Wenn der Extremismus zum Polarstern wir
Im Augenblick scheint der Extremismus mit jedem Tag an Bedeutung zu gewinnen, sei es der rechte Nationalismus in Europa, die neuentdeckte Xenophobie in den Vereinigten Staaten oder der religiöse Fundamentalismus in Teilen der islamischen Welt. Dem Erstarken fundamentalistischer Glaubensansichten – und selbst gewalttätiger Organisationen wie Al-Kaida oder dem „Islamischen Staat“ – in Konfliktregionen wie Afghanistan oder dem Irak liegen komplexe aber wohlbekannte geopolitische Verschiebungen zugrunde. Und es ist kaum verwunderlich, dass Menschen, die unter Bedingungen äußerster Bedrängnis leben, extreme Ansichten entwickeln und zu extremen Mitteln der Gegenwehr greifen.
Aber wie lässt sich erklären, dass sich in den wohlhabenderen Teilen der westlichen Welt so viele Menschen radikalen Ideologien zuwenden, und besonders jüngere Menschen, die mit vielen Talenten, Wahlfreiheiten und Annehmlichkeiten gesegnet sind? Wie können wir in einem globalisierten und zunehmend digital vernetzten Europa, das ohne die althergebrachten Kontrollmechanismen kleinerer Gemeinschaften auskommen muss, diese Entwicklung in Richtung des bedrohlich verführerischen und blendenden Territoriums aufhalten, in dem es nur eine Wahrheit gibt?
Als ich 1988 in die tansanische Hauptstadt Dar es Salaam zog, hatte mein Entsetzen über diesen Kontinent (von Joseph Conrad auch als Herz der Finsternis bezeichnet) nur wenig mit Ostafrika selbst, dessen Einwohnern oder der Natur zu tun. Im Gegenteil, meine Bestürzung betraf vielmehr das, was in den Köpfen der weißen Menschen geschah, die hierherkamen. Viele, viel zu viele der europäischen Berater und so genannten Experten – damals waren es größtenteils Männer – ließen sich leicht in eine der folgenden zwei Kategorien einteilen: auf der einen Seite jene, die sich angesichts des anderen Lebensstils und der fremden Kultur so schnell unwohl fühlten, dass sie das Land bereits nach wenigen Monaten wieder verließen; und auf der anderen Seite jene, „who went local“, wie wir es damals nannten. Dabei handelte es sich um einen abfälligen Ausdruck für Männer, die zumeist verheiratet waren und in ihren Heimatländern der Mittelschicht angehörten, und die sich plötzlich wie kleine Herrscher aufführten: Sie -verfielen in einen mehr oder weniger halbtrunkenen Zustand und nahmen sich entweder Prostituierte oder sehr junge afrikanische Frauen, um kleine Harems zu bilden. Gleichzeitig behandelten sie afrikanische Männer als Menschen zweiter -Klasse – und gelegentlich auch weiße Männer und Frauen, die nicht ihrem eigenen sozialen Status entsprachen. Kurzum: Diese Männer verhielten sich, als gehöre die Welt ihnen – ein Verhalten, dass sie sich nie getraut hätten, auch nur fünf -Minuten lang in ihren Heimatstädten und -ländern an den Tag zu legen.
Wenn jedes Verhalten möglich ist
Es war, als ob diese Männer, sobald sie ihren gewohnten Zusammenhang verlassen hatten und ihnen die gewaltige Macht relativen Wohlstands zuteil wurde, den Kompass verloren hätten, mit dem sich Richtiges von Falschem unterscheiden lässt.
Dieser totale Verlust der moralischen Richtschnur, den das Verhalten der Männer offenbarte, ist meines Erachtens vergleichbar mit dem moralischen Orientierungsverlust, von dem scheinbar viele Menschen im heutigen Europa betroffen sind – Alteingesessene ebenso wie Neuankömmlinge. In unseren zunehmend global vernetzten und digitalisierten Gesellschaften gibt es schlichtweg keinen klaren und wohldefinierten Verhaltenskodex mehr, nach dem wir uns richten könnten. An dessen Stelle ist eine Vielzahl an Kodizes getreten; die Zahl der möglichen Lebensstile und Handlungsweisen in unseren heutigen Metropolen und der digitalen Welt ist schier unendlich. Und sollte ein bestimmtes Verhalten von einer Gemeinschaft missbilligt werden, ist es den meisten Menschen möglich, in eine andere, oftmals größere oder digitalisierte Sphäre zu flüchten, die den nötigen Freiraum für das eigene Verhalten bietet – oder zumindest die Anonymität, unter deren Schutzmantel jedes Verhalten möglich ist.
Wie überlebt man am besten?
Die Freiheit von einengenden und sinnlosen Konventionen, die dieser Zerfall der gesellschaftlichen Ordnung mit sich bringt, ist allerdings nicht ohne Nebenwirkungen. Denn es sind uns jene ethischen Steuerungsmechanismen abhandengekommen, die für kleinere Gemeinschaften typisch sind: Die Verbindung zwischen Handlung und sozialer Konsequenz ist verloren gegangen.
Als biologische Wesen besitzen wir einen tief verankerten Sinn dafür, wie wir uns verhalten müssen, um zu überleben und möglichst gut zu existieren – sowohl als Individuum als auch innerhalb der Gruppe, der wir angehören. Wir sind alle mit einem inneren Kompass ausgestattet, der uns die Richtung – Nord, Süd, Ost, West – weist und unseren Handlungen gegenüber anderen Menschen, Tieren und der Natur Orientierung bietet: Dieser Kompass zeigt uns, was in der Welt, in der wir leben, richtig und was falsch ist.
Dabei handelt es sich um einen angeborenen Impuls, der universell ist. Allerdings sind die spezifischen Marken in Bezug auf das, was in verschiedenen Situationen als „richtig“ angesehen wird, abhängig von unseren konkreten Lebensumständen und der jeweiligen Gruppe, zu der wir gehören. Die Antwort auf die Frage „Wie überlebt man am besten unter diesen Umständen?“ ist folglich nicht statisch, sondern abhängig von Raum und Zeit: Obwohl unser Kompass auf dem gleichen und universalen biologischen Überlebensimpuls basiert, ist die spezifische Einstellung des jeweiligen Kompasses hochgradig kulturspezifisch.
Wie alle Kompasse wird auch der menschliche Kompass von den Magnetkräften um uns herum beeinflusst – von dem Nordpol unserer Umgebung. Autoritätsfiguren tendieren dazu, eine starke Anziehungskraft auszuüben – seien es politische Führer, Eltern, ältere Geschwister, Lehrer oder eine prägende Person aus der eigenen Altersgruppe. Ebenso wichtig sind gesellschaftliche Konventionen, einheimische Traditionen, vertraute Gewohnheiten und die allgemeinen Wertvorstellungen unserer Gesellschaft.
Wenn Menschen immer schon in demselben kulturellen Kontext gelebt haben, tendieren sie dazu, die gesellschaftlichen Konventionen ihres Umfelds für selbstverständlich zu halten. Entweder sie richten sich nach diesen Konventionen und folgen also den Normen, oder sie lehnen sich gegen die gesellschaftlichen Konventionen auf und verändern deren Parameter gewissermaßen von innen heraus. Nur wenige Menschen hinterfragen den Kern dieser Konventionen und Normen; meistens gibt es einfach keine Gründe, dies zu tun.
Das führt dazu, dass der Einzelne, sofern er seine angestammte Umgebung nie verlässt, nicht herausgefordert wird, seinen eigenen moralischen Kompass zu entwickeln: Er wird sich immer auf den gesellschaftlichen Kompass verlassen, dessen magnetischer Norden auf jenen normativen Standards basiert, die über Generationen hinweg gewachsen sind oder von den bestehenden Mächten auferlegt wurden. Viele dieser Menschen werden nie erkennen, dass sie keinen eigenen inneren Kompass besitzen, sofern sie nicht eines Tages ihre gewohnte Umgebung und die damit verbundenen Kontrollmechanismen verlassen und sich möglicherweise selbst damit schockieren, wozu sie bei vollkommener Freiheit fähig sind.
In dem Ausdruck sich etwas trauen liegt folglich der Schlüssel: Dem gesellschaftlichen Kompass, der uns gewissermaßen äußerlich ist, folgen wir hauptsächlich, um sozialer Schelte, Ausgrenzung oder Bestrafung zu entgehen – und um im Leben erfolgreich zu sein oder Verbesserungen zu erreichen, die wir nicht erzielen können, ohne den sozialen Normen zu folgen, die der Maßstab für unser Verhalten sind. Der Einzelne wird sozial und wirtschaftlich viel eher belohnt, wenn er den vorgebenen Werten und Traditionen der Gemeinschaft folgt, als wenn er seinem inneren Gefühl von Recht und Unrecht nachgibt.
Die meisten machen einfach mit
In einer intakten Gesellschaft ist es nicht weiter problematisch, dass Menschen ihren inneren Kompass nach dem gesellschaftlichen Kompass ausrichten – auch wenn dies zur Folge hat, dass sie nie einen eigenen inneren Kompass entwickeln werden. In der Regel funktioniert die Gemeinschaft reibungslos; der eigene Kompass wird nur in außergewöhnlichen Situationen herausgefordert.
Aber wenn eine Gesellschaft oder Gruppe auf Abwege gerät, wenn charismatische und demagogische Führer die Macht übernehmen, wenn faschistische oder autokratische Tendenzen die Überhand gewinnen, kann niemand den eingeschlagenen Weg hinterfragen, wenn der innere Kompass nicht richtig austariert ist. Es wird niemandem dämmern, dass der eingeschlagene Weg falsch ist, da der Kompass der meisten Menschen so unterentwickelt oder verzerrt ist, dass sie sich auf der richtigen Seite wähnen, solange sie dem Kompass der Gruppe folgen – unabhängig von den Taten und Worten dieser Gruppe. Vergessen wird dabei, dass eine Person letztlich das ist, was er oder sie tut. Der Nordpol der Gruppe wird einfach übernommen, egal wo die Gruppe steht: Er wird für die Definition dessen gehalten, was richtig ist.
Wer sich dem Extremismus zuwendet
Das ist der Grund, warum sich Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus im vergangenen Jahrhundert so leicht ausbreiten konnten und es zu Genoziden und ethnischen Säuberungen kommen konnte; warum wir heute scheinbar ohne Widerstände akzeptieren, dass ein entfesselter Kapitalismus Amok läuft und die Umwelt zerstört, während eine Handvoll Menschen immer mehr Reichtümer anhäuft und der große Rest ärmer und ärmer wird. Und dies ist auch der Grund, warum sich so viele Individuen, für die es keinen klar definierten, sondern eine Vielzahl konkurrierender Nordpole gibt, dem Extremismus zuwenden, um eine Antwort auf das Gefühl der Orientierungslosigkeit zu erhalten. Ohne einen hoch entwickelten inneren Kompass werden menschliche Wesen einfach den magnetischen Kräften des stärksten Polarsterns folgen, der in der Nähe ist.
Das Paradies, das der extremistische Demagoge verspricht, besteht aus zwei Welten: Auf der einen Seite stehen jene, die per Definition zu den Guten gehören; und auf der anderen Seite jene, die Schuld sind an allen Übeln der Welt. Dieses dualistische Paradies mag alleine nicht genügen. Aber wenn die Kompassnadel den Weg in Richtung eines vermeintlich besseren Zustands weist, in dem die Existenz und Sorgen rechtmäßig anerkannt werden, die Erniedrigungen und Nöte verschwunden sind und ein besseres Leben in Aussicht ist, dann wird dieses Versprechen für viele zum unwiderstehlichen Magneten – auch wenn sie das, was sie plötzlich sagen oder tun, bis dahin für unmöglich hielten: Hasstiraden und Gewalt, Schikane und Pöbelherrschaft, Folter und Terrorismus.
Trotz all der Wahlmöglichkeiten, die uns die gegenwärtige globalisierte westliche Welt bietet, ist der blendende Schein des Polarsterns der Extremisten zu verführerisch, um ihm zu widerstehen: für die Neuankömmlinge, die in der neuen Umgebung noch nicht richtig verankert sind und deren Alltag von Erniedrigungen, Niederlagen und Ablehnung geprägt ist; aber auch für die „alteingesessenen Europäer“, deren Werte und Traditionen durch eine überwältigende Fremdheit scheinbar herausgefordert werden. Unter diesen Bedingungen wird der Nordpol der Extremen fast automatisch zum neuen, unbestrittenen Polarstern.
Wenn wir die Anziehungskraft des politischen Extremismus und des militanten Fundamentalismus durchbrechen wollen, ist es von wesentlicher Bedeutung, ökonomische, soziale und geopolitische Ungleichheiten in der Welt zu adressieren, die so viel von dem unnötigen Leid, der Erniedrigung und der Hoffnungslosigkeit verursachen. Es wird dauern, bevor wir uns eine Welt ohne Ungerechtigkeit vorstellen können. Umso wichtiger ist es, dass jede und jeder von uns von früh an ermutigt wird, einen eigenen inneren Kompass zu entwickeln. Im Norden der wichtigste Polarstern: die Menschlichkeit. «
(© Janne Teller)
Aus dem Englischen von Nane Retzlaff