Wer eigentlich will Europa wirklich?

Europas Administration hat das langfristige europäische Ziel aus den Augen verloren. Immer wird in Brüssel auf das gemeinsame Erbe und die gemeinsame Zukunft verwiesen, doch an originär europäischen Vorschlägen für den Weg nach vorn fehlt es. So beherrschen nationale Ansätze die Szenerie - und die Mehrheit der EU-Staaten will kein wirklich föderales Europa

I m Juni dieses Jahres legte die so genannte Vierer-Gruppe einen Masterplan zur Zukunft Europas vor – EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy, Kommissionspräsident José Manuel Barroso, Eurogruppen-Chef Jean-Claude Juncker und EZB-Präsident Mario Draghi. Dieser Masterplan war eine Tischvorlage für den Sommergipfel des Europäischen Rates. Das Papier enthält Eckpunkte für eine besser funktionierende Wirtschafts- und Finanzpolitik, die zur Stabilisierung des Euro notwendig seien. Europa benötige mehr Integration, um nachhaltiges Wachstum, Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Nur so könne die Eurokrise gemeistert werden. Wie und womit diese Ziele aber erreicht werden sollen, beschreiben die Autoren nur sehr vage. Immerhin mahnen sie als eine Bedingung die stärkere demokratische Legitimation im politischen Entscheidungsprozess an.

Es ist bezeichnend, dass das Europäische Parlament an der Ausarbeitung nicht beteiligt wurde. Laut Lissabonner Vertrag sollte es eigentlich auf allen Feldern der Gesetzgebung mit den im Europäischen Rat vertretenen Regierungen gleichberechtigt an den Entscheidungen nicht nur mitwirken, sondern im Rahmen eines ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens mit beschließen und politisch kontrollieren. Die jüngsten EU-Ratssitzungen und -beschlüsse zeigen aber mehr als deutlich, dass die einzige demokratisch legitimierte europäische Institution, das Europaparlament, von der Exekutive, also den 27 Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten, immer stärker vernachlässigt wird.

Die EU-Exekutive argumentiert, die Maßnahmen seien angesichts der dramatischen Krisensituation in vielen EU-Mitgliedsstaaten „alternativlos“ und müssten schnell getroffen werden. Ein langwieriges parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren sei hinderlich! Der Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz beklagt deshalb zu Recht, das „Brüssel-Europa“ sei mehr und mehr von einem „exekutiven Autoritarismus“ geprägt. Entscheidungen würden in parlamentsfreien Zonen getroffen. Der Notfall werde zur Regel erklärt.

Zudem ist es seit Ausbruch der Krise um die Europäische Kommission merklich still geworden. Doch nach den Verträgen hat die EU-Kommission das alleinige Initiativrecht für Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Union. Walter Hallstein träumte von einem Kommissionspräsidenten als zentraler politischer Figur in Europa. Dem heutigen Kommissionspräsidenten erteilen hingegen die Staats- und Regierungschefs Aufträge, die von der Kommission zu erfüllen sind. Der letzte EU-Kommissionspräsident, der nicht gewillt war, nur ausführendes Organ zu sein, war Jacques Delors von 1985 bis 1995. Unvergessen sind seine Auseinandersetzungen mit Margret Thatcher. Er handelte als Politiker – Barroso agiert als Sekretär. Die Kommission könnte und sollte viel häufiger die Initiative ergreifen und Vorschläge zur Lösung der Krise einbringen. Das entspräche dem Geist des Lissabon-Vertrages. Im festgelegten Verfahren würde auch das Europaparlament viel stärker respektiert. Es wäre zudem europäischer, da die Kommission aufgefordert ist, nicht im nationalen, sondern im europäischen Interesse zu handeln.

Europas Hauptstädte heissen Berlin und Paris

Es ist nicht verwunderlich, dass das Wort „föderal“ an keiner Stelle des Masterplans vorkommt. Auch den Begriff „politische Union“ verwenden die Autoren nur selten. Das Machtzentrum Europas ist nicht „Brüssel“, sondern es sind die Hauptstädte, vor allem Berlin und Paris. Seit Ausbruch der Krise stehen nationale Interessen mehr als deutlich über dem europäischen Gemeinwohl. Somit ist „Brüssel“ nicht Europa. Es befindet sich in der Zwangsjacke der Machtverhältnisse im Institutionengefüge der Europäischen Union.

Natürlich wird in Brüssel über die Eurokrise und eine politische Union diskutiert. Doch die veröffentlichten Papiere und Initiativen liegen in ihrer Substanz oftmals weit hinter der ersten Proklamation zur europäischen Integration zurück, formuliert von Victor Hugo im Jahr 1849 in seiner Rede zu den „Vereinigten Staaten von Europa“. Hugo forderte die Bewahrung der „Individualität“ der europäischen Nationen und auf der Grundlage des allgemeinen Stimmrechtes ein gemeinsames souveränes Parlament für ganz Europa. Auch Jacques Delors’ Formel der „Föderation der Nationalstaaten“ von 1994 geht in diese Richtung. Aber viele in Brüssel sehen sie zunehmend kritisch.

So formulierte der Redenschreiber des EU-Ratspräsidenten, Luuk Van Middelaar, in einer Debatte im „European Policy Center“, einem führenden Brüsseler Think Tank, man müsse die Konzepte zunächst in ihrem politischen Kontext sehen. Die Begriffe „politische Union“ und „Föderalismus“ würden in Deutschland, Frankreich und Großbritannien eben völlig unterschiedlich definiert: in Großbritannien als Codewörter für den Superstaat; in Deutschland als Synonyme für eine gerechtere politische Machtverteilung auf verschiedenen Regierungsebenen; im zentralistisch organisierten Frankreich als existenzielle Frage der nationalen Identität.

Wo Martin Walser fortschrittlicher denkt

Auch den viel beschworenen Transfer von Souveränität nach Brüssel, um in der jetzigen Krisensituation besser reagieren zu können, sehen viele nicht als einen weiteren Schritt zu einer europäischen politischen Union. Sondern der Transfer sei lediglich das, worauf Europa aufbaue – auf der zwischenstaatlichen Methode des Ausgleichs und Kompromisses, im Brüsseljargon: auf dem Intergouvernementalismus. Nationale Souveränitäten sollen und dürften nicht aufgegeben oder geteilt werden. Deshalb wundert es nicht, dass sich Ratspräsident Herman Van Rompuy jüngst für eine zweite parlamentarische europäische Kammer aussprach. Diese zweite Kammer solle aus Vertretern der nationalen Parlamente bestehen. Auf diese Weise könnten nationale Interessen stärker im Europäischen Parlament eingebracht werden!

Seit dem gescheiterten Verfassungskonvent sind institutionelle Reformen in Brüssel zu Recht ein Tabu. In der jetzigen Krisensituation wäre ein erneuter Konvent gewiss nicht hilfreich. Die Formel lautet vielmehr: Der jetzige Lissabon-Vertrag gibt genügend Handlungsspielraum. Er sollte vor einer Revision erst einmal vollständig implementiert und angewendet werden. Helmut Schmidt, Jürgen Habermas, Martin Walser und andere in Deutschland denken an dieser Stelle fortschrittlicher als viele in Brüssel.

Doch es besteht Konsens, dass es einer stärkeren demokratischen Legitimation der europäischen Institutionen bedarf. Die Formel lautet: „Politisieren, um zu legitimieren.“ Ein einfacher, weitgehend akzeptierter und in gewisser Weise auch im Lissabon-Vertrag festgeschriebener Ansatz wäre es, die Wahl zum Europäischen Parlament zu einer wirklichen Auseinandersetzung über den zukünftigen Kurs der Europäischen Union zu personalisieren. Die einzelnen europäischen Parteien sollten – wie auf nationaler Ebene – Spitzenkandidaten aufstellen, die sich um das Amt des EU-Kommissionspräsidenten bewerben. Dann wäre die Wahl zum Europäischen Parlament ein echter Wettstreit um politische Inhalte, und nicht wie in der Vergangenheit eine Sekundär- oder Testwahl für nationale Kampagnen. Auch wenn der EU-Kommissionspräsident letztlich von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten nominiert wird – sie kämen nicht umhin, den Gewinner einer derart personalisierten europaweiten Wahl zu nominieren.

Der Bürger hätte eine Wahl zwischen politischen Konzepten und Ideen. Europa wäre politisierter. Das Parlament wäre gestärkt. Die Kommission hätte demokratische Legitimität. Der Bürger träfe mit seiner Wahl eine Entscheidung, die respektiert würde. Der Kommissionspräsident wäre rechenschaftspflichtig gegenüber dem Wähler, nicht gegenüber dem Rat der Staats- und Regierungschefs. Der europäische Demos wäre einen Schritt vorangekommen.

Europas Staaten wollen Europa nicht

Darüber hinaus förderte die so genannte Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000 im besonderen Maße nationale Egoismen. Dabei ging es nicht um gemeinsame europäische Strategien zur besseren Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten, sondern um die Konkurrenz der Mitgliedsstaaten untereinander. Leider sind Nationalismen die traurige Konsequenz. Auch deshalb ist eine originäre europäische Krisenpolitik heute so schwierig.

Eine wirksame europäische Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik verlangt ein gewisses Maß an Föderalismus. Der Euro ist nicht das Symbol der europäischen Integration geworden, sondern er ist leider nur ein Werkzeug geblieben, er ist eine im ersten Jahrzehnt seines Bestehen komfortable Währungs- und Recheneinheit. Er war nie die Basis eines politischen Projektes, geschweige denn eines sozialen Projektes für Europa. Aus diesem Grund werde Europa niemals so loyal zum Euro sein, wie die Deutschen es zur D-Mark waren, stellt Pierre Defraigne von der Brüsseler Madariaga Stiftung ernüchternd fest.

Die Europäische Zentralbank entscheidet. Internationale Ratingagenturen und Währungsexperten, die im Euro nur ein Instrument sehen, um eigene wirtschaftliche und finanzielle Interessen zu realisieren, sind die eigentlichen treibenden Kräfte. Die europäische Politik hat ihre Funktion als Transmissionsriemen zur Erklärung und Erläuterung gegenüber dem Bürger verloren. Die Legitimität der Politiker ist in Frage gestellt. All dies ist der fruchtbare Nährboden für einen wachsenden Neo-Populismus.

Die Brüsseler Administration scheint das langfristige europäische Ziel aus den Augen verloren zu haben. Zwar wird stets auf das gemeinsame europäische Erbe und die damit verbundene gemeinsame Zukunft hingewiesen, aber eine originäre europäische Lösung der Eurokrise als Voraussetzung dafür liegt bisher nicht vor. Die Lösungsvorschläge basieren auf nationalen Ansätzen anstatt auf Strategien, die europaweit Arbeitsplätze und Wachstum generieren.

Die gegenwärtige europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik vernachlässigt die europäische Solidarität und fördert damit den Arbeitsplatzabbau und ökonomische Ungleichgewichte, die wesentliche Ursachen der Eurokrise sind. Mehr als 25 Millionen Arbeitslose in der EU und eine Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent in Spanien dürfen nicht nur alarmierende Zahlen für die Brüsseler sein. Sie müssen mehr als nur Ansporn sein, alles zu unternehmen, dass ein neuer europäischer Konsens gefunden wird, der auf einem neuen Verständnis von Solidarität, sozialer Gerechtigkeit und Wohlstand fußt.

In diesem Herbst beginnt in Brüssel die Endphase der Verhandlungen um den Finanzrahmen 2014-2020. Nationale Egoismen sollten beiseitegeschoben werden. Der neue Haushalt darf nicht mehr als 40 Prozent seiner Ausgaben für eine gemeinsame Agrarpolitik vorsehen, die im Wesentlichen auf Ansätzen aus den Anfängen der Europäischen Einigung herrührt. Der Haushalt sollte Ausdruck einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik sein, die auf den Grundwerten der sozialen Gerechtigkeit und dem Recht auf Arbeit ruht und Impulse für Bildung, Ausbildung und Forschung setzt.

Sparen allein genügt nicht. Ein politischer Schritt nach „vorn“ von einem Bund der europäischen Regierungen zu einem bundesstaatlicheren Europa beginnt mit einer Reform der Europäischen Zentralbank und der Umsetzung des Fiskalpaktes.

Eine vergemeinschaftete Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ist jedoch nicht machbar, ohne Souveränität an die Europäischen Institutionen abzugeben. Aber die Frage ist nicht, ob die bestehenden Institutionen, also Brüssel, eine solche Reform wollen. Die Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten will sie nicht, allen voran Frankreich, das die Notwendigkeit einer bundesstaatlichen europäischen Struktur in einer globalisierten Welt noch nicht erkennen will. Aber auch die nordischen und osteuropäischen Mitgliedsstaaten – besonders Großbritannien – wollen kein föderaleres Europa. Insoweit lautet die Frage nicht, ob Brüssel Europa will, sondern ob die EU-Mitgliedsstaaten Europa wollen.


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