestens im Moment des Zusammenstoßes mit dem Gegner endet. Was dann kommt, ist eine Abfolge spontaner Akte und nicht die Schrittfolge eines Plans. Weil Strategen stets in Interaktion mit anderen Strategen stehen, ist das ganze Unterfangen mit jeder Menge Prognose-Risiken behaftet. Ihre Entscheidungen machen die Dinge nicht sicherer, sondern ersetzen nur eine Unsicherheit durch die andere. Wie sagte Jean-Paul Sartre so treffend: „Beim Fußball verkompliziert sich alles durch die Anwesenheit des Gegners.“ Naturgemäß erhebt jeder Stratege – zumindest implizit – den Anspruch, Kontrolle über die Bewältigung von Zukunft auszuüben. Behauptet der Politikberater aber, seine Strategie sei „sicher“, so ist er etwa so seriös wie die Hütchenspieler im Nordbahnhof von Bukarest.

Letztlich zählt das intelligente Bemühen um den bestmöglichen Umgang mit Unsicherheit und ubiquitären Rationalitätsschranken. Im vorliegenden Band empfiehlt Karl-Rudolf Korte, sich mit Orientierungswissen für offene Problemlösungen zu wappnen. Er offenbart damit eine Nähe zu Moltke, der in Strategie ein System von Aushilfen sah. Worauf es wohl in Wahrheit ankommt, ist das rekursive Ineinandergreifen von Denken, Entscheiden, Umsetzen, Lernen und Anpassen: Die Einheit von Idee und Tat. Altmeister Franz Müntefering formulierte: „Gefühl für die Situation, Beweglichkeit in der Bewegung.“ Während dasselbe Zitat in Machnigs Zeitschriftenaufsatz zur Illustration einer strategievergessenen Grundhaltung seines einstigen Ziehvaters dient, liest Elmar Wiesendahl darin die Essenz eines realistischen Strategieverständnisses.

Gut aufgestellt sein mit Sun Tzu

Wer trotz aller Ambiguität auf seine Autorität als strategos nicht verzichten möchte, der behilft sich mit scheinbar allgemeingültigen Maximen. Diese liefert der chinesische General Sun Tzu etwa fünf Jahrhunderte vor Christi Geburt. Elmar Wiesendahl hält diese Kaiser für nackt. Der ganze Zinnober lebe schließlich von der grundfalschen Prämisse, dass es universell gültige und anwendbare Prämissen überhaupt geben könnte. In Wahrheit bleiben von den Sprüchen Sun Tzus nicht viel mehr als klangvolle Banalitäten. Kostprobe gefällig? „Wenn du bei steilen Anhöhen deinem Gegner voraus bist, dann besetze die erhöhten und sonnigen Stellen und warte, bis er heraufkommt.“ Von hier aus ist die Wasserhövelsche Gebrauchsprosa nicht mehr fern: „Wir sind gut aufgestellt und zeigen Präsenz.“ Während die Gebeine des chinesischen Komisskopfs im Staube der Taklimakan-Wüste verwittern, bemühen sich dessen moderne Apologeten um Kunden für ihre Strategieberatungsfirmen.

Alles wäre so einfach, wenn politische Strategie auf ein konkretes Ziel hin entwickelt würde. In Wahrheit hat die Politik aber stets ein ganzes Zielspektrum vor Augen, wobei sich Macht- und Gestaltungsziele überlagern. Schon die Polit-Novizen lernen früh, dass man sich um die Schnittmenge von Sach- und Machtdienlichkeit kümmern muss. Mit der weiteren Karriere reift dann die Einsicht, dass die eigene Anhängerschaft etwas Drittes im Auge hat: Die Basis misst die Strategie an identitätspolitischen Maßstäben. Sie fordert programmatische Legitimität, Unverwechselbarkeit und die Pflege des ideellen Markenkerns ein. Korte sieht dabei in den Grundsatzprogrammen der Parteien die zentrale Quelle und den „Master-Frame“ der strategischen Kommunikation.

Zwischen Heimat und Handlungswelt

Idealerweise verfolgt der Politiker einen Kurs, der gleichermaßen sach- wie machtdienlich ist und sich dabei nicht in tagespolitischer Beliebigkeit erschöpft. In einer idealen Welt würden Problemlösungen ideell verankert und mit entsprechenden Narrativen kommuniziert. Der Schlüssel zum politischen Erfolg liegt mithin in der Fähigkeit, die Heimatorganisation in einer Weise zu konditionieren, die „das immerwährende Bedürfnis nach normativer Selbstvergewisserung in eine Balance mit der Fähigkeit zur nüchternen Wahrnehmung der Handlungswelt zu bringen“ vermag, wie Wiesendahl schreibt. Bei all dem kommt es wohl in sozialpsychologischer Hinsicht darauf an, Verkrampfungen zu vermeiden und eine gewisse Leichtigkeit an den Tag zu legen. Korte rät zu einer Art spielerischen Kopplung der Arenen.

Mit der Konsistenz war es nicht weit her

Wie sehr die SPD diese vermissen lies, stellt Reimut Zohlnhöfer in seinem Buchbeitrag dar: Er kritisiert einen Reformdiskurs, der zwischen Modernisierung, Kapitalismuskritik, „ruhiger Hand“, Agenda 2010 und Heuschreckenvergleichen oszilliert habe. Es sei sträflich versäumt worden, eine komplementäre kommunikative Strategie zu verwirklichen, die die sachliche Notwendigkeit und die normative Angemessenheit der Reformpolitik über die Rampe gebracht hätte. Im Bundestagswahlkampf 2005 habe die SPD dann ihre eigene Regierungspolitik versteckt, um ein Plebiszit über die Agendapolitik zu vermeiden – und stattdessen den Wahlkampf einer Oppositionspartei geführt. Zohlnhöfer argumentiert, dass eine solche Politik der Schadensbegrenzung den Eindruck vermitteln musste, die Verantwortlichen seien von der Angemessenheit ihres Tuns „wohl selbst nicht so recht überzeugt“. Während der brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck auf dem Höhepunkt der Hartz-IV-Wutwelle 2004 eine Kampagne „Mit dem Gesicht zu den Menschen“ gewinnen konnte, beschleunigte sich auf der Bundesebene die Erosion des Wählervertrauens. Die Versuche unter Kurt Beck nach 2005, mit den Themen Mindestlohn und Verlängerung des Arbeitslosengeldbezuges für Ältere eine maßvolle Retraditionalisierung einzuleiten, sorgten kurzfristig für eine gewisse Entlastung, sie stärkten aber nicht gerade die Konsistenz des Politikmusters.

Mitregieren oder dagegen sein?

Über den SPD-Wahlkampf des Jahres 2009 schweigt sich der Sammelband von Raschke und Tils aus. Einmal mehr hilft Machnigs Artikel im Forschungsjournal Neue soziale Bewegungen aus. Seine Fehlerdiagnose: Mangelnde Glaubwürdigkeit des vorgetragenen Machtanspruchs, Halbherzigkeit im Angriff auf Schwarz-Gelb, illusionäre Vorstellungen über eine Koalitionsoption mit den Liberalen, zaudernde Dramaturgie, betriebsblinder Zweckoptimismus im Hinblick auf die Europawahl, eklektizistische Wahlkampfführung ohne Symbole und geeignete Semantik. Die Nichtstrategie des SPD-Kampagnenmanagements sei mit der klaren Personalisierungs- und Lagerstrategie der Union „nicht konkurrenzfähig“ gewesen.

Den strategischen Optionen der Opposition widmet sich der Beitrag von Ludger Helms. Im Zentrum der Strategien des Machtwechsels steht dabei die Frage nach dem richtigen Mischungsverhältnis von konstruktivem Gebaren im Sinne einer „Mitregierung“ einerseits und wortmächtiger, radikaler Fundamentalopposition andererseits. Womöglich hörten in den vergangenen Monaten auch die dicken Mauern des SPD-Fraktionsvorstandssaales im Bundestag solche Debatten.

Eine Oppositionsstrategie kann stets nur funktional im Kontext der jeweiligen institutionellen und politischen Chancenstruktur verstanden werden. In vielen Demokratien ist der „dosierte Machtwechsel“ die Regel: Der Machtwechsel vollzieht sich durch Koalitionswechsel, bei denen häufig ein Teil der Koalition in der Regierungsrolle verbleibt. Daher tue eine Oppositionspartei gut daran, „zumindest so kooperativ zu bleiben, dass sie eine genügend große Zahl der aktuell regierenden Parteien (mindestens jedoch eine) von ihrer Koalitionswilligkeit und -tauglichkeit zu überzeugen vermag“, so Helms.

Wir wollen die ganze Bäckerei

Dieser Etappen- oder Mitregierungsstrategie treten die Anhänger einer Konfrontationsstrategie entgegen. Sie setzen auf die elektoralen Kosten des Regierens, sprich auf Zermürbung und Abnutzung im Regierungsamt. Die vergleichende Forschung über Parteien- und Regierungssysteme gibt ihnen scheinbar recht: Nur ein Drittel der Regierungen in europäischen Koalitionsdemokratien kann ihre Wahlergebnisse verbessern. Wo die elektoralen Kosten des Regierens besonders hoch sind, ist es für die Opposition sinnvoll, das Pulver trocken zu halten. Die Begierde richtet sich dann nicht auf das sprichwörtliche „Stück vom Kuchen“, sondern auf die ganze Bäckerei.

Gröhlbackige Fundis haben es schwer

Bei genauerer empirischer Betrachtung gehört Deutschland allerdings nicht zu den Ländern, in denen mit Fundamentalopposition ein Blumentopf zu gewinnen wäre. Hierzulande kann etwa die Hälfte der Koalitionsregierungen ihr Wahlergebnis aus dem Amt heraus verbessern. Ein automatischer Abnutzungseffekt ist für Deutschland nicht nachweisbar. Das Elektorat steht gröhlbackiger Fundamentalopposition eher skeptisch gegenüber.

Laut Helms ist in der Wahlbevölkerung häufig die Sichtweise anzutreffen, „die Opposition möge ihre Ernsthaftigkeit und Befähigung, Regierungsverantwortung zu übernehmen, durch eine konstruktive Kritik und bereitwillige Mitwirkung am Regierungshandeln demonstrieren“. Zu dumm, dass die eigene Mitgliedschaft genau diesen Kurs verachtet. Die Wahrheit dürfte deshalb einmal mehr im richtigen Strategie-Mix liegen.

Bei Herfried Münkler lesen wir, welche persönlichen Voraussetzungen man mitbringen muss, um Teil dieses strategischen Zentrums sein zu können. Münkler schließt zwanglos an Max Webers Idee an, dass die charismatische Legitimität vor allem im Eroberungskrieg erworben wird: „Immer wieder musste (der Gotenkönig) Theoderich als gewöhnlicher Kämpfer siegreich sein, um sich als militärischer und politischer Stratege behaupten zu können.“        

Bis heute sind die Gesetze des Politikbetriebs derart archaisch, dass manche machtpolitische Rauferei nur unter dem Gesichtspunkt der Bestätigung, Bewahrung und Erneuerung des Anführer-Charismas verstanden werden kann. Und tatsächlich: Auch wenn man das chauvinistische Wortgeklingel einmal in Abzug bringt, verlangt das politische Geschäft wohl schon so etwas wie „Virtu“ im Sinne Machiavellis: Beherztheit, Mut, politische Energie und „Drang zum Tor“.

Warum „group think“ bräsig macht

Aber nicht ausschließlich: Der Stratege hat es nämlich nicht nur mit einer Außenwelt von Gegenspielern und Bündnispartnern zu tun, die ihm allerlei Entscheidungsfreude und Durchsetzungskraft abverlangen. Einen zweiten Aufgabenhorizont findet er in seiner Innenwelt. Wiesendahl bezeichnet deshalb die Fähigkeit zum Selbstmanagement als unabhängige Schlüsselvariable des politischen Erfolges. Dabei geht es um die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, zu nüchterner Umweltrezeption und zu reflexivem Lernen. Wer Gelegenheiten erkennen und nutzen will, muss sich von bequemen Selbsttäuschungen und „group think“ fern halten. Gemeint ist jener Denkmodus, bei dem das Streben nach Einmütigkeit in einer Gruppe so dominiert, dass die realistische Abschätzung von Handlungsalternativen außer Kraft gesetzt wird. Wer Wahlkampfteams von Innen kennt, fürchtet die Symptome: intellektuelle Konformität, illusionärer Zweckoptimismus, Beschönigung von Fehlentscheidungen, selektive Wahrnehmung und das Fehlen des sprichwörtlichen „Plan B“. Geht die Kampagne dann in die Hose, so realisiert sich zumeist nicht Schwarmintelligenz, sondern Hermetik.

Innerer Gleichmut! Der Rest findet sich


Herfried Münkler hilft mit einem Hinweis auf den niederländischen Neostoiker Justus Lipsius, der schon im Jahr 1589 die Tugend der constantia zur mentalen Grundlage stategisch klugen politischen Agierens erklärt hatte: Innere Ausgeglichenheit, Beständigkeit und Gleichmut wurden unter dem Einfluss neustoischer Ethik zu unersetzbaren Voraussetzungen für erfolgversprechendes Planen und Handeln. Wer seine Affekte unter Kontrolle hat, ist dem Gegner gewachsen.

Joachim Raschke, Ralf Tils (Hrsg.), Strategie in der Politikwissenschaft: Konturen eines neuen Forschungsfelds, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, 389 Seiten, 34,05 Euro

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